NARRATIV-CHECK

Was hinter radika­li­sie­renden Botschaften steckt.

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NARRATIV-CHECK

Was hinter radikalisierenden
Botschaften steckt.

Paral­lel­welten
Im Fokus
Freilerner zwischen alter­na­tiver Bildung
und „System­aus­stieg“

von Matthias Pöhlmann

Als Folge der Pandemie verstärkte sich Kritik am herkömm­lichen Schul­system und der Wunsch nach alter­na­tiven Lernformen. Das freie Lernen abseits des Curri­culums ist in Deutschland aller­dings nicht erlaubt. In der Freilerner-Szene verbindet sich die Ablehnung staat­licher Bildung oft mit ausge­prägten Ressen­ti­ments gegen eine angeb­liche „Indok­tri­nierung“ durch den Staat – antide­mo­kra­tische Akteure knüpfen daran mit rechts­extremen Ideologien an.

Unsere Kinder und vor allem ihre Söhne und Töchter werden diese ganzen noch geltenden gemachten Systeme in keiner Weise mehr brauchen, weil ihnen Natur­gesetze reichen werden. (…) 98 % unserer Kinder werden hochbegabt geboren, nach der Schule sind es nur noch 2 %. Das ist ein belegter Fakt. Unsere Kinder sollen Genies bleiben!“ Dies verbreitete 2021 die School of Bliss, eine Initiative, die sich dem freien Lernen widmet. Immer wieder gibt es Bemühungen, Konzepte des Freilernens in eigenen Struk­turen umzusetzen: illegale Schulen, an denen Schamanen oder aus „dem System“ ausge­stiegene Lehrkräfte tätig sind, Pläne aus dem Reichs­bürger-Milieu für eine „Bewegte Natur­schule“ oder recht­se­so­te­rische „Lerngruppen“ mit Querdenken-Bezug.

Ricardo Leppe, Gedächt­nis­trainer und Berufs­zau­berer, ist mit seinem Telegram-Kanal > Wissen­Schafft­Freiheit mit fast 42.000 Abonnenten ein bekannter Akteur der Szene und gilt dort als „Bildungs­experte“. In seinem gleich­na­migen Verein entwi­ckelt er „alter­native Lernme­thoden für Kinder“. Kritiker werfen ihm eine Nähe zu Antise­mi­tismus und recht­se­so­te­ri­schen Ideologien vor. Sein Engagement ist von starkem Misstrauen gegenüber dem staat­lichen Bildungs­system geprägt: „Beinahe alle Schulen arbeiten gegen Kinder und das, was sie in diesem Alter brauchen“, postu­liert er auf seiner Webseite.

Das deutsche Schul­system und „Freies Lernen“

In Deutschland besteht die gesetz­liche Schul­pflicht bis zum 18. Lebensjahr. Darüber hinaus besteht die Pflicht zur Berufs­aus­bildung, falls nicht eine allge­meine Schule besucht wird. Neben staat­lichen Schulen können auch Privat- und Weltan­schau­ungs­schulen wie Waldorf­schulen genehmigt werden. Davon unter­scheidet sich das in Deutschland illegale freie Lernen oder Unschooling: Hier werden Kinder von Eltern oder Lernbe­gleitern abseits des staat­lichen Curri­culums betreut. Das Lernen soll sich, so die Idee, mit wenig struk­tu­rellen Vorgaben an der „natür­lichen“ Entwicklung des Kindes orien­tieren – wie das Erlernen des Sprechens oder Laufens.

Rechts­ideo­lo­gische Anknüpfungspunkte

Die Motive, sich vom staat­lichen Schul­system ab- und alter­na­tiven Konzepten zuzuwenden, sind unter­schiedlich. Neben Negativ­erfah­rungen mit dem herkömm­lichen Bildungs­system steht oft die Erwartung einer indivi­du­ellen Förderung der als hochbegabt oder übersen­sibel empfun­denen Kinder im Vorder­grund. Vor allem seit der Pandemie bemühen sich zahlreiche rechte Akteure, an der Kritik und den Sorgen von Eltern anzuknüpfen und diese für eigene Zwecke zu instru­men­ta­li­sieren. Sie zeichnen ein Zerrbild vom staat­lichen Schul­system, um das alter­native Lernen in besonders leuch­tenden Farben vorzu­führen. Gegen den am staat­lichen Curri­culum orien­tierten Unter­richt wird vorge­bracht, dass dessen Inhalte nicht relevant seien oder Begabungen nicht ganzheitlich gefördert würden. Es gibt an Bildungs­po­litik und Schul­un­ter­richt berech­tigte Kritik, aber die Vorteile staat­licher Schulen werden bewusst übergangen – dazu zählen vor allem ihre sozial­in­te­grative und demokra­tie­för­dernde Kraft.

Das starke Misstrauen gegenüber staat­licher Bildungs­po­litik geht bei vielen Freilerner-Angeboten einher mit Verschwö­rungs­theorien, Schwarz-Weiß-Denken und Feind­bildern. Der Tenor: Kinder als Inbegriff der Unschuld müssten vor einem übergrif­figen und indok­tri­nie­renden Staat geschützt werden. An die Stelle des abgelehnten Curri­culums treten „alter­native Wahrheiten“: Als Wissens­grundlage für Konzepte wie „natürlich gebären“ und „natürlich leben“ dient Verfechtern des Freilernens wie Ricardo Leppe beispiels­weise die antise­mi­tische, rassis­tische und frauen­feind­liche > Anastasia-Buchreihe (s. auch Artikel „Anastasia: Rechts­extreme im esote­ri­schen Gewand“). Zum Thema Impfen verweist Leppe auf Ideen der gesund­heits­ge­fähr­denden und völki­schen > „Germa­ni­schen Neuen Medizin“.

Festzu­halten bleibt: Alter­na­tives Lernen kann ein Einfallstor für Ideologien und Initia­tiven sein, die rechts­extremen „System­aus­steigern“ und antide­mo­kra­ti­schem, wissen­schafts­feind­lichem und verschwö­rungs­ideo­lo­gi­schem Gedan­kengut nahe stehen. Regel­ge­leitete und trans­pa­rente Lehrpläne staat­licher Schulen hingegen tragen dazu bei, Heran­wach­sende vor diesen Einflüssen zu schützen.

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Matthias Pöhlmann, Dr. theol. habil., Kirchenrat, ist Beauf­tragter für Sekten- und Welt­anschauungsfragen der Evange­lisch-Luthe­ri­schen Kirche in Bayern.

GLOSSAR

Anastasia-Buchreihe und ‑Bewegung
„Anastasia“ ist eine fiktive Buchreihe des russi­schen Autors Wladimir Megre, die ab 1996 erschienen ist. Sie handelt von der fiktiven Person Anastasia, die abseits der Zivili­sation und in geistiger Verbindung mit Natur und Kosmos in der Taiga lebt. Die vom Autor ideali­sierten reaktio­nären Lebens- und Gesell­schafts­ent­würfe mit antise­mi­ti­schen, rassis­ti­schen und frauen­feind­lichen Ansätzen schließen an rechts­extreme Ideologien an. Seit den 1990er Jahren gibt es zahlreiche neure­li­giöse, recht­se­so­te­rische und in Teilen rechts­extreme Bewegungen, die Siedlungen nach dem „Anastasia“-Vorbild errichten.
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Germa­nische Neue Medizin (GNM, Germa­nische Heilkunde)
Unter GNM versteht man pseudo­me­di­zi­nische und gesund­heits­ge­fähr­dende „Behand­lungs­me­thoden“, die von Ryke Geerd Hamer in den 1980er Jahren entwi­ckelt wurden. Eine zentrale Behauptung ist, dass Erkran­kungen wie etwa Krebs ein seeli­scher „Konflikt“ zugrunde liege und die Symptome verschwinden, wenn dieser gelöst sei. Infek­tionen oder Bakterien erfüllten nach Hamer einen höheren Sinn und eine Aufgabe. Eine evidenz­ba­sierte medizi­nische Behandlung wird grund­sätzlich abgelehnt.
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