Mustafa Najem: der Jour­na­list, der eine Revo­lu­tion begann

Foto: Shut­ter­stock

Früher war Mustafa Najem einer der bekann­tes­ten Jour­na­lis­ten der Ukraine. Dann initi­ierte er im Novem­ber 2013 mit einem Face­book-Post die Maidan-Revo­lu­tion. So begann seine poli­ti­sche Kar­riere. Nach fünf Jahren im Par­la­ment gehört Najem nun als Leiter der Staat­li­chen Agentur für Wie­der­auf­bau und Infra­struk­tur­ent­wick­lung zu den erfolg­reichs­ten staat­li­chen Mana­gern des Landes.

Ende 2023 beschloss die Euro­päi­sche Union die Auf­nahme von Bei­tritts­ver­hand­lun­gen mit der Ukraine. Noch vor zehn Jahren erschien das voll­kom­men unrea­lis­tisch. Zu einem nicht gerin­gen Teil ist diese Ent­wick­lung auf einen Face­book-Post zurück­zu­füh­ren, der – und auch das wäre wohl heute anders – auf Rus­sisch ver­fasst wurde. „Wir treffen uns um 22:30 Uhr vor dem Unab­hän­gig­keits­denk­mal. Ziehen Sie sich warm an, bringen Sie Regen­schirme, Tee, Kaffee, gute Laune und Freunde mit“, schrieb der damals sehr bekannte Jour­na­list Mustafa Najem an jenem 21. Novem­ber 2013 – dem Tag, an dem sich die ukrai­ni­sche Regie­rung gewei­gert hatte, das Asso­zi­ie­rungs­ab­kom­men mit Brüssel zu unterschreiben.

Najems Face­book-Post mar­kierte den Beginn der Maidan-Revolution

Zu Beginn blieben die Pro­teste eher schwach, trotz­dem wurde das Zelt­la­ger auf dem Platz der Unab­hän­gig­keit im Zentrum Kyjiws nach einer Woche brutal durch die Polizei geräumt. Das nahm aber die Bevöl­ke­rung nicht ohne Wei­te­res hin: Es war der Beginn der Maidan-Revo­lu­tion, in der Ukraine als „Revo­lu­tion der Würde“ bekannt. Hun­dert­tau­sende Men­schen kamen zu den Sonn­tags­de­mons­tra­tio­nen, die letzt­lich zur Flucht des Prä­si­den­ten Wiktor Janu­ko­wytsch nach Russ­land führten. „Die Pro­tes­tie­ren­den dachten damals, sie würden das Recht der Ukraine auf den euro­päi­schen Weg ver­tei­di­gen. Es stellte sich aber heraus, dass wir damals für die Unab­hän­gig­keit unseres Landes kämpf­ten“, sagt Najem, heute Leiter der Staat­li­chen Agentur für Wie­der­auf­bau und Infra­struk­tur­ent­wick­lung, im Inter­view mit der Zeit­schrift NV.

Die Krim-Anne­xion und der Beginn des Krieges im Donbas folgten quasi direkt auf die Maidan-Pro­teste. Najem sieht diese Ent­wick­lung jedoch aus­drück­lich nicht als Kon­se­quenz, sondern schlicht als einen wei­te­ren Bestand­teil des ukrai­ni­schen Unabhängigkeitskampfes.

Die neue Regie­rung nach dem Euro­mai­dan hätte in Bezug auf Krim und Donbas viel­leicht teils andere Ent­schei­dun­gen treffen können, sagt Najem: „Aber wie unsere Erfah­rung des nun zehn­jäh­ri­gen Krieges zeigt: Die Ent­schei­dun­gen der Men­schen passen nicht immer mit den Umstän­den und den Res­sour­cen zusam­men.“ Die gesamte Armee, Geheim­dienste, Spio­na­ge­ab­wehr und das Innen­mi­nis­te­rium seien von rus­si­schen Inter­es­sen beherrscht gewesen. „Ich bin wirk­lich über­rascht, dass wir in der Lage waren, die Ukraine an dieser Ver­tei­di­gungs­li­nie zu ver­tei­di­gen und die Russen nicht weiter vor­drin­gen zu lassen – nach Kyjiw oder in andere Regionen.“

Zuneh­mende Offen­heit der ukrai­ni­schen Gesellschaft

Die Geschichte von Mustafa Najem und seinem Bruder Masi, einem bekann­ten Anwalt und Men­schen­recht­ler, der im ver­gan­ge­nen Jahr an der Front sein rechtes Auge verlor, zeigt vor allem die zuneh­mende Offen­heit der ukrai­ni­schen Gesell­schaft. Einer Gesell­schaft, die kurz nach dem Zerfall der Sowjet­union noch stark durch Into­le­ranz und ras­sis­ti­sche Vor­ur­teile geprägt war. Najem wurde 1981 in Kabul geboren. Sein Vater war in Afgha­ni­stan stell­ver­tre­ten­der Bil­dungs­mi­nis­ter. Die beiden Brüder wuchsen ohne ihre bio­lo­gi­sche Mutter auf: Sie starb zehn Tage nach der Geburt des drei Jahre jün­ge­ren Masi. Zwei Jahre später ging der Vater nach Moskau. Dort lernte er eine Ukrai­ne­rin kennen – und schließ­lich wan­derte die Familie 1991 nach Kyjiw aus.

Mit­glied des Inves­ti­ga­tiv­teams der Ukra­jinska Prawda

Najem absol­vierte ein Inge­nieur­stu­dium an der Fakul­tät für Luft- und Raum­fahrt­sys­teme der Natio­na­len Tech­ni­schen Uni­ver­si­tät „Kyjiwer Poly­tech­ni­sches Insti­tut Ihor Sikorskyj“. Während und auch nach seiner Stu­di­en­zeit spielte er Schlag­zeug in einer Band und war Mit­glied einer bekann­ten Thea­ter­truppe in Kyjiw. Seine größte Lei­den­schaft galt jedoch immer dem Jour­na­lis­mus: Noch während seiner Stu­di­en­zeit absol­vierte er eine Aus­bil­dung an einer Inter­na­tio­na­len Jour­na­lis­mus­aka­de­mie in Hamburg. Der pro­fes­sio­nelle Durch­bruch gelang Najem dann 2006, als er zum Inves­ti­ga­tiv­team des füh­ren­den ukrai­ni­schen Online-Mediums Ukra­jinska Prawda stieß. Wenig später, ab Mitte 2007, wurde der heute 42-Jährige zu einem der bekann­tes­ten Fern­seh­ge­sich­ter und trat in unter­schied­li­chen For­ma­ten des popu­lä­ren Mode­ra­tors Sawik Schus­ter auf.

Gründer der unab­hän­gi­gen Online-Platt­form Hro­madske

Najems wich­tigste Errun­gen­schaft im Jour­na­lis­mus ist die Mit­be­grün­dung der unab­hän­gi­gen Online-Platt­form Hro­madske im Früh­jahr 2013, zu einem Zeit­punkt, als freie Medien unter enormem Druck des dama­li­gen Prä­si­den­ten Wiktor Janu­ko­wytsch standen. Bereits im Novem­ber, pünkt­lich zur Maidan-Revo­lu­tion, ging der Online-Sender der Platt­form an den Start und traf den Nerv der Men­schen. Heute gehört Hro­madske zu den wich­tigs­ten Medien des Landes. Najem selbst ist seine Rolle als Jour­na­list und Hro­madske-Kor­re­spon­dent während der Maidan-Revo­lu­tion sehr wichtig. Er hielt in der frühen Phase der Demons­tra­tio­nen eine Rede auf dem Kyjiwer Unab­hän­gig­keits­platz, danach kon­zen­trierte er sich auf die Berichterstattung.

Wechsel in die Politik

Kurz darauf folgte sein Wechsel in die Politik. Zusam­men mit zwei wei­te­ren bekann­ten Jour­na­lis­ten, Serhij Lescht­schenko und Swit­lana Salischt­schuk, trat er der Liste der Partei von Petro Poro­schenko bei. Alle drei standen Poro­schenko distan­ziert gegen­über, aber sie wollten zur Erneue­rung der ukrai­ni­schen Politik bei­tra­gen. Najem wurde Mit­glied im Aus­schuss für euro­päi­sche Inte­gra­tion der Wer­chowna Rada und war Co-Autor von vielen Geset­zen im Anti­kor­rup­ti­ons- sowie Straf­ver­fol­gungs­be­reich. Er beglei­tete auch die über­wie­gend erfolg­rei­che Poli­zei­re­form. 2019 schied Najem aus dem Par­la­ment aus und arbei­tete zeit­wei­lig als stell­ver­tre­ten­der Direk­tor des staat­li­chen Rüs­tungs­kon­zerns Ukroboron­prom und später als Stell­ver­tre­ten­der Infrastrukturminister.

Ver­ant­wor­tung für den trans­pa­ren­ten Umgang mit aus­län­di­schen Hilfen

In seiner aktu­el­len Funk­tion als Leiter der Staat­li­chen Agentur für Wie­der­auf­bau und Infra­struk­tur­ent­wick­lung ist Mustafa Najem für den trans­pa­ren­ten Umgang mit aus­län­di­schen Hilfen in Sachen Wie­der­auf­bau ver­ant­wort­lich – eine pas­sende Funk­tion für den ehe­ma­li­gen Inves­ti­ga­ti­v­jour­na­lis­ten mit dem Schwer­punkt Korruption.

Einen Weg zurück in den Jour­na­lis­mus sieht Najem für sich aller­dings nicht. „Ich denke, das ist einfach unmög­lich“, sagt er, „es ist eine gute Sache, wenn Men­schen vom Jour­na­lis­mus in den öffent­li­chen Dienst wech­seln. […] wir brau­chen noch mehr Men­schen, die keine Erfah­rung im öffent­li­chen Dienst haben, aber inner­halb des Systems arbei­ten wollen und bereit sind, dort Ver­ant­wor­tung zu übernehmen.“

 

Portrait von Denis Trubetskoy

Denis Tru­bets­koy ist in Sewas­to­pol auf der Krim geboren und berich­tet als freier Jour­na­list aus Kyjiw.

 

 

 

 

 

 

 

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