Polen im Dreieck zwi­schen Russ­land und Deutschland

Der dama­lige pol­ni­sche Außen­mi­nis­ter Radek Sikor­ski mit seinen deut­schen und fran­zö­si­schen Kol­le­gen beim „Wei­marar Dreieck“ 2014. Foto: IMAGO

Polens Ver­hält­nis zu Russ­land ist stark von Asym­me­trien geprägt. Dabei spielen Deutsch­land und die Ukraine eine zen­trale Rolle, schreibt Janusz Reiter.

Dieses Paper ist im Rahmen des Pro­jekts „Expert Network Russia“ erschie­nen. Dort finden Sie auch eine eng­li­sche Version!

Man kann die pol­nisch-rus­si­schen Bezie­hun­gen kaum ver­ste­hen, wenn man zwei andere Staaten nicht ins Blick­feld ein­be­zieht: Deutsch­land und die Ukraine. Beide haben, jeder auf andere Weise, das Ver­hält­nis zwi­schen Polen und seinem großen öst­li­chen Nach­barn Russ­land mit­ge­prägt. Es sind lauter asym­me­tri­sche Ver­hält­nisse. Für Polen sind Deutsch­land und Russ­land immer zwei bestim­mende Fak­to­ren – über lange Zeit zwei Feinde – gewesen. Für Deutsch­land ist nur Russ­land ein „defi­ning partner” gewesen. Polen hatte diesen Rang nicht. Die Ukrai­ner defi­nie­ren ihre geo­po­li­ti­sche Lage his­to­risch mit Blick nach Russ­land und nach Polen, wobei sie mehrere Male Deutsch­land Zunei­gung ent­ge­gen­brach­ten, die nie erwi­dert wurde. Und Russ­land? Es setzt immer wieder Hoff­nun­gen auf Deutsch­land, kommt mit Polen nicht zurecht und weigert sich, die Ukraine als Staat und Nation zur Kennt­nis zu nehmen.

Portrait von Janusz Reiter

Janusz Reiter ist ehe­ma­li­ger Bot­schaf­ter Polens in Deutsch­land und den USA sowie Gründer und Prä­si­dent der Denk­fa­brik Zentrum für Iin­ter­na­tio­nale Beziehungen.

Polens Russ­lan­d­er­fah­rung ist wichtig für die euro­päi­sche Auseinandersetzung

Die Kom­ple­xi­tät der pol­nisch-rus­si­schen Bezie­hun­gen ist das Ergeb­nis von Geo­gra­phie und Geschichte. In der Wahr­neh­mung, auch der pol­ni­schen, ist das Ver­hält­nis dadurch etwas Ein­zig­ar­ti­ges und Beson­de­res. Das ist aber nur bedingt richtig. Die pol­ni­sche Russ­lan­d­er­fah­rung ist ein wich­ti­ger Teil der euro­päi­schen Aus­ein­an­der­set­zun­gen mit, oder bezie­hungs­weise um, Russ­land. Sie wurde im west­li­chen Teil Europas, auch oder vor allem in Deutsch­land, als psy­cho­lo­gi­sches Phä­no­men bezie­hungs­weise Über­emp­find­lich­keit qua­li­fi­ziert und dadurch als poli­tisch wertlos abgetan. Im pol­nisch-deut­schen Ver­hält­nis ent­stand dadurch eine Ver­trau­ens­lü­cke, die erst jetzt all­mäh­lich geschlos­sen werden könnte.

Die pol­ni­sche Russ­lan­d­er­fah­rung hat auch dazu bei­getra­gen, dass das Denken in den Kate­go­rien eines Drei­ecks Polen-Russ­land-Deutsch­land immer noch über­wie­gend ein Thema für His­to­ri­ker ist. Aber in der heu­ti­gen pol­ni­schen Politik kann man die Tendenz erken­nen, das Dreieck als durch­aus aktu­el­les geo­po­li­ti­schen Format darzustellen.

Seit dem späten 18. Jahr­hun­dert war Polen in einer fatalen Zwangs­lage gefan­gen und verlor für 123 Jahre seine staat­li­che Unab­hän­gig­keit. Zwi­schen Deutsch­land und Russ­land gab es immer wieder Inter­es­sen­ko­f­likte, aber die Ableh­nung Polens als sou­ve­rä­ner Staat verband die beiden Gross­mächte, auch noch im Sep­tem­ber 1939. Erst 1989/​90 konnte Polen seine geo­po­li­ti­sche Lage umde­fi­nie­ren. Seitdem ist es kein Land zwi­schen Russ­land und Deutsch­land mehr, sondern Mit­glied der west­li­chen Gemein­schaft, auch wenn es im rechten Spek­trum der pol­ni­schen Politik Bemü­hun­gen gibt, Deutsch­land eher als Bedro­hung denn als Partner darzustellen.

Die Selbst­be­frei­ung von der russischen/​sowjetischen Herr­schaft vollzog sich fried­lich, so dass der stra­te­gi­sche Inter­es­sen­ge­gen­satz etwas an Dra­ma­tik verlor. Beide Länder ver­such­ten, auf die Ent­schei­dung des Westens über die Öffnung der NATO nach Osten Ein­fluss zu nehmen. Polen setzte sich durch, pro­fi­tierte dabei selbst­ver­ständ­lich von Russ­lands poli­ti­scher Schwä­che, ohne aber Russ­land zu pro­vo­zie­ren. Moskau schien sich ja von seiner impe­ria­len Tra­di­tion zu distan­zie­ren, zeigte sogar Sym­pa­thie für das Konzept der libe­ra­len Demo­kra­tie. Teile der neuen pol­ni­schen Elite hatten die Hoff­nung, dass es zwi­schen Polen und Russ­land zur Ver­söh­nung kommen könnte, so wie sie sich zwi­schen Polen und Deutsch­land vollzog. Aller­dings waren sich selbst die größten Opti­mis­ten darin einig, dass nur ein im Westen ver­an­ker­tes Polen einen Aus­gleich mit Russ­land errei­chen könnte. Eine neue Zwi­schen­lage Polens würde früher oder später Russ­land pro­vo­zie­ren, seine Domi­nanz in der Region wie­der­her­zu­stel­len. Auch in Deutsch­land überwog die Ein­sicht, dass ein unge­bun­de­nes Polen zu einem Spiel­feld von Macht­ri­va­li­tä­ten werden könnte.

Die rus­si­sche Präsenz in Polen ging in den 1990er Jahren dras­tisch zurück. Die trau­ma­ti­schen Erin­ne­run­gen an die rus­si­sche Herr­schaft lösten sich nicht auf, ver­lo­ren aber weit­ge­hend ihre emo­tio­nale Wirkung. Selbst Wla­di­mir Putins Macht­über­nahme Ende der 1990er Jahre war kein sofor­ti­ger „game changer” in den Bezie­hun­gen. Polen war mit den EU-Bei­tritts­ver­hand­lun­gen beschäf­tigt, für die wie­derum Moskau relativ wenig Inter­esse zeigte. Der 1. Mai 2004, der Tag des pol­ni­schen EU-Bei­tritts, schien das sym­bo­li­sche Ende des Kapi­tels der pol­ni­schen Geschichte zu sein, das seinen Anfang im 18. Jahr­hun­dert hatte. Der Umbau der pol­ni­schen Geo­po­li­tik konnte für abge­schlos­sen erklärt werden.

Die Wirk­lich­keit war viel kom­pli­zier­ter, wie sich all­mäh­lich her­aus­stellte. Unter Putin wurde Russ­land eine offen und immer aggres­si­ver revi­sio­nis­ti­sche Macht. In dieser Ein­sicht waren sich War­schau und Berlin grund­sätz­lich einig. In den poli­ti­schen Kon­se­quen­zen nicht immer. Anders als War­schau glaubte Berlin, eine „trans­for­ma­tive” Russ­land­po­li­tik ver­fol­gen zu können. Und schließ­lich war da noch die große offene Frage nach der Zukunft der Länder zwi­schen der NATO/​EU und Russ­land. Auch hier gab es zwi­schen Polen und Deutschland/​Westeuropa Unter­schiede, die aber zunächst keinen großen Ein­fluss auf die ope­ra­tive Politik hatten.

Brze­zinskis Ukraine-These

Die neue pol­ni­sche Elite war anti­so­wje­tisch, aber nicht anti­rus­sisch. Sie stand aller­dings auch in der poli­ti­schen Tra­di­tion, die die Unab­hän­gig­keits­be­stre­bun­gen der öst­li­chen Nach­barn – beson­ders der Ukraine – unter­stützte. Die Begrün­dung war sowohl mora­lisch als auch vor allem stra­te­gisch: Die aus der Soli­dar­ność-Bewe­gung her­vor­ge­gan­ge­nen Kräfte konnten den Nach­bar­völ­kern nicht die Rechte ver­wei­gern, die sie für ihr eigenes Land bean­sprucht hatten. Stra­te­gisch war aber auch klar, dass es im pol­ni­schen Inter­esse lag, nicht das öst­li­che Grenz­land der west­li­chen Gemein­schaf­ten zu sein. Eine demo­kra­ti­sche Ent­wick­lung dieser Länder wäre ein Beitrag zur Sicher­heit Polens. Der ein­fluss­rei­che US-Experte und ehe­ma­lige Sicher­heits­be­ra­ter Zbi­gniew Brze­zinski for­mu­lierte die These, die Polen sich zu eigen machte, dass die Unab­hän­gig­keit der Ukraine den ent­schei­den­den Ein­fluss auf die poli­ti­sche Iden­ti­tät Russ­lands haben würde. Nur eine unab­hän­gige Ukraine könne ver­hin­dern, dass Russ­land zu seinen impe­ria­len Tra­di­tio­nen zurückkehre.

Wie sehr er recht hatte, kann man heute in aller Deut­lich­keit sehen.

Die deut­sche Sicht­weise war eine andere. Der Mehr­heit der deut­schen Öffent­lich­keit und auch der Eliten fehlte vor allem das Ver­ständ­nis für das größte Land der Region, die Ukraine. Viele spra­chen ihr die natio­nale Iden­ti­tät und damit auch jeg­li­che Staats­fä­hig­keit ab. Mit dieser Posi­tion stand Deutsch­land nicht allein, aber die poli­ti­schen Kon­se­quen­zen der deut­schen Skepsis waren beson­ders relevant.

Bereits in den 1990er Jahren enga­gierte sich Polen, mit wech­seln­dem Erfolg, für die demo­kra­ti­sche und markt­wirt­schaft­li­che Ent­wick­lung der Ukraine, ohne dass dieser Einsatz die pol­ni­sche Politik domi­nierte. Ihre ein­deu­tige Prä­fe­renz waren ein NATO- und EU-Bei­tritt. Dieses Ziel absor­bierte fast die gesamte poli­ti­sche Energie.

Moskau wollte Polen als wil­len­lo­sen Befehls­emp­fän­ger Ame­ri­kas abstempeln

Moskau konnte  den poli­ti­schen Kurs Polens kaum beein­flus­sen, ver­fügte aber über ein indi­rek­tes Druck­in­stru­ment: Dia­log­ver­wei­ge­rung. Die rus­si­sche Diplo­ma­tie scheute keine Mühe, Polen in West­eu­ropa als ein „rus­so­pho­bes” Land zu dis­kre­di­tie­ren. Es war eine geschickte Taktik. Allein schon auf­grund seiner Geo­gra­phie wollte Polen als NATO- und EU-Mit­glied an der Gestal­tung der Bezie­hun­gen des Westens mit den öst­li­chen Nach­barn, d.h. auch mit Russ­land, teil­neh­men. Die rus­si­sche Gesprächs­ver­wei­ge­rung schwächte das außen­po­li­ti­sche Instru­men­ta­rium War­schaus in diesem Bereich schmerz­haft. Moskau wollte Polen als wil­len­lo­sen Befehls­emp­fän­ger Ame­ri­kas abstem­peln und ihm jeg­li­che Fähig­keit zur Mit­ge­stal­tung der euro­päi­schen Politik in Ost­eu­ropa absprechen.

2002 schien es noch Dia­log­mög­lich­kei­ten zu geben. Wla­di­mir Putin besuchte Polen und sprach von Zuver­sicht für die Zukunft. Als Zeichen guten Willens kün­dig­ten Putin und sein pol­ni­scher Gast­ge­ber Alek­san­der Kwas­niew­ski die Bildung einer „pol­nisch-rus­si­schen Gruppe für schwie­rige Ange­le­gen­hei­ten” an.  Sie sollte vor allem zu einem bes­se­ren Ver­ständ­nis der kom­pli­zier­ten Geschichte der pol­nisch-rus­si­schen Bezie­hun­gen bei­tra­gen, was ihr zum Teil gelang, ohne aber dass dies die erhoff­ten poli­ti­schen Folgen hatte.

2004 meldete sich die Ukraine, deren Image bisher von post­so­wje­ti­schen, kor­rup­ten Eliten domi­niert war, mit ihren demo­kra­ti­schen und euro­päi­schen Ansprü­chen zu Wort. Damit wurde, wenn auch noch nicht für alle im Westen, deut­lich, dass die 1989 begon­nene Trans­for­ma­tion Europas ein unvoll­ende­tes Werk war. Polens Staats­prä­si­dent Kwas­niew­ski nutzte seine Auto­ri­tät, um einen mäßi­gen­den Ein­fluss auf die span­nungs­volle Lage in der Ukraine zu nehmen. Moskau hat ihm das nie ver­zie­hen, obwohl Kwas­niew­ski alles andere als ein anti­rus­si­scher Eiferer war. Kwas­niew­ski sollte auch in den nächs­ten Kri­sen­si­tua­tio­nen der Ukraine eine wich­tige Ver­mitt­ler­rolle spielen.

Die Hoff­nun­gen der Oran­ge­nen Revo­lu­tion von 2004 wurden von den Regie­ren­den der Ukraine kaum erfüllt. Polen befand sich in einer höchst unbe­que­men Situa­tion. Während Deutsch­land von seiner „Wandel durch Handel”-Strategie gegen­über Russ­land wirt­schaft­lich und poli­tisch pro­fi­tierte, blieb Polen mit der damals undank­ba­ren Rolle des Anwalts der Ukraine ziem­lich allein. Ohne Gesprächs­ka­näle nach Moskau hatte War­schau einen stra­te­gi­schen Nach­teil gegen­über den anderen Ländern. Die Regie­rung Tusk ver­suchte, einen sach­li­chen, prag­ma­ti­schen Dialog mit Russ­land ein­zu­lei­ten. 2009, nach inten­si­ven diplo­ma­ti­schen Bemü­hun­gen, kam Putin zu einem Besuch nach Polen. Auf der Dan­zi­ger Wes­ter­platte, wo am 1. Sep­tem­ber 1939 der 2. Welt­krieg begann, hielt er eine kurze, aber aus­sa­ge­kräf­tige Rede. Putin erin­nerte bereits damals an den Ver­sailler Frieden und die „Demü­ti­gung” Deutsch­lands, die zum 2. Welt­krieg bei­getra­gen habe. Er lobte auch die rus­sisch-deut­schen Bezie­hun­gen, „gegrün­det auf Koope­ra­tion und Part­ner­schaft und nicht auf his­to­ri­schen Abrech­nun­gen”, als Modell für die pol­nisch-rus­si­schen Bezie­hun­gen. Seine Rede war Pro­vo­ka­tion und Lockruf zugleich. Er musste wissen, dass der von ihm ver­ur­teilte Ver­sailler Vertrag Polen den Weg zur Wie­der­erlan­gung der Unab­hän­gig­keit eröff­net hatte. Er wusste auch, dass das Modell der Ver­stän­di­gung von oben, wie zwi­schen Russ­land und Deutsch­land, in Polen auf Skepsis stieß. War­schau bevor­zugte eine Ver­söh­nung von unten, wie mit Deutsch­land. Putin lobte das „ver­nünf­tige” Deutsch­land und sug­ge­rierte, dass auch Polen diesem Bei­spiel folgen könnte. Was Polen zu tun hätte, erläu­terte er nicht, aber darüber gab es kaum Zweifel: Es ging vor allem um die Ukraine, die er als rus­si­sche Ein­fluss­zone betrach­tete und wo er sich kein pol­ni­sches Enga­ge­ment wünschte.

Diese Bot­schaf­ten waren ver­schlüs­selt, aber ver­ständ­lich. In War­schau machte sich niemand Illu­sio­nen über Putin. Könnte Polen aber nicht trotz­dem einen Gesprächs­ka­nal mit Moskau eröff­nen, wie das alle grö­ße­ren Staaten in Europa längst prak­ti­zier­ten? Washing­ton hatte gerade einen „reset” in den Bezie­hun­gen mit Russ­land aus­ge­ru­fen, was in War­schau mit Skepsis auf­ge­nom­men wurde, aber eine nicht zu leug­nende Rea­li­tät war. Könnte man die geo­po­li­ti­sche Aus­ein­an­der­set­zung um die Zukunft der Ukraine, in der damals  keine schnelle Ent­schei­dung zu erwar­ten war, nicht von einer begrenz­ten, prag­ma­ti­schen Zusam­men­ar­beit trennen?

Das Expe­ri­ment war von kurzer Dauer. Die Tren­nung zwi­schen dem geo­po­li­ti­schen Inter­es­sen­kon­flikt um die Ukraine und einer prag­ma­ti­schen Zusam­men­ar­beit mit Russ­land erwies sich als unrea­lis­tisch. Die innen­po­li­ti­sche Lage in der Ukraine spitzte sich immer mehr zu. Der pro­rus­si­sche Prä­si­dent Wiktor Janu­ko­wytsch geriet immer mehr unter Druck der pro­west­li­chen Öffent­lich­keit, die hoff­nungs­voll auf ein Abkom­men mit der EU wartete. Als sich Janu­ko­wytsch wei­gerte, das Abkom­men zu unter­zeich­nen, entlud sich der Zorn der Bevöl­ke­rung in Mas­sen­de­mons­tra­tio­nen. Polen musste wieder in seine Ver­mitt­ler­rolle ein­tre­ten, war aber nicht allein. Der pol­ni­sche Außen­mi­nis­ter Radek Sikor­ski reiste mit seinem dama­li­gen deut­schen Amts­kol­le­gen Frank-Walter Stein­meier in die Ukraine, der fran­zö­si­sche Diplo­ma­tie­chef Laurent Fabius machte nicht ohne Zögern mit. Die Bot­schaft lautete, dass War­schau kein Ein­zel­gän­ger mehr war,  sondern sich im Main­stream euro­päi­scher Politik bewegte.

Aber auch diese Methode hatte ihre Grenzen. Am 1. April 2014 kamen die Außen­mi­nis­ter Polens, Deutsch­lands und Frank­reichs in Weimar zusam­men und erklär­ten, dass sie der kurz zuvor statt­ge­fun­de­nen Anne­xion der Krim macht­los gegen­über­stan­den. Stein­meier machte deut­lich, dass er gegen die Auf­nahme der Ukraine in die NATO sei, während Sikor­ski den Wunsch äußerte, zwei schwere NATO-Bri­ga­den bald in Polen sta­tio­niert zu sehen. Das „Wei­ma­rer Dreieck”, in dem Polen, Deutsch­land und Frank­reich seit 1991 zusam­men­zu­ar­bei­ten ver­such­ten, stand ziem­lich hilflos da.

Polen war vom Nor­man­die-Format enttäuscht

Nur wenige Wochen später beschlos­sen zwei der Länder des Wei­ma­rer Drei­ecks, Frank­reich und Deutsch­land, mit Russ­land und der Ukraine im soge­nann­ten Nor­man­die-Format zu ver­han­deln. War­schau war über­rascht und ent­täuscht, aber das Signal war ein­deu­tig: Russ­land wollte Polen nicht am Ver­hand­lungs­tisch und die beiden west­eu­ro­päi­schen Partner waren offen­sicht­lich nicht bereit, das neue Format wegen Polen aufs Spiel zu setzen. Dass das Nor­man­die-Format am Ende nicht erfolg­rei­cher war als das Wei­ma­rer Dreieck, wurde später erkenn­bar, hatte aber für Polen keine Bedeu­tung mehr. Russ­land konnte auf die alte Methode der Gesprächs­ver­wei­ge­rung gegen­über Polen zurückgreifen.

Auch der Umgang mit dem Flug­zeug­un­glück bei Smo­lensk, bei dem am 10. April 2010 der pol­ni­sche Staats­prä­si­dent Lech Kac­zyn­ski und 95 weitere Per­so­nen, dar­un­ter Spit­zen­po­li­ti­ker und ‑beamte ums Leben gekom­men waren, warf selbst­ver­ständ­lich einen Schat­ten auf die pol­nisch-rus­si­schen Bezie­hun­gen. Russ­lands Wei­ge­rung, das Flug­zeug­wrack an Polen zurück­zu­ge­ben, war und ist bis heute eine bewusste Demü­ti­gung Polens. Als die PiS-Partei für Recht und Gerech­tig­keit 2015 an die Macht  kam, wurde die Tra­gö­die von Smo­lensk für innen­po­li­ti­sche Zwecke instru­men­ta­li­siert. Den pol­nisch-rus­si­schen Bezie­hun­gen konnte das kaum schaden, weil sie ohnehin fast inhalts­leer gewor­den waren.

Gleich­zei­tig begann sich Polen aber von seinen euro­päi­schen Part­nern zu ent­fer­nen. Das galt ins­be­son­dere für das west­li­che Nach­bar­land Deutsch­land. Die völlig begrün­dete Kritik an der deut­schen Russ­land­po­li­tik und ins­be­son­dere an Nord Stream 2, schoss aber über das Ziel hinaus. Die regie­rende Rechte scheint Polen als ein Land zwi­schen zwei Feinden zu sehen, wobei sie Deutsch­land mit einer beson­ders auf­fal­len­den Emo­tio­na­li­tät kritisiert.

Sank­tio­nen und Los­lö­sung von rus­si­scher Energie finden in Polen breite Zustimmung

Der rus­si­sche Angriff auf die Ukraine hat dieses Bild nur zum Teil ver­än­dert. In der Ver­ur­tei­lung Russ­lands sind sich sich alle poli­ti­schen Kräfte einig. Das galt auch grund­sätz­lich für die Ein­stel­lung zu den gegen Russ­land ver­häng­ten Sank­tio­nen. Polen setzte sich bereits nach der Krim-Anne­xion für harte Sank­tio­nen ein. Schmerz­los war diese Politik nicht. Für viele pol­ni­sche Unter­neh­men war Russ­land ein attrak­ti­ver Absatz­markt. Die Agrar­wirt­schaft war nur eine von ihnen, aller­dings die mit der stärks­ten Lobby. Sie traute sich trotz­dem nicht zu, das Sank­ti­ons­re­gime offen in Frage zu stellen. Gleich­zei­tig ver­folgte Polen ziem­lich kon­se­quent eine Politik der Los­lö­sung von der Ener­gie­ab­hän­gig­keit von Russ­land. Sie wurde, was in Polen eher unge­wöhn­lich ist, von allen rele­van­ten Par­teien unter­stützt und half dem Land, den Ener­gie­schock nach dem rus­si­schen Angriff auf die Ukraine abzu­mil­dern. Am schwie­rigs­ten gestal­tete sich der Ver­zicht auf rus­si­sche Kohle, welche die teurere und knappe pol­ni­sche Kohle ergänzte. Dieses Problem dürfte aber relativ kurz­fris­tig zu bewäl­ti­gen sein. Kohle ist ein welt­weit gehan­del­ter Rohstoff.

Die Wahr­neh­mung der rus­si­schen Bedro­hung wurde inten­si­ver denn je seit 1989. Gleich­zei­tig wurde die Ukraine neu ent­deckt. Sie war in Polen schon seit meh­re­ren Jahren durch Hun­dert­tau­sende oder noch mehr Arbeits­kräfte präsent, aber wenig beach­tet. Das änderte sich mit der Flücht­lings­welle, die große Anteil­nahme und Soli­da­ri­tät auslöste.

Der ukrai­ni­sche Ver­tei­di­gungs­krieg beein­flusste gleich­zei­tig das Image der Ukraine. Nicht nur der Mut, sondern auch die Intel­li­genz und Effi­zi­enz der Ukrai­ner wurden mit Respekt und Bewun­de­rung auf­ge­nom­men. In der langen Geschichte der pol­nisch-ukrai­ni­schen Bezie­hun­gen ist es zwei­fel­los der Höhepunkt.

Selbst­iso­lie­rung schwächt Polens Stel­lung als Ver­bün­de­ter Kyjiws

Ob das auch den Beginn einer neuen Part­ner­schaft mar­kiert, wird sich erst nach dem Ende des Krieges her­aus­stel­len. Die Erfah­rung der Soli­da­ri­tät in der Not wird dabei eine Rolle spielen. Die Ukraine wird aber vor allem eine effek­tive poli­ti­sche und wirt­schaft­li­che Unter­stüt­zung brau­chen. Inwie­wieit Polen das bieten kann, hängt weit­ge­hend davon ab, ob es dafür Partner in der EU und der NATO gewin­nen kann. Die jetzt ver­folgte Politik der Selbst­iso­lie­rung wird Polens Stel­lung als Ver­bün­de­ter der Ukraine erheb­lich schwä­chen. Je mehr sich das Land vom Westen – vor allem von seinen west­eu­ro­päi­schen Part­nern – ent­fernt, umso weniger Attrak­ti­vi­tät wird es für die Ukraine haben.

Kri­ti­ker werfen der pol­ni­schen Regie­rung vor, nach Osten zu steuern. Die anti­west­li­che Kul­tur­kri­tik der regie­ren­den Rechten kann diesen Ein­druck ent­ste­hen lassen. Sie  setzt sich erfreu­li­cher­weise nicht in reale Politik um. Selbst eine oppor­tu­nist­sche Russ­land­po­li­tik à la Viktor Orban ist in Polen schwer vor­stell­bar. Die his­to­ri­schen Erfah­run­gen schüt­zen Polen davor. Sie ver­blass­ten zwar nach 1989, wurden aber durch Russ­lands Angriff auf die Ukraine neu belebt.

Sollte sich die Ukraine als sou­ve­rä­ner, erfolg­rei­cher Staat behaup­ten, während Russ­land die Kraft ver­liert, seine Nach­barn zu bedro­hen, könnte  das eine his­to­ri­sche Wende in der pol­ni­schen Geo­po­li­tik bedeu­ten. Dazu müssten aber noch zwei wich­tige Bedin­gun­gen erfüllt werden: Europa und die trans­at­lan­ti­sche Gemein­schaft gehen aus dem jet­zi­gen Kon­flikt gestärkt hervor und Polen trägt dazu bei, weil es seine Zukunft in dieser Gemein­schaft sieht. Polen stand mit seiner Russ­land­po­li­tik oft ver­einsamt in Europa. Das kann sich jetzt ändern, wenn Polen selbst einen Beitrag dazu leistet.

 

Janusz Reiter ist ein pol­ni­scher Diplo­mat, Ger­ma­nist und Publi­zist. Er war 1990–1995 pol­ni­scher Bot­schaf­ter in Deutsch­land und 2005–2007 Bot­schaf­ter in den USA. Er ist Vor­stands­vor­sit­zen­der des War­schauer Zen­trums für Inter­na­tio­nale Bezie­hun­gen.

Dieses Paper ist im Rahmen des vom Aus­wär­ti­gen Amt geför­der­ten Pro­jekts „Russ­land und der Westen“: Euro­päi­sche Nach­kriegs­ord­nung und die Zukunft der Bezie­hun­gen zu Russ­land“ erschie­nen. Sein Inhalt gibt die per­sön­li­che Meinung des Autors wieder.

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