NARRATIV-CHECK

Was hinter radi­ka­li­sie­renden Botschaften steckt.

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NARRATIV-CHECK

Was hinter radikalisierenden
Botschaften steckt.

Paral­lel­welten
Sonderfall
Incels – von Frau­en­hass bis Terror

von Veronika Kracher

Die Internet-Subkultur der Incels, also „unfrei­willig zölibatär“ lebender Männer, ist geprägt von Frau­en­feind­lich­keit und einer Ideologie der hege­mo­nialen Männ­lich­keit. Incels fühlen sich von Frauen und einer als verweich­licht empfun­denen Gesell­schaft gekränkt. In der > Manos­phere ist die Ablehnung des Gleich­heits­grund­satzes wesent­lich. Die Folge: Hetze gegen LGBTQ bis hin zu Terror­an­schlägen. Die Grund­lagen der Incel-Ideologie aber sind tief in der Gesell­schaft verankert.

Auf Tiktok braucht es durch­schnitt­lich nicht einmal eine halbe Stunde, bis ein männ­li­cher Jugend­li­cher mit > misogynen, anti­fe­mi­nis­ti­schen und LGBTQ-feind­li­chen Inhalten konfron­tiert wird. Dies ergab eine Recherche der Dublin Univer­sity. Wie kommt es dazu? Eine große Zahl Accounts vermit­teln ihren jungen Zuschauern ein dezi­diertes Gesell­schafts­bild, in dem Männer durch die Moderne, Femi­nismus und „Kultur­mar­xismus“ verweich­licht, durch die Auflösung tradi­tio­neller Geschlech­ter­hier­ar­chien verweib­licht und auf diese Weise syste­ma­tisch unter­drückt würden. Die Accounts verspre­chen einen Weg aus diesem Elend – nämlich die > „red pill“ zu schlucken (= jemandem die Augen zu öffnen) und durch die Erkenntnis zu einem domi­nanten, erfolg­rei­chen, chau­vi­nis­ti­schen und hyper­potenten „Alpha“-Mann zu werden. Denn zu diesem fühlten sich Frauen hingezogen.

Das Männ­lich­keits­bild, das von unge­zählten Tiktok‑, Twitter- oder Instagram-Accounts vermit­telt wird, basiert auf der syste­ma­ti­schen Abwertung alles Weib­li­chen und Queeren, und somit von allem, was nicht der hege­mo­nialen Männ­lich­keits­vor­stel­lung entspricht. Dazu gehört auch die Macht­fan­tasie, sich diese Gruppen und Personen zu unter­werfen. Im digitalen Raum der „Manos­phere“ vernetzen sich verschie­dene Anti­fe­mi­nisten und verbreiten das Idealbild der „Alpha“-Männlichkeit. Zur „Manos­phere“ zählen unter anderem Männer­rechtler, „Men going their own way“, die glauben emotio­nale Bindungen zu Frauen würden ihre Mann­wer­dung hemmen und „Pick-Up-Artists“, also selbst­er­nannte Verfüh­rungs­künstler, die sich damit brüsten, Frauen zum Sex zu mani­pu­lieren, wofür sie in teuren Seminaren „Flirt­tricks“ vermitteln.

Die Kränkung des Incel-Mannes durch die Frau

Die aus der Ablehnung durch die Frauen folgende Kränkung wird in der „Manos­phere“ aufge­fangen, und oft folgt der Einstieg in die Incel-Subkultur. Die indi­vi­duell erfahrene Enttäu­schung wird in ein Weltbild einge­bettet, für das die Idee der „black pill“ grund­le­gend ist. Während die „red pill“ die Möglich­keit des Aufstiegs zum „Alpha“-Mann verspricht, steht die „black pill“ für die fata­lis­ti­sche Hoff­nungs­lo­sig­keit in Liebes­dingen scheitern zu müssen. Denn im Selbst­bild der Incels („Invol­un­tary Celibate“), also „unfrei­willig zölibatär“ lebender Männer, verwei­gern Frauen ihnen den Sex, weil sie „Alpha“-Typen, im Incel-Jargon „Chads“, bevor­zugten. Incels selbst betrachten sich als zu unat­traktiv, um von den als ober­fläch­lich ange­se­henen Frauen Beachtung zu erfahren. 

In ihren Foren von bis zu 20.000 Mitglie­dern auf Youtube, Twitter, Reddit oder Tiktok tauschen sie sich über ihre Krän­kungen aus und insze­nieren sich als syste­ma­tisch diskri­mi­niert. Gleich­zeitig wird die Aner­ken­nung durch Frauen und vor allem Sex mit ihnen zu einer geradezu reli­giösen Erfahrung stili­siert, die den Incel von seinem Schicksal erlösen könnte. Doch der extrem misogyne Blick auf Frauen und selbst­be­stimmte weibliche Sexua­lität versperrt ihm einen Umgang mit Frauen, der nicht durch die „black pill“ verzerrt ist. Denn Frauen würden den Incels ihre Sexlo­sig­keit ansehen und sie dafür verhöhnen. Hier wird die eigene Unsi­cher­heit auf Frauen proji­ziert. 

Letzt­end­lich scheitern Incels an den hege­mo­nialen Männ­lich­keits­vor­stel­lungen. Doch statt ebendiese Anfor­de­rungen an Männ­lich­keit zu kriti­sieren, verlagern Incels ihren Frust auf das Feindbild Frau. Und so mündet die vermeint­liche Kränkung immer wieder in Gewalt gegen Frauen: Sie reicht von Belei­di­gungen und sprach­li­cher Abwertung über sexua­li­sierte Gewalt bis hin zum Terro­rismus. Attentate aus dem Incel-Umfeld wie in Santa Barbara (2014), Toronto (2018) oder Plymouth (2021) haben inzwi­schen über 60 Leben gekostet; die Täter werden in ihrer Community als Helden verehrt, denen es nach­zu­ei­fern gilt.

Nicht nur Sache einer Subkultur 

In Mani­festen oder Postings der Täter finden sich die immer gleichen Motive: die Kränkung durch Frauen, die ihnen verwei­gert hätten, was ihnen zustehe (eine Beziehung, Sex). Und dafür müssten sie bestraft werden. Sexlo­sig­keit bedeutet für Incels Demü­ti­gung und Scheitern an Männ­lich­keits­idealen. Gewalt dient in dieser Logik der Wieder­gut­ma­chung. Und zu Ende gedacht: Die „Incel Rebellion“ hat eine Gesell­schaft absoluter patri­ar­chaler Herr­schaft zum Ziel, in der Frauen dem Mann unter­wor­fene Sexskla­vinnen sind und queere Menschen nicht existieren.

Das Anspruchs­denken, das sich durch Incel-Foren und Manifeste zieht, ist aber nicht nur Sache dieser Subkultur. Es ist inte­graler Bestand­teil des Patri­ar­chats. Aus diesem Denken heraus begangene Gewalt von Verge­wal­ti­gungen bis zum Femizid sind auch in Deutsch­land Alltag für Frauen und Mädchen. Anti­fe­mi­nismus und die radikale und teilweise gewalt­same Ablehnung des Gleich­heits­grund­satzes sind in verschie­denen Szenen auf dem Vormarsch, auch in einer Partei wie der AfD, die bei jungen Männern besonders populär ist. Die Incel-Ideologie ist damit keine Ausnah­me­erschei­nung mehr, sondern in einer sich etablie­renden reak­tio­nären Geschlecht­er­ord­nung verankert.

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Veronika Kracher ist Jour­na­listin und Autorin. Sie forscht zu Incel-Subkultur, Anti­fe­mi­nismus, Rechts­extre­mismus und Online-Radikalisierung.

GLOSSAR

Manos­phere
ist ein loses frau­en­feind­li­ches und anti­fe­mi­nis­ti­sches Netzwerk aus Inter­net­foren, Blogs und verschie­denen Akteuren der sozialen Medien unter­schied­li­cher ideo­lo­gi­scher Rich­tungen. Zur Manos­phere zählen u.a. Rechts­extre­misten, Teile der US-ameri­ka­ni­schen Alt-Right, Incels, Männer­rechtler oder „Pick-Up-Artists“. Sie alle verbindet die Förderung bestimmter Formen von (hege­mo­nialer) Männ­lich­keit bis hin zur radikalen, gewalt­samen oder orga­ni­sierten > Misogynie.
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Misogynie
bedeutet Frau­en­hass und beschreibt die Annahme einer grund­sätz­li­chen Minder­wer­tig­keit von Frauen. Neben der konkreten Abwertung bezeichnet der Begriff zunehmend die struk­tu­relle Entwer­tung oder Benach­tei­li­gung von Weib­lich­keit. Misogynie weist Frauen und weiblich gelesenen Personen eine unter­ge­ord­nete Position und einen einge­schränkten Zugang zu Macht zu und ist eng verknüpft mit weiteren Formen der Frau­en­feind­lich­keit wie Sexismus, Anti­fe­mi­nismus oder Antigenderismus.
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Red pill, „rote Pille“
ist eine Metapher, die unter Rechts­extremen, Verschwö­rungs­gläu­bigen und > misogynen Akti­vis­tinnen und Akti­visten genutzt wird. Sie ist eine Referenz auf den Film Matrix, in dem der Prot­ago­nist sich zwischen einer roten und blauen Pille entscheiden soll – und damit zwischen dem Erkennen der „Wirk­lich­keit“ und dem Verbleib in der Schein­welt. Die Idee, nach der die Mensch­heit im Dämmer­schlaf gehalten werde und sich in „Erwachte“ und „Schlaf­schafe“ scheide, ist insbe­son­dere in verschwö­rungs­ideo­lo­gi­schen Kreisen verbreitet.
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