Russ­land und der Westen: Brau­chen wir eine neue Ostpolitik?

© Zentrum Libe­rale Moderne

Am 17. Januar ver­an­stal­tete das Zentrum Libe­rale Moderne seine zweite inter­na­tio­nale Rus­s­­land-Kon­­­fe­­renz. Im Zentrum stand die Frage nach der rich­ti­gen Politik gegen­über Moskau und ob die Ent­span­nungs­po­li­tik der Bun­des­re­pu­blik der Sieb­zi­ger­jahre dafür einen Anhalts­punkt bieten kann. Ein Konferenzbericht.

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Seit den Sieb­zi­ger­jah­ren ist „Ost­po­li­tik“ ein fester Bestand­teil des poli­ti­schen Voka­bu­lars in Europa und Nord­ame­rika. Der Begriff mar­kiert eine der wenigen stra­te­gi­schen Initia­ti­ven deut­scher Außen­po­li­tik in den Jahr­zehn­ten nach dem zweiten Welt­krieg. Er ist untrenn­bar mit der cha­ris­ma­ti­schen Per­sön­lich­keit Willy Brandts als Außen­mi­nis­ter und Kanzler verbunden.

Seit ver­gan­ge­nem Sommer ist der Begriff wieder da, weil Außen­mi­nis­ter Heiko Maas (SPD) für eine neue euro­päi­sche Ost­po­li­tik wirbt. Die soll ange­sichts der „gefähr­li­chen Sprach­lo­sig­keit zwi­schen Washing­ton und Moskau“ neue Wege auf­zei­gen, um mit Russ­land – im Inter­esse aller euro­päi­schen Staaten – zu kooperieren.

Doch recht­fer­tigt die Reso­nanz der dama­li­gen Ost­po­li­tik eine Wie­der­auf­lage? Ist eine neue Ost­po­li­tik die rich­tige Antwort auf die Her­aus­for­de­run­gen, die vom Russ­land Wla­di­mir Putins aus­ge­hen? Darüber wurde inten­siv und stre­cken­weise auch kon­tro­vers dis­ku­tiert auf der Kon­fe­renz „Russ­land und der Westen – Brau­chen wir eine neue Ostpolitik?“des Zen­trums Libe­rale Moderne. Es war die zweite Folge einer jähr­li­chen Kon­fe­renz, die Russ­land­ex­per­tin­nen und ‑exper­ten aus Politik, Wis­sen­schaft und Jour­na­lis­mus zusam­men­brin­gen soll.

Die kurze Antwort ist: Es kommt darauf an. Eine Wie­der­auf­lage der deut­schen Ost­po­li­tik der Sieb­zi­ger­jahre ist weder wün­schens­wert noch ange­bracht, so die ein­hel­lige Meinung der mehr als 80 Teil­neh­mer aus Europa, Russ­land und den USA. Zu sehr hat sich die Welt seither ver­än­dert – euro­pä­isch wie global. Wie jedoch eine neue Politik gegen­über Moskau aus­se­hen soll und ob man ihr den Namen (neue) Ost­po­li­tik geben soll, darüber gehen die Mei­nun­gen auseinander.

Man steigt nicht zweimal in den­sel­ben Fluss

Die Ost­po­li­tik Willy Brandts zielte darauf ab, die Span­nun­gen in Europa abzu­bauen, die deut­sche Teilung zu über­win­den und eine Frie­dens­ord­nung für Europa zu errei­chen. Sie mündete in die Schluss­akte von Hel­sinki von 1975, deren „drei Körbe“ – Abrüs­tung, wirt­schaft­li­che Zusam­men­ar­beit und Men­schen­rechte – heute als die drei Dimen­sio­nen der Orga­ni­sa­tion für Sicher­heit und Zusam­men­ar­beit in Europa (OSZE) wei­ter­le­ben. Es ist wichtig, an diese nor­ma­tive Dimen­sion der dama­li­gen Ost­po­li­tik zu erin­nern, auch wenn von ihrem ursprüng­li­chen Impetus eines „Wandels durch Annä­he­rung“ im Laufe der Zeit immer weniger „Wandel“ und immer mehr „Annä­he­rung“ blieb.

Die his­to­ri­sche Wende von 1989/​90 – der Fall der Mauer und die Implo­sion des sowje­ti­schen Impe­ri­ums – war weniger ein Ver­dienst der Ent­span­nungs­po­li­tik als viel­mehr der demo­kra­ti­schen Revolte in Mittel-Ost­eu­ropa. Sie kam uner­war­tet und sogar gegen das Status quo-ori­en­tierte Denken der poli­ti­schen Eliten in Deutsch­land, vor allem in der SPD.

Die Unter­schiede zwi­schen den Sieb­zi­ger­jah­ren und heute liegen auf der Hand. Deutsch­land ist ver­ei­nigt, die ehe­ma­li­gen sowje­ti­schen Satel­li­ten­staa­ten sind der NATO und der EU bei­getre­ten. Eine deut­sche Son­der­rolle im Ver­hält­nis zu Russ­land, wie sie sowohl von links wie aus natio­nal­kon­ser­va­ti­ven Kreisen immer wieder gefor­dert wird, wäre ein fatales Signal an Deutsch­lands Ver­bün­dete in Ost und West.

Auch die Brandt‘sche Ost­po­li­tik, darauf wiesen teil­neh­mende His­to­ri­ker hin, war kei­nes­wegs ein deut­scher Son­der­weg. Sie basierte auf der festen Ein­bin­dung der Bun­des­re­pu­blik in das west­li­che Bündnis, poli­tisch wie mili­tä­risch.  Dia­log­be­reit­schaft und mili­tä­ri­sche Abschre­ckung waren zwei Seiten einer Medaille. Es war gemein­same Auf­fas­sung im Bündnis, dass man mit Moskau ver­han­deln musste, um eine euro­päi­sche Frie­dens­lö­sung zu errei­chen. Eine Ver­än­de­rung des Status quo in Europa schien nur mit, nicht gegen die UdSSR möglich. Wie schon zuvor in Ost­deutsch­land (1953) und in Ungarn (1956) hatte die Nie­der­schla­gung des „Prager Früh­lings“ 1968 gezeigt, dass die Sowjet­union bereit war, ihre Ein­fluss­zone in Ost­eu­ropa mit Gewalt zu verteidigen.

Hier drängt sich die Par­al­lele zur Ukraine auf, wo es ja auch darum geht, ob sich das größte euro­päi­sche Flä­chen­land nach Russ­land oder nach Europa ori­en­tiert. Es kam die These auf, dass Putin eine Neu­auf­lage der Ost­po­li­tik gut findet, weil der rus­si­sche Prä­si­dent die Idee von Ein­fluss­sphä­ren mag. Eine Rück­kehr zu einem in zwei Hälften geteil­ten Europa wäre ein his­to­ri­scher Rück­fall hinter die Errun­gen­schaf­ten von 1989. „Eine neue Ost­po­li­tik wäre unmo­ra­lisch,“ sagte ein rus­si­scher Teilnehmer.

Mit welchem Russ­land haben wir es heute zu tun?

Zumal – und das war ein ständig wie­der­keh­ren­des Motiv der Kon­fe­renz – Putin eben nicht Bre­sch­new und Russ­land nicht die Sowjet­union ist. Im Ver­gleich zu Putin war Bre­sch­new eini­ger­ma­ßen bere­chen­bar, stärker an Sta­bi­li­tät und weniger an per­sön­li­cher Berei­che­rung inter­es­siert. Unter Putin dagegen habe sich eine weit­ge­hend ideo­lo­gie­freie Elite gebil­det, die poli­ti­sche Ent­schei­dun­gen mit Blick auf die Siche­rung der eigenen Inter­es­sen treffe.

Zugleich wurde die These ver­tre­ten, dass Putin und der innere Zirkel der Macht eine außen­po­li­ti­sche Agenda ver­fol­gen, die auf Rück­ge­win­nung des Groß­macht-Status Russ­lands und auf die größt­mög­li­che Wie­der­her­stel­lung des sowje­ti­schen Impe­ri­ums zielt. Sowohl für den Macht­er­halt wie für die Groß­macht-Ambi­tio­nen des Putin-Systems spielt die Ukraine eine Schlüsselrolle.

Während die moder­nen Mos­kauer Macht­eli­ten also geris­se­ner sind als ihre sowje­ti­schen Vor­vor­gän­ger, so hat das von ihnen kon­trol­lierte Land längst nicht mehr die Stärke von damals. Russ­land ist zwar eine nukleare Groß­macht und hat mehr als eine Million Frauen und Männern unter Waffen, es kann aber den großen Indus­trie­na­tio­nen wirt­schaft­lich nicht das Wasser reichen. Das Brut­to­in­lands­pro­dukt im Jahr 2017 betrug 1,5 Mil­li­ar­den US-Dollar, weniger als die Hälfte des deut­schen (3,68 Mil­li­ar­den) und ein Achtel des chi­ne­si­schen BIP (12 Milliarden).

Nicht zuletzt brau­chen Putin und seine Getreuen den Westen viel stärker als die dama­lige Sowjet­union. Ob als siche­rer Finanz­platz für rus­si­sches Flucht­ka­pi­tal, Abneh­mer von Roh­stof­fen, Lie­fe­rant von Hoch­tech­no­lo­gie und Maschi­nen oder als Spiel­platz der rus­si­schen Jeu­nesse dorée – das heutige Russ­land ist tief mit Europa ver­floch­ten. Heute leben Hun­dert­tau­sende rus­si­scher Bürger per­ma­nent oder zeit­wei­lig in Europa, und jähr­lich werden es mehr. Während Putin alles daran setzt, das demo­kra­ti­sche Europa zu desta­bi­li­sie­ren, ist er zugleich auf die öko­no­mi­sche Ver­flech­tung mit Europa ange­wie­sen, um sein Regime an der Macht zu halten.

Mehr Selbst­be­wusst­sein, bitte!

Daraus ließe sich eine selbst­be­wusste Politik der EU gegen­über Moskau ablei­ten. Davon ist aller­dings wenig zu sehen. Gerade in Deutsch­land scheint die Über­zeu­gung zu über­wie­gen, dass Russ­land am län­ge­ren Hebel sitzt. Die Stärke des Putin-Regimes wird ten­den­zi­ell über­schätzt. Ent­spre­chend fiel es vielen Kon­fe­renz­teil­neh­mern nicht leicht, Erfolge des Westens gegen­über Russ­land zu finden. Oft gewür­digt wurde die Tat­sa­che, dass es Bun­des­kanz­le­rin Angela Merkel gelun­gen ist, die wegen der Krim-Anne­xion und des Ein­falls in der Ost­ukraine 2014 ver­häng­ten EU-Sank­tio­nen auf­recht zu halten.

Aber: Seit 2016 ist der Effekt der Sank­tio­nen weit­ge­hend ver­pufft, die rus­si­sche Wirt­schaft wächst wieder (wenn auch moderat). Und mehrere Teil­neh­mer warnten, dass der EU-Konsens brö­ckelt, nicht zuletzt dank Putins Ver­bün­de­ten in Europa, die sich in fast allen Ländern finden und in einigen Mit­glieds­staa­ten wie Italien und Öster­reich sogar an der Regie­rung betei­ligt sind.

2018 sei für Putin gar ein annus mira­bi­lis gewesen – also ein aus­ge­spro­che­nes Glücks­jahr. Nicht nur hat er die arran­gierte Wahl zu seiner vierten Amts­zeit gewon­nen, auch eine Reihe von Par­la­ments­wah­len in Europa gingen ganz im Sinne des Kreml­chefs aus. Sie brach­ten teils deut­li­che Zuge­winne für die Rechts­po­pu­lis­ten der ita­lie­ni­sche Lega, der unga­ri­schen Fidesz oder der Schwedendemokraten.

Trans­at­lan­ti­sche Verwerfungen

Beson­ders pes­si­mis­tisch fiel die Analyse der Rolle der USA aus. Zwar hat Washing­ton seine Russ­land-Sank­tio­nen zuletzt ver­schärft, diese wurden aber nicht mehr mit Brüssel koor­di­niert. Die ange­droh­ten Sank­tio­nen gegen die Gas-Pipe­line Nord Stream 2 bergen das Poten­tial neuer Kon­flikte zwi­schen Washing­ton und Berlin. Dieses Projekt wurde ein­hel­lig sehr kri­tisch gesehen: es spaltet die EU, ent­zieht der Ukraine jähr­li­che Mil­li­ar­den­ein­nah­men und macht sie ver­tei­di­gungs­po­li­tisch noch ver­wund­ba­rer als heute. So gerecht­fer­tigt die ame­ri­ka­ni­sche Kritik in der Sache sein mag, so kon­tra­pro­duk­tiv ist aber das uni­la­te­rale Vor­ge­hen Washing­tons (die Bun­des­re­gie­rung handelt hier aller­dings nicht weniger unilateral).

Das Miss­trauen in die Trump-Admi­nis­tra­tion geht inzwi­schen so weit, dass sogar ein NATO-Aus­tritt der USA für möglich gehal­ten wird. Für Europa wäre das ein stra­te­gi­sches Desas­ter, für Putin die Erfül­lung des Traums vom Ende der trans­at­lan­ti­schen Allianz.

An eine stra­te­gisch ange­legte ame­ri­ka­nisch-euro­päi­sche Zusam­men­ar­beit gegen­über Russ­land mag gegen­wär­tig niemand glauben. Zwar hat Trump in der Regie­rung und im Kon­gress viele Gegner. Aus Washing­ton solle man in Zukunft aber eher mehr als weniger Chaos erwar­ten, so die Meinung einer pro­mi­nen­ten US-Teilnehmerin.

Ange­sichts dieser Situa­tion ist es wahr­schein­lich, dass der Kreml sein Augen­merk auf das zer­strit­tene Europa legt: „Putin ist kein Schach­spie­ler, sondern Judoka. Er wird ver­su­chen, seinen Gegner unter Einsatz aller Mittel aus dem Gleich­ge­wicht zu bringen“, erklärte ein rus­si­scher Teil­neh­mer und fügte warnend hinzu: „Um im Judo zu gewin­nen, muss man schnell sein und darf nicht auf die Attacke des Gegners warten.“

Euro­päi­sche Russ­land­po­li­tik statt deut­scher Sonderweg

Trotz alledem gibt es auch Licht­bli­cke. In Russ­land deuten die jüngs­ten Wahl- und Umfra­ge­er­geb­nisse auf eine Schwä­chung des „Putin-Kon­sen­sus“. So haben bei den Gou­ver­neurs­wah­len im Herbst 2018 in vier Regio­nen die Kan­di­da­ten des Kremls ver­lo­ren. Mei­nungs­for­scher sagen, dass die kost­spie­lige Außen­po­li­tik von den Bürgern zuneh­mend als Bürde gesehen wird. Bür­ger­pro­teste gegen soziale oder öko­lo­gi­sche Miss­stände werden als Zeichen einer aktiven Zivil­ge­sell­schaft gedeutet.

In der jün­ge­ren Gene­ra­tion bahnt sich ein Wer­te­wan­del an – trotz aller Pro­pa­ganda vom „eigenen Weg Russ­lands“ ver­steht sich die Mehr­heit der jungen Leute (zumin­dest in den grö­ße­ren Städten) als Euro­päer und sucht Anschluss an einen moder­nen Lebens­stil. Der anste­hende Gene­ra­tio­nen­wech­sel in Politik und Wirt­schaft eröff­net neue Chancen für eine Annä­he­rung zwi­schen Russ­land und dem Westen. Deshalb sollte alles getan werden, um die Her­aus­bil­dung einer demo­kra­ti­schen Zivil­ge­sell­schaft in Russ­land zu unterstützen.

Ein wirk­sa­mer Hebel könnte die Finan­zie­rung eines rus­sisch­spra­chi­gen Fern­seh­pro­gramms durch die EU sein, das eine Alter­na­tive zur Kreml-Pro­pa­ganda bietet.

Dennoch: Ein bal­di­ges Ende des „Systems Putin“ wollte auf dieser Kon­fe­renz niemand vorhersagen.

Ein Grund mehr, um für eine gemein­same euro­päi­sche Politik zu werben. Denn eigent­lich sind die Chancen der Euro­päi­schen Union, einen starken Gegen­pol zu Moskau zu bilden, nicht schlecht. Mehr als 500 Mil­lio­nen Bürger (nach einem Aus­tritt Groß­bri­tan­ni­ens wären es noch 446 Mil­lio­nen), die in Frei­heit und einer immer noch pro­spe­rie­ren­den Wirt­schafts­ord­nung leben, sind eine Kraft, die man nicht unter­schät­zen sollte. Wenn, ja, wenn sie außen­po­li­tisch mit einer Stimme spre­chen, wie ein erfah­re­ner deut­scher Außen­po­li­ti­ker bemerkte.

Wohl eine gute Aufgabe für die Bun­des­re­gie­rung und die deut­sche Außen­po­li­tik, wie ein pol­ni­scher Teil­neh­mer fand: Deutsch­lands Mission dürfe heute nicht sein, eine Son­der­be­zie­hung mit Russ­land zu unter­hal­ten, sondern die EU zusam­men­zu­hal­ten und ihr zu ermög­li­chen, ein „Global Player“ zu werden.

Anmer­kung: Die Kon­fe­renz fand unter Chatham House Rules statt. Dis­kus­si­ons­bei­träge wurden deshalb nicht per­sön­lich zugeordnet.

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