Völkermord in der Ukraine und deutsche histo­rische Verantwortung

Foto: Imago Images

Offener Brief an Bundes­re­gierung und Bundestag: Die russische Kriegs­führung erfüllt die zentralen Merkmale eines Völker­mords. Deutschland muss seiner „Respon­si­bility to Protect“ nachkommen.

Sehr geehrte Damen und Herren,

wir bitten um Ihre Aufmerk­samkeit für den Brief, den renom­mierte Historiker/​innen, Völker­rechtler und Personen des öffent­lichen Lebens an den Bundestag und die Bundes­re­gierung gerichtet haben.

Als Antwort auf die Verbrechen des Natio­nal­so­zia­lismus einigte sich die Staaten­ge­mein­schaft 1948 auf eine Konvention zur „Prevention and Punishment of Genocide“. Die Konvention verpflichtet die Staaten­ge­mein­schaft zum präven­tiven Handeln, um die Gefahr eines Völker­mords abzuwenden und die bedrohte Zivil­be­völ­kerung zu schützen.

Gegen­wärtig findet vor unseren Augen ein Vernich­tungs­krieg gegen die Ukraine statt, der alle Merkmale eines Völker­mords aufweist.

Die Unterzeichner/​innen des Briefs fordern den Deutschen Bundestag und die Bundes­re­gierung auf, ihrer „Respon­si­bility to Protect“ gerecht zu werden.
Darüber hinaus sollten sie sich dafür einsetzen, dass die Verant­wort­lichen für Angriffs­krieg und Völkermord, Kriegs­ver­brechen und Verbrechen gegen die Mensch­lichkeit zur Rechen­schaft gezogen werden.

Welchen Sinn soll das deutsche „Nie wieder“ noch haben, wenn wir nicht alles in unseren Möglich­keiten stehende tun, um den Völkermord in der Ukraine zu stoppen – einem Land, in dem Wehrmacht und SS während des 2. Weltkriegs schreck­liche Verbrechen begangen haben?

Marie­luise Beck & Ralf Fücks

Zentrum Liberale Moderne
Reinhardtstr. 15
10117 Berlin
info@libmod.de
www.libmod.de

Brief an den Deutschen Bundestag und die Bundesregierung

VÖLKERMORD IN DER UKRAINE

Niemand kann sagen, wir hätten es nicht gewusst.

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Abgeordnete,

als Antwort auf die Verbrechen des Natio­nal­so­zia­lismus einigte sich die Staaten­ge­mein­schaft 1948 auf eine Konvention zur „Prevention and Punishment of Genocide“.

Wer in Deutschland ein politi­sches Mandat innehat, hat zugleich eine besondere Verpflichtung, diesen Kern des humani­tären Völker­rechts zu schützen. Welchen Sinn sollte das deutsche „Nie wieder“ sonst haben? Die Vernichtung der europäi­schen Juden und die unfass­baren Verbrechen gegen die slawische Bevöl­kerung in Osteuropa während des Zweiten Weltkriegs begründen eine besondere deutsche Verant­wortung. Nicht umsonst haben sich zu Beginn des russi­schen Angriffs­kriegs ukrai­nisch-jüdische Verbände mit der Bitte um Schutz an Deutschland gewandt.

Heute sind wir mit einem Vernich­tungs­krieg mitten in Europa konfron­tiert, der alle Merkmale eines Völker­mords aufweist.

Artikel II der Völkermord-Konvention der Vereinten Nationen definiert Völkermord als Handlungen, die in der Absicht begangen werden, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören. Die Konvention verpflichtet die Staaten­ge­mein­schaft zum präven­tiven Handeln, um die Gefahr eines Völker­mords abzuwenden und die bedrohte Zivil­be­völ­kerung zu schützen.

Inzwi­schen liegt eine rechts­wis­sen­schaft­liche Studie des renom­mierten Wallenberg Centre for Human Rights und des New Lines Institute for Strategy & Policy[1] vor, die akribisch aufzeigt, dass die russische Krieg­führung die zentralen Merkmale eines inten­dierten Völker­mords trägt:

  • Vernich­tungs­dro­hungen und syste­ma­tische Aufhetzung zu Gewalt­akten gegen die ukrai­nische Zivil­be­völ­kerung durch russische Amtsträger und Staatsmedien
  • Negierung einer eigen­stän­digen natio­nalen Identität der Ukraine
  • Dehuma­ni­sierung und Dämoni­sierung der ukrai­ni­schen Nation („Faschisten“, „Abschaum“, „Bestien“ etc)
  • Massen­tötung (Exekution) von Zivilisten
  • Gezielte Angriffe gegen Schutz­räume (etwa im Theater von Mariupol) und Flucht­routen der Zivilbevölkerung
  • Bombar­dierung reiner Wohnquar­tiere mit schwerer Artil­lerie, Raketen und Luftangriffen
  • Gezielte Zerstörung lebens­er­hal­tender ziviler Infra­struk­turen (Kranken­häuser, Energie- und Wasserversorgung
  • Abschneiden humani­tärer Korridore belagerter Städte
  • Angriffe auf die Lebens­mit­tel­ver­sorgung der Bevölkerung
  • Vielfache straflose Verge­wal­ti­gungen und andere Formen sexueller Gewalt
  • Depor­tation von mehr als einer Million Ukrainer/​innen aus den besetzten Gebieten nach Russland, darunter ca. 200.000 Kinder (manche Angaben liegen noch weit höher)
  • Syste­ma­tische Verbannung der ukrai­ni­schen Kultur und Sprache in den von Russland besetzten Gebieten („Deukrai­ni­sierung“).

Wir fordern den Deutschen Bundestag und die Bundes­re­gierung auf, ihrer „Respon­si­bility to Protect“ gerecht zu werden. Das heißt, alles in unseren Möglich­keiten Stehende zu tun, um die Selbst­ver­tei­digung der Ukraine zu stärken, einschließlich der konti­nu­ier­lichen Lieferung schwerer Waffen, und den russi­schen Vernich­tungs­krieg zu stoppen.

Angesichts der enthemmten Gewalt der russi­schen Besat­zungs­macht verbietet sich jede Speku­lation auf einen „terri­to­rialen Kompromiss“, der Russland die Herrschaft über die eroberten Gebiete überlässt. Es wäre ein Sargnagel für das Völker­recht und die europäische Sicher­heits­ordnung, wenn eine gewaltsame Grenz­ver­schiebung als Folge eines Aggres­si­ons­kriegs und massive Kriegs­ver­brechen de facto hinge­nommen würden.

Wir fordern Bundes­re­gierung und Bundestag darüber hinaus auf, die Beweis­si­cherung und Ahndung der von Russland began­genen Gewalt­taten personell und finan­ziell zu unterstützen.

Die Verant­wort­lichen für Angriffs­krieg und Völkermord, Kriegs­ver­brechen und Verbrechen gegen die Mensch­lichkeit müssen zur Rechen­schaft gezogen werden.

Unterzeichner/​innen:

Prof. Timothy Garton Ash
Marie­luise Beck
Volker Beck
Prof. Jan Claas Behrends
Prof. Wolfgang Eichwede
Ian McEwan
Ralf Fücks
Remko Leemhuis
Prof. Otto Luchterhandt
Prof. Georg Milbradt
Prof. Tanja Penter
Anne Rubesame
Irina Scherbakowa
Prof. Karl Schlögel
Prof. Martin Schulze Wessel
Prof. Timothy Snyder
Prof. Christian Tomuschat


[1] An Independent Legal Analysis of the Russian Federation’s Breaches of the Genocide Convention in Ukraine and the Duty to Prevent, May 2022