Zwi­schen Hei­mat­ge­fühl und Unsicherheit

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Wie kann es der Ukraine gelin­gen, die­je­ni­gen zu unter­stüt­zen, die in relativ siche­ren Gebie­ten der Ukraine Zuflucht suchen? Eine Analyse zur Situa­tion der ukrai­ni­schen Bin­nen­flücht­linge von Olesia Luchkovska

Die Zahl der Bin­nen­flücht­linge in der Ukraine nimmt stetig zu. Das Büro der Ver­ein­ten Natio­nen für die Koor­di­nie­rung huma­ni­tä­rer Ange­le­gen­hei­ten berich­tet unter Beru­fung auf das Amt des Hohen Flücht­lings­kom­mis­sars der Ver­ein­ten Natio­nen, dass seit dem Aus­bruch der Feind­se­lig­kei­ten 7 Mil­lio­nen Bin­nen­ver­trie­bene gezwun­gen waren, aus ihrer Heimat zu fliehen, um den Kämpfen und ihren Folgen zu ent­kom­men (Stand: 7. Sep­tem­ber 2022). Trotz der andau­ern­den Luft­an­griffe und der Nähe zur Front­li­nie in der Ost- und Süd­ukraine weisen die Oblaste Charkiw und Dni­pro­pe­trowsk die höchste Zahl an Bin­nen­ver­trie­be­nen auf.

Die genann­ten Regio­nen dienen als Dreh­scheibe für eine nicht enden wol­lende Welle von Bin­nen­ver­trie­be­nen, die auf der Suche nach einem siche­re­ren Ort sind, sich aber nicht weit von zu Hause ent­fer­nen wollen. Offi­zi­el­len Angaben zufolge sind allein in der Region Dni­pro­pe­trowsk 398 000 Bin­nen­ver­trie­bene regis­triert (Stand: 19. Sep­tem­ber 2022). Die geo­gra­fi­sche Nähe zur Zone der aktiven Feind­se­lig­kei­ten hat die Region zu einem Zufluchts­ort für Bin­nen­ver­trie­bene gemacht – vor allem für Men­schen aus den Regio­nen Donezk und Luhansk gemacht. Nach Angaben von Jurij Schpa­raha hat die Region Charkiw seit dem 2. Sep­tem­ber 2022 jede Woche min­des­tens 8000 Bin­nen­ver­trie­bene aus den ehemals besetz­ten Gebie­ten der Region Charkiw aufgenommen.

Aus ver­schie­de­nen  Gründen ist die Zahle der offi­zi­ell regis­trier­ten Bin­nen­ver­trie­be­nen zum 15. Sep­tem­ber 2022 nied­ri­ger als die tat­säch­li­che Zahl. Nach Angaben des stell­ver­tre­ten­den ukrai­ni­schen Minis­ters für Sozi­al­po­li­tik, digi­tale Ent­wick­lung, digi­tale Trans­for­ma­tion und Digi­ta­li­sie­rung, Kos­ti­an­tyn Kos­he­lenko, beläuft sich die Zahl der regis­trier­ten Bin­nen­ver­trie­be­nen auf 4,6 Mil­lio­nen Men­schen. Das Zögern von Betrof­fe­nen , den Ver­trie­be­nen­sta­tus anzu­neh­men, hat mehrere Gründe: Viele hoffen auf ein bal­di­ges Kriegs­ende, andere wollen ihre Familie unab­hän­gig und ohne staat­li­che Hilfe ver­sor­gen. Gleich­zei­tig ist das das natio­nale Regis­trie­rungs­sys­tem für Bin­nen­flücht­linge stark überlastet.

Digi­ta­li­sie­rung von IDP-Registrierungen

Obwohl die nötigen Mecha­nis­men für die IDP-Regis­trie­rung seit 2014 bestehen (Gesetz der Ukraine „Über die Gewähr­leis­tung der Rechte und Frei­hei­ten von Bin­nen­ver­trie­be­nen“), wäre das System ohne die Digi­ta­li­sie­rung des Regis­trie­rungs­pro­zes­ses nicht in der Lage gewesen, eine so große Zahl von Anträ­gen zu bewäl­ti­gen. Daher hat das Minis­ter­ka­bi­nett der Ukraine das Ver­fah­ren für die Regis­trie­rung und Aus­stel­lung von IDP-Regis­trie­rungs­be­schei­ni­gun­gen geän­dert und den auto­ri­sier­ten Beamten ein elek­tro­ni­sches Werk­zeug an die Hand gegeben. Seit Kurzem ist es so möglich, die IDP-Regis­trie­rung über das ein­heit­li­che staat­li­che Web­por­tal für elek­tro­ni­sche Dienst­leis­tun­gen zu beantragen.

Die Digi­ta­li­sie­rung macht es möglich, das System zu ent­las­ten. Doch die Zahl der Bin­nen­ver­trie­be­nen nimmt wei­ter­hin stetig zu. Einer der Gründe dafür ist, dass viele Men­schen, die zunächst ins Ausland geflo­hen sind, beschlos­sen haben, in ihre Heimat zurück­zu­keh­ren. So haben nach Angaben von UNHCR (Stand: 5. Sep­tem­ber) in den letzten Monaten mehr als 4,7 Mil­lio­nen Men­schen die Staats­grenze über­quert. Dies betonte auch die Prä­si­den­tin der Euro­päi­schen Kom­mis­sion Ursula von der Leyen bei ihrem Besuch in Kyjiw Mitte Sep­tem­ber 2022: Von den acht Mil­lio­nen Ukrai­nern, die zu Beginn des Krieges in die EU kamen, seien bereits rund fünf Mil­lio­nen in ihre Heimat zurück­ge­kehrt. Die meisten von ihnen kehren in ihre Häuser zurück, obwohl sich 65 Prozent von ihnen nicht sicher fühlen. Es gibt auch Men­schen, die nicht an ihren frü­he­ren Wohnort zurück­keh­ren können und gezwun­gen sind, in siche­re­ren Regio­nen der Ukraine Schutz zu suchen.

Unter­stüt­zung durch Freiwillige

Dank der bestehen­den Hilfs­pro­gramme für Bin­nen­ver­trie­bene, die von Frei­wil­li­gen und NGOs ange­bo­ten werden, sowie der Initia­ti­ven der Behör­den haben die Men­schen die Mög­lich­keit, in Unter­künf­ten zu leben und Zugang zu Nah­rungs­mit­teln und anderen Pro­duk­ten zu erhal­ten. Die East Europe Foun­da­tion (EEF) war eine der ersten zivil­ge­sell­schaft­li­chen Orga­ni­sa­tio­nen in der Ukraine, die ein lokales Shelter-Projekt zur Unter­stüt­zung von Bin­nen­ver­trie­be­nen ins Leben rief. Heute hat sich das Projekt zu einem voll­wer­ti­gen Pro­gramm der Stif­tung aus­ge­wei­tet, das von Insti­tu­tio­nen und Ein­zel­per­so­nen aus ver­schie­de­nen Ländern unter­stützt wird und darauf abzielt, Kriegs­op­fern huma­ni­täre und psy­cho­lo­gi­sche Hilfe und Unter­stüt­zung beim Betrieb von Flücht­lings­un­ter­künf­ten  bereitstellt.

Die EEF konnte bereits bei der Ein­rich­tung von 30 Unter­künf­ten für Bin­nen­ver­trie­bene in neun Regio­nen der Ukraine mit­wir­ken und 217 Tonnen an huma­ni­tä­ren Hilfs­gü­tern liefern. Das Sozi­al­pro­gramm „Shelter“ der Regie­rung soll Bin­nen­ver­trie­be­nen helfen, eine kos­ten­lose Unter­kunft zu finden, und die­je­ni­gen, die bereit sind, sie zu beher­ber­gen, ent­schä­di­gen. Die Regie­rung bietet auch eine För­de­rung für Arbeit­ge­ber (6 500 Hrywnja – das ent­spricht dem monat­li­chen Min­dest­lohn), wenn diese Bin­nen­ver­trie­bene ein­stel­len. Dieses Pro­gramm soll den Bin­nen­ver­trie­be­nen durch die Bezah­lung ihrer Arbeit ein Gefühl der Sta­bi­li­tät und des Ver­trau­ens geben. Dies sind nur einige der öffent­li­chen und staat­li­chen Initia­ti­ven, die es den Ukrai­nern ermög­li­chen, die huma­ni­tä­ren Her­aus­for­de­run­gen zu meis­tern. Darüber hinaus gibt es ein großes zivil­ge­sell­schaft­li­ches Bewusst­sein, eine große Zahl von Ver­trie­be­nen auch ohne offi­zi­elle Regis­trie­rung kos­ten­los unter­zu­brin­gen und sie zu unterstützen.

Der Bedarf an Hilfe für Men­schen, die vom Krieg in der Ukraine betrof­fen sind, wächst, und es ist wichtig, darauf hin­zu­wei­sen, dass es sich dabei nicht nur um Bin­nen­ver­trie­bene, sondern auch um gefähr­dete Gruppen der lokalen Bevöl­ke­rung  handelt. Viele Zivi­lis­ten waren nicht in der Lage, die vor­über­ge­hend besetz­ten Gebiete zu ver­las­sen, in denen auch Frei­wil­lige unter Einsatz ihres Lebens huma­ni­täre Hilfe leisten müssen. Darüber hinaus muss mit der Gegen­of­fen­sive der ukrai­ni­schen Streit­kräfte und der Eva­ku­ie­rung der Gebiete eine neue huma­ni­täre Kata­stro­phe ver­hin­dert werden. Denn die Men­schen, die seit Monaten unter der rus­si­schen Besat­zung leben, brau­chen sowohl huma­ni­täre als auch psy­cho­lo­gi­sche Unter­stüt­zung. Damit stehen das Land und seine Bürger vor einer wei­te­ren rie­si­gen Herausforderung.

Rück­kehr in die Heimat

So gibt es neben den 4,6 Mil­lio­nen offi­zi­ell regis­trier­ten Bin­nen­ver­trie­be­nen in allen Regio­nen der Ukraine auch Men­schen, die sich aus ver­schie­de­nen Gründen nicht regis­triert haben, aber in einer anderen Region der Ukraine leben und auf die Mög­lich­keit warten, in ihre Heimat zurück­zu­keh­ren. Ebenso gibt es Ver­tre­ter von Min­der­hei­ten  in der Bevöl­ke­rung, die nicht in der Lage waren, zu gehen, aber eben­falls erheb­li­che huma­ni­täre und zwei­fel­los auch psy­cho­lo­gi­sche Hilfe benö­ti­gen. Dank der aktiven und ver­trau­ens­vol­len Zusam­men­ar­beit zwi­schen der Regie­rung, dem öffent­li­chen Sektor und der Zivil­ge­sell­schaft sowie der bedin­gungs­lo­sen Unter­stüt­zung inter­na­tio­na­ler Geber erhal­ten die Men­schen, die gezwun­gen waren, umzu­sie­deln oder unter Beschuss zu bleiben, wei­ter­hin Hilfe.

Viele, die sich bereits 2014 gezwun­gen sahen, zu fliehen, haben Nicht­re­gie­rungs­or­ga­ni­sa­tio­nen gegrün­det und sind in der Lage, die Bedürf­nisse der Bin­nen­ver­trie­be­nen objek­ti­ver zu ana­ly­sie­ren und besser zu ver­se­hen als andere. Eine dieser Orga­ni­sa­tio­nen ist die NGO „Asso­cia­tion of IDPs ‘Common Cause’“ , die nach 2014 von Bin­nen­ver­trie­be­nen aus den Regio­nen Donezk und Luhansk gegrün­det wurde. Mehr als sieben Jahre später arbei­tet die NGO mit Bin­nen­ver­trie­be­nen in der Region Win­nyzja und hilft bei der Ver­tei­lung huma­ni­tä­rer Hilfe in Zusam­men­ar­beit mit der Inter­na­tio­na­len Orga­ni­sa­tion für Migra­tion (IOM).

Derzeit ist es unmög­lich, von einer Ver­rin­ge­rung oder Sta­bi­li­sie­rung des Stroms von Bin­nen­ver­trie­be­nen zu spre­chen, da ein großer Teil von ihnen einen Kom­pro­miss zwi­schen dem Bedürf­nis nach Heimat und Sicher­heit findet, indem er aus dem Ausland in die Ukraine zurück­kehrt. Doch für viele Men­schen im Süden des Landes, in der Region Charkiw und im Donbas, wo wei­ter­hin aktive Kampf­hand­lun­gen statt­fin­den, ist das nicht möglich. Trotz­dem kehren nach der erfolg­rei­chen Gegen­of­fen­sive der ukrai­ni­schen Streit­kräfte in der Region Charkiw (nach Angaben des Ver­tei­di­gungs­mi­nis­te­ri­ums wurden mehr als 300 Sied­lun­gen von der rus­si­schen Besat­zung befreit) immer mehr Bewoh­ner aus siche­re­ren Teilen der Ukraine in die Region Charkiw zurück. Neben der offi­zi­ell regis­trier­ten Zahl der Bin­nen­ver­trie­be­nen benö­tigt ein großer Pro­zent­satz der beson­ders gefähr­de­ten Bevöl­ke­rungs­grup­pen vor Ort drin­gend Hilfe und Unterstützung.

Olesia Luch­kovska besitzt einen MA in Inter­na­tio­nale Bezie­hun­gen & Studien zur Euro­päi­schen Union, und ist Pro­gramm­spe­zia­lis­tin des Pro­jekts „Die Ukraine in Europa: Par­la­men­ta­ri­sche Dimen­sion“ & “ Shelter Project“

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Portrait von Olesia Luchkovska

Olesia Luch­kovska ist Pro­gramm­spe­zia­lis­tin des Pro­jekts „Die Ukraine in Europa: Par­la­men­ta­ri­sche Dimen­sion“ & „Shelter Project“.

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