„Staat­li­che Gewalt ist die Antwort auf alles“

Drei Schwes­tern, ein Vater­mord: Eine brutale Tat lässt Russ­land über häus­li­che Gewalt dis­ku­tie­ren. Die Pro­bleme liegen tiefer.

Die Poli­zis­ten schlei­fen einen Mann über die Erde, ihre Gesich­ter sind hinter schwar­zen Masken ver­steckt, sie holen mit den Schlag­stö­cken aus und dre­schen auf den Mann ein. In der Ferne taumelt eine Frau, Blut läuft ihr übers Gesicht, den Kopf hat sie not­dürf­tig mit einem Verband ver­bun­den. Ein rus­si­scher Natio­nal­gar­dist erzählt später: „Ich habe kein Mitleid mit solchen Leuten. Sie haben uns pro­vo­ziert.“ Er wählt dieses Wort, „pro­vo­ziert“, nachdem die Men­schen in Moskau in den ver­gan­ge­nen Wochen auf die Straße gegan­gen sind, um ihren Unmut über die bestehen­den Ver­hält­nis­sen fried­lich aus­zu­drü­cken.

Portrait von Inna Hartwich

Inna Hart­wich ist freie Jour­na­lis­tin und lebt in Moskau.

Woan­ders: Eine Frau ruft ver­zwei­felt bei der Polizei an, sie fühlt sich durch ihren Ex-Partner bedroht. Schon oft habe er sie geschla­gen, erzählt sie der Streife, die schließ­lich bei ihr vor­bei­kommt, ihre Aussage auf­nimmt und wieder abfährt. Die Frau fleht, den aggres­si­ven Ex-Partner aus dem Haus zu nehmen (einen Platz­ver­weis gibt es in Russ­land nicht), sie fragt: „Was werden Sie tun, wenn er mich umbringt?“ Die Poli­zis­tin: „Wir kommen und beschrei­ben die Leiche. Machen Sie sich keine Sorgen.“ Kurze Zeit später stirbt die Frau infolge von Fuß­trit­ten ihres Ex-Partners.

Die Pro­teste in Moskau in den ver­gan­ge­nen Wochen und der Fall der 2016 zu Tode geprü­gel­ten Jana Sawtschuk aus der zen­tral­rus­si­schen Stadt Orjol (die Strei­fen­po­li­zis­tin von damals wurde in diesen Tagen wegen Fahr­läs­sig­keit zu zwei Jahren Haft ver­ur­teilt) hängen für Anna Riwina eng zusam­men, mögen sie noch so unter­schied­lich anmuten: „In Russ­land herrscht das Recht des Stär­ke­ren. Der Staat setzt es stets ein. Poli­zis­ten schla­gen auf fried­li­che Demons­tran­ten ein, treten sie zu Boden, die Justiz bringt die Men­schen mit fabri­zier­ten Ver­fah­ren ins Gefäng­nis. Zu Hause in den Fami­lien funk­tio­niert das Prinzip ähnlich: Der Stär­kere haut zu, wenn in seinen Augen seine Regeln miss­ach­tet werden“, sagt die 32-Jährige, die vor vier Jahren das Online-Projekt nasiliu.net (Keine Gewalt) star­tete, „weil ich ver­stand, dass es jeden treffen kann und weil ich die Infor­ma­tio­nen bündeln wollte, um den Opfern häus­li­cher Gewalt zu helfen“. Das Portal bietet Sta­tis­ti­ken zu Gewalt in Fami­lien, ver­weist auf Kri­sen­zen­tren und Anwälte. Die Mini-Orga­ni­sa­tion ist mitt­ler­weile zur ersten Adresse in Russ­land gewor­den, wenn es um häus­li­che Gewalt geht – einem Begriff, der in der rus­si­schen Gesetz­ge­bung nicht genauer defi­niert ist.

„Sie sind unser aller Schwestern“

Die Prügel daheim werden oft als Fami­li­en­an­ge­le­gen­heit ange­se­hen. Die Men­schen werden mit Sätzen wie „Trag‘ dein Inneres nicht nach außen“ oder „Wenn er schlägt, dann liebt er“, die direkt aus dem Mit­tel­al­ter zu kommen schei­nen, erzogen. Das prägt und macht All­ge­gen­wär­ti­ges zu einem Tabu. Doch plötz­lich redet das Land über häus­li­che Gewalt, es stellt Ste­reo­type in Frage, übt sich in Soli­da­ri­tät mit drei jungen Frauen, die – jah­re­lan­gen Miss­hand­lun­gen und sexu­el­lem Miss­brauch durch den eigenen Vater aus­ge­setzt – eines Tages auf diesen Vater ein­sta­chen und ein­häm­mer­ten, bis dieser sich nicht mehr rührte. 36 Stiche zählten die Ermitt­ler später. „Es ging um ihr Leben oder seines“, hieß es nach der scho­ckie­ren­den Tat von Moskau, die die Frage auf­wirft: Was ist geplan­ter, gemein­schaft­lich began­ge­ner Mord und was ist Notwehr? Anna Riwina sagt: „Sie sind unser aller Schwestern.“

Die Schwes­tern Maria, Ange­lina und Kris­tina Chat­scha­tur­jan, zur Tatzeit 17, 18 und 19 Jahre alt, sind nach dem Vater­mord zu einem Symbol eines Systems gewor­den, das häus­li­che Gewalt ver­harm­lost. Men­schen gehen für die drei Schwes­tern auf die Straße, sie legen Blumen vor der Gene­ral­staats­an­walt­schaft in Moskau ab, geben Thea­ter­stü­cke und Kon­zerte für die Teen­ager, die unter Auf­la­gen und ohne jeden Kontakt zuein­an­der seit mehr als einem Jahr auf ihre Ver­hand­lung warten. 20 Jahre drohen ihnen, wegen „Ver­ab­re­dung zum Mord“. Ver­mut­lich wegen starken Drucks von außen könnte das Straf­ver­fah­ren aller­dings schon bald fallen gelas­sen werden. Ein Anwalt der Schwes­tern sagte in diesen Tagen, die Ermitt­ler hätten bestä­tigt, dass Maria, Ange­lina und Kres­tina von ihrem gewalt­tä­ti­gen Vater Michail jah­re­lang miss­braucht worden seien und kör­per­li­che wie psy­chi­sche Schäden davon­ge­tra­gen hätten. Aus Angst um ihr Leben hätten die Schwes­tern in Notwehr gehan­delt. Für diese Deutung hatten sich die Ver­tei­di­ger der jungen Frauen und zahl­rei­che Unter­stüt­zer aus der Zivil­ge­sell­schaft von Anfang an ein­ge­setzt. Kommt es zur Ein­stel­lung der Anklage, wäre das ein starkes Zeichen in einem Land, in dem Klapse zur Erzie­hung von Kindern gehören.

Erst im Früh­jahr 2017 hatte das rus­si­sche Par­la­ment ein Gesetz zur „Ent­kri­mi­na­li­sie­rung von Prügeln in der Familie“ ver­ab­schie­det und dadurch die Straf­lo­sig­keit auf Seiten der Männer und die Hilf­lo­sig­keit auf Seiten der Frauen ver­stärkt. Häus­li­che Gewalt ist dadurch nur noch eine Ord­nungs­wid­rig­keit und wird mit einem Bußgeld von durch­schnitt­lich umge­rech­net 70 Euro geahn­det. Zuvor drohten zwei Jahre Haft. Begrün­det wurde das Gesetz mit „tra­di­tio­nel­len Werten“, etwa Züch­ti­gungs­rech­ten des Vaters. „Wir wollen nicht, dass man zwei Jahre im Gefäng­nis sitzt, nur weil es einmal einen Klaps gegeben hat“, hatte damals Jelena Misu­lina, die Fami­li­en­aus­schuss-Vor­sit­zende des Par­la­ments, gesagt. Das führe zur Ver­schlech­te­rung des Fami­li­en­kli­mas und sei deshalb ein fami­li­en­feind­li­cher Akt.

In Russ­land werden jedes Jahr 12.000 Frauen getötet – von Verwandten

Der Fall Chat­scha­tur­jan führt den Russen vor Augen, dass das Problem häus­li­cher Gewalt all­täg­lich ist und aller­lei Fahr­läs­sig­kei­ten pas­sie­ren, weil eine Metho­dik fehlt, die beschreibt, wie man sich in solchen Fällen zu ver­hal­ten hat. Selbst der Polizei sind durch das schwam­mige Gesetz zur Ent­kri­mi­na­li­sie­rung häus­li­cher Gewalt oft die Hände gebun­den. Die Schwes­tern Chat­scha­tur­jan wandten sich an die Behör­den, doch nichts pas­sierte. Selbst als sie länger in der Schule fehlten und die Schul­lei­tung das Jugend­amt infor­mierte, geschah nichts. Jah­re­lang blieb das Mar­ty­rium der Schwes­tern ver­bor­gen, obwohl die Nach­barn oft Schreie hörten und sich vom Vater eben­falls ter­ro­ri­siert fühlten. Die Ehefrau und seinen Erst­ge­bo­re­nen hatte der Waf­fen­narr mit kri­mi­nel­lem Hin­ter­grund bereits vor Jahren aus der gemein­sa­men Wohnung geworfen.

„Staat­li­che Gewalt ist die Antwort auf alles. Das mensch­li­che Leben, die Würde eines Men­schen sind bei uns oft keine durch­dach­ten Begriffe“, sagt Anna Riwina von Nasiliu. Offi­zi­el­len Angaben zufolge (aus dem Jahr 2013, aktu­el­lere Zahlen liegen nicht vor) werden in Russ­land jedes Jahr 12.000 Frauen von Ver­wand­ten getötet, jede Drei­vier­tel­stunde eine. 26.000 Kinder werden täglich von ihren Eltern miss­han­delt. Fast 80 Prozent aller wegen Mordes ver­ur­teil­ten Frauen im Land, so heißt es in einer Unter­su­chung des Online-Portals „Media­zona“, seien zuvor von gewalt­tä­ti­gen Part­nern miss­han­delt worden. Vor Kurzem erst hatte der Euro­päi­sche Gerichts­hof für Men­schen­rechte Russ­land gerügt, über unge­nü­gende Mecha­nis­men zum Schutz vor häus­li­cher Gewalt zu ver­fü­gen. Die Regie­rung in Moskau, so sahen es die Richter in Straß­burg, erkenne die Ernst­haf­tig­keit des Pro­blems nicht an. Der Chat­scha­tur­jan-Fall zeigt in gewis­ser Weise, dass Schläge auf den Hin­ter­kopf von Kindern nicht normal sind. Die rus­si­sche Gesell­schaft erkennt das nur sehr langsam an.

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