Was hat der Krieg in Gaza mit Europa und dem Westen zu tun?

Wer den Krieg gegen die Hamas nur als eine Art Endkampf zwischen Israel und den Islamisten in Gaza ansieht, verkennt die neuen geopoli­tischen Realitäten. Der Westen sollte auf eine neue Achse von Mächten vorbereitet sein. Eine Analyse von Richard C. Schneider.

Über den aktuellen Krieg in Gaza ist schon viel geschrieben worden. Inwiefern er moralisch berechtigt ist, wie „verhält­nis­mäßig“ er ist, ob Israel einen Genozid begeht oder nicht, wie und ob man das Leid der palästi­nen­sischen Bevölkerung verhindern kann oder nicht – all diese Fragen mögen hier einmal bewusst beiseit­egeschoben werden. Eine ganz andere soll hier gestellt werden.

Führt Israel einen Stellvertreterkrieg für die westliche Welt?

Premier Benjamin Netanyahu erklärte vor allem zu Beginn des Krieges immer wieder, Israel würde in Gaza einen Stellvertreterkrieg für Europa und die gesamte westliche Welt führen. Niemand wollte das so richtig hören, geschweige denn glauben. Kann es sein, dass „Bibi“ vielleicht recht hatte?

Tatsache ist, dass Israel den wohl schwierigsten Häuserkampf in der Geschichte des Krieges führt. Selbst US-Generäle, die den Angriff auf Mossul gegen den IS – den bis dato schwierigsten und blutigsten Häuserkampf – befehligt und anfänglich die israelische Armee beraten haben, sagen heute, dass Israels Krieg weitaus komplexer ist als der gegen den IS. Denn die israelische Armee kämpft auf zwei Ebenen: Auf den Straßen, aber auch unterirdisch, im Tunnel­net­zwerk der Hamas. Dieser Krieg gibt einen Vorgeschmack auf das, womit in Zeiten asymmetrischer Kriege jede Armee konfron­tiert sein kann.

Israels Krieg gegen die Hamas: Was sieht das größere Bild aus?

Aber mehr noch: wer diesen Krieg nur als eine Art Endkampf zwischen Israel und den Islamisten in Gaza ansieht, hat nicht das größere Bild vor Augen. Auf der untersten Ebene kämpfen tatsächlich Israelis gegen die Hamas. Doch auch die Proxies des Iran beteiligen sich längst an diesem Krieg: die Hizbollah, der sogenannte „schiitische Wider­stand“ in Syrien und Irak und die Huthis im Jemen. Gegen diese Gruppen sind inzwischen die USA, die Briten und sogar die Deutschen (mit der Fregatte „Hessen“ im Roten Meer) aktiv. Die USA „kämpft“ indirekt bereits auch gegen die Hizbollah, haben sie doch im östlichen Mittelmeer einen Flugzeugträger positioniert – als Warnung und Drohung.

Die Warnung richtet sich nicht nur an die Adresse der Hizbollah, sondern auch an den eigentlichen Drahtzieher und Puppen­spieler: Iran. So gesehen ist es längst eine Auseinan­der­setzung zwischen dem Iran und seinen Proxies gegen Israel und die USA.

Doch auch dies ist noch nicht das vollständige Gesamtbild – es gibt noch eine andere, eine überge­ord­netere Achse, in der Russland eine zentrale Rolle spielt. Dass der Iran und Russland eng kooperieren, ist bekannt. Putin hat von Teheran Drohnen erhalten, die er in der Ukraine einsetzt. In den letzten Wochen hat das iranische Regime rund 400 ballis­tische Kurzstreck­en­raketen an Moskau geliefert, mehr sollen folgen. Putin arbeitet nun auch mit Nord-Korea zusammen. Und er empfängt die Hamas und die Palästi­nen­sische Autonomiebe­hörde in Moskau, um eine mögliche Einheit­sregierung zu vermitteln. Eine Einheit­sregierung der palästi­nen­sischen Fraktionen, die die Spaltung in zwei Herrschafts­bereiche – Hamas in Gaza, Fatah/​Autonomiebehörde im Westjor­danland – aufhebt und die Palästi­nenser wieder mit einer Stimme sprechen lässt.

Eine neue Achse gegen die westliche Welt

Und nun beginnt man vielleicht zu begreifen, dass der nahöstliche Krieg insbesondere die Europäer eine ganze Menge angeht. Vor unseren Augen entwickelt sich im Zeitraffer eine neue politische, vor allem aber militärische Achse: Teheran – Damaskus – Hizbollah – Hamas – Moskau – Pjöngjang. Die neue Achse von Mächten und Playern hat sich gegen die westliche Welt, gegen die Art und Weise, wie wir leben, erhoben. Und: Es steht ihr keine geschlossene Achse Jerusalem – Brüssel – Berlin – London – Frankreich – Rom – Washington gegenüber.

Dass Putin seit langem den sogenannten „Westen“ infil­triert hat, ist ebenfalls bekannt – was das bedeutet, scheint aber in der breiten Bevölkerung noch nicht wirklich angekommen zu sein. Die Einflussnahme auf Wahlen, die direkte finanzielle Unter­stützung populis­tischer Parteien in Europa – all das ist darauf ausgelegt, das westliche System zu unterwandern.

Und Israel ist ein Teil des westlichen Systems. Selbst wenn diejenigen, die gerade „from the river to the sea“ brüllen, dies nicht einsehen wollen, selbst wenn die aktuelle Regierung in Jerusalem das liberal-demokratische System Israels zerstören will. Allerdings nicht, weil Putin das will, sondern weil Premier Netanyahu es aus seinen sehr persön­lichen und ideol­o­gischen Gründen möchte. Der „Twist“ dabei wäre, dass Israel dennoch Teil des Westens bleiben würde. Denn  die überge­ord­neten Inter­essen des jüdischen Staates sind natürlich nicht identisch mit denen Putins oder Ayatollah Khameneis.

„Auch aus einer weltpoli­tischen Perspektive muss man hoffen, dass Israel die Hamas besiegen kann“

Betra­chtet man diesen Krieg aus einer geopoli­tischen, einer weltpoli­tischen Perspektive, muss man geradezu hoffen, dass Israel die Hamas besiegen kann, vielleicht sogar die Hizbollah, falls der Krieg im Norden des Landes, an der Grenze zum Libanon eskalieren sollte. Denn auch das ist eine Realität, die nicht mehr ganz neu ist: Die Islamisten haben Europa im Visier. In den letzten Wochen wurden Anhänger der Hamas in Europa, auch in Deutschland, festgenommen, weil sie Anschläge planten.

Und wer die Ideologie der islamischen Republik Iran kennt und wer weiß, welche Aufgabe die iranischen Revolu­tion­s­garden eigentlich haben – nämlich die Verbre­itung der schiitischen Revolution in die Welt –, der wird schnell begreifen, dass dieses Bestreben zusammen mit Putins sowjetisch-zaris­tischen Großmacht­phan­tasien den Westen zunehmend bedrohen wird. Die NATO und Teile der europäischen Politik haben zumindest begriffen, dass ein Angriff Russlands auf ein NATO-Land (Baltikum) als Möglichkeit und poten­zielle Gefahr ernst zu nehmen ist.

„Die Achse des Westens sollte gewarnt sein“

Der Krieg in der Ukraine und der Krieg in Gaza sind längst ein zusam­menge­höriges Bedro­hungsszenario. Natürlich ändert dies nichts an prinzip­iellen Fragen der Ethik und des Inter­na­tionalen Rechts, dass es einzuhalten gilt. Doch das Problem bei beiden Kriegen ist, dass mindestens einer Seite das Inter­na­tionale Völker- und Kriegsrecht herzlich egal ist. Dass Krieg geführt wird mit allen Mitteln, koste es, was es wolle. Die Hamas und Russland scheren sich nicht um die zivile Bevölkerung. Nicht um die eigene, nicht um die des Feindes. Für sie geht es um alles. Für den Westen (noch) nicht.

Doch je länger der Westen wartet, je länger sich eine echte Vorbere­itung auf ein Worst Case Szenario verzögert, desto eher könnte der Westen in einen Existen­zkampf geraten. Ein Existen­zkampf, in dem das erste Opfer nicht nur die Wahrheit, sondern das Inter­na­tionale Recht ist. Die Achse des Westens sollte gewarnt sein.

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