Ungarns Bezie­hungen zu Russland, der EU und der NATO: Was nach Viktor Orbáns Wiederwahl zu erwarten ist

Photo: Attila Volgyi /​ Imago Images

Nur einen Tag nachdem die ersten Videos des Massakers von Butscha in den sozialen Medien auftauchten, am 3. April 2022, errang das ungarische Bündnis aus FIDESZ und Christ­de­mo­kraten mit 54,10 %, d. h. über 3 Millionen Stimmen, seinen vierten Erdrutschsieg in Folge und behielt seine Zweidrit­tel­mehrheit im Parlament. Damit verschärfte sich für die EU die schwierige Frage, wie sie mit autokra­ti­schen Führern umgehen soll und ob Ungarn seinen politi­schen Draht­seilakt fortsetzen würde, zum einen der EU und der NATO anzuge­hören und zum anderen mit autori­tärer, Putin-freund­licher Politik sich weiter in die Isolation zu begeben.

Wladimir Putin gratu­lierte Viktor Orbán umgehend zu seinem Wahlsieg und zeigte sich nach Angaben des Kremls zuver­sichtlich, dass „die künftige Entwicklung der bilate­ralen und partner­schaft­lichen Bezie­hungen trotz der schwie­rigen inter­na­tio­nalen Lage den Inter­essen der Völker Russlands und Ungarns entsprechen wird“. Und ein weiterer zweifel­hafter Freund, Donald Trump, gab Orbán seinen Zuspruch: „Ich bin dankbar für die fortdau­ernde Freund­schaft und für das beständige Engagement im Kampf für die Ideale, die Sie und ich hochhalten: Freiheit, patrio­ti­scher Stolz und Unabhän­gigkeit.“ Marine Le Pen tweetete: „Wenn das Volk wählt, gewinnt das Volk!“ In seiner Siegesrede machte Orbán eine lange Nase in Richtung der Brüsseler Bürokraten, wetterte gegen George Soros, die inter­na­tio­nalen Mainstream-Medien und sogar gegen den ukrai­ni­schen Präsi­denten Wolodymyr Selenskyj als die „überwäl­ti­genden Kräfte“, gegen die FIDESZ im Wahlkampf hatte kämpfen müssen.

Unter­dessen verschärft sich die Isolation Ungarns innerhalb der EU. Orbáns Haltung zum Krieg in der Ukraine bringt ihn in Distanz zu seinen Amtskol­legen in der Visegrád-Gruppe, die aus der Tsche­chi­schen Republik, Polen, der Slowakei und Ungarn besteht. Selbst sein langjäh­riger Verbün­deter, der Pole Jarosław Kaczyński hat ihn mehrfach heftig kritisiert.

Zwei Tage nach Orbáns Wiederwahl leitete die EU erste Schritte ihres bislang noch nie angewandten Rechts­staats­me­cha­nismus gegen Ungarn ein. Dieser soll verhindern, dass Länder, die die Rechts­staat­lichkeit unter­graben, EU-Gelder missbräuchlich nutzten, so dass dem Land beträcht­liche EU-Mittel vorent­halten werden könnten.

Anti-LGBTQ und Antikrieg

Obwohl die Umfragen vor der Wahl auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen hindeu­teten, schnitt das opposi­tio­nelle Sechs-Parteien-Bündnis (ein sehr breites politi­sches Spektrum von rechts außen über grün bis links-liberal) um 20 % schlechter ab als der Wahlsieger, d. h. es erhielt mit 34,46 % unter 2 Millionen Stimmen. Rund 900.000 Wähler, die 2018 noch für eine der sechs Opposi­ti­ons­par­teien gestimmt hatten, fehlten nun. Einige politische Analysten gehen davon aus, ein Teil von ihnen habe für die rechts­ra­dikale Bewegung Unsere Heimat gestimmt. Letztere konnte mit der Vizeprä­si­dentin Dóra Dúró, die mit dem Schreddern eines LGBTQ Märchen­buches für Schlag­zeilen gesorgt hatte, ins Parlament einziehen.

Auch Minis­ter­prä­sident Viktor Orbán nutzte das Thema, um im Wahlkampf die „tradi­tio­nellen Werte“ zu vertei­digen, und ließ parallel zu den Parla­ments­wahlen ein Referendum über „LGBTQ-Propa­ganda“ abhalten. Was jedoch die meisten Wähle­rinnen und Wähler überzeugt haben dürfte, war Orbáns Narrativ der „strate­gi­schen Gelas­senheit“ und sein Wahlkampf­ver­sprechen, sich aus dem Krieg im Nachbarland heraus­zu­halten, während er die Opposition als kriegs­lüstern und sich selbst als Friedens­stifter darstellte.

Die Haltung der ungari­schen Regierung gegenüber den ukrai­ni­schen Flücht­lingen heute unter­scheidet sich grund­legend von der Haltung des Jahres 2015. „Dieje­nigen, die aus der Ukraine zu uns kommen, kommen an einen freund­lichen Ort“, versi­cherte Orbán nach dem Ausbruch des russisch-ukrai­ni­schen Krieges. Nach Angaben von Außen­mi­nister Péter Szijjártó hat Ungarn bisher 575.000 Personen aus der Ukraine ins Land gelassen und leistet humanitäre Hilfe. In einer Facebook-Live-Schaltung im Anschluss an das Treffen der NATO-Außen­mi­nister am 7. April betonte Szijjártó nachdrücklich, dass Ungarn keine Waffen in die Ukraine liefern und keine Waffen­transfers in die Ukraine über ungari­sches Gebiet zulassen würde.

Ungarns öffent­liche Medien, die sich der Regie­rungs­linie unter­werfen müssen, wurden heftig kriti­siert, weil sie Experten zu Gast hatten, deren Inter­pre­tation der Ereig­nisse in der Ukraine weitest­gehend der Propa­ganda des Kremls entsprach. So wies die Nicht­re­gie­rungs­or­ga­ni­sation Corruption Research Center Budapest darauf hin, dass die Kreml-Nähe auch in der Wortwahl auf der Website des ungari­schen Vertei­di­gungs­mi­nis­te­riums zum Ausdruck komme. Nach ihrer Analyse der Minis­te­riums-Website zwischen dem 24. Februar und dem 10. März neige das Minis­terium dazu, das NATO-Narrativ eines von Russland (Täter) angezet­telten Angriffs­krieges gegen die Ukraine (Opfer) nur dann zu verwenden, wenn es über inter­na­tionale Treffen mit NATO-Partnern berichte. Ansonsten tendiere das Minis­terium dazu, neutrale Begriffe zu verwenden, ohne Russland eindeutig die Verant­wortung für den Krieg zuzuschreiben.

Orbáns Lavieren zwischen Putin und der EU

Da der größte Teil der ungari­schen Gas- und Kernkraft­ver­sorgung von Russland abhängt und die Regierung versprochen hat, die Gasver­sorgung der ungari­schen Haushalte zu garan­tieren, wird Orbáns Antwort auf eine REUTERS-Frage bei seiner inter­na­tio­nalen Presse­kon­ferenz vom 6. April nachvoll­ziehbar: „Wenn Russland dies verlangt, wäre Ungarn bereit, in Rubel zu bezahlen.“ Nachdem der Westen in Reaktion auf den völker­rechts­wid­rigen Überfall aber Wirtschafts­sank­tionen gegen Russland verhängt hat, steht dies jedoch im Wider­spruch zu den Bemühungen der EU, sich geschlossen gegen die Forderung Moskaus zu stellen.

Zugleich betonte Orbán die Bedeutung der ungari­schen EU- und NATO-Mitglied­schaft und erklärte sich bereit, diese Bündnisse im Hinblick auf die Sicherheit und „den Aufbau einer schlag­kräf­tigen Armee“ zu stärken. So wurden kürzlich auch NATO-Truppen nach Ungarn verlegt, um die militä­rische Präsenz an der Ostflanke des Bündnisses zu erhöhen.

Orbán ging am 6. April sogar so weit zu behaupten, „in der gegen­wär­tigen Situation“ stünden „Ungarn und Russland einander gegenüber“ und Russland würde Ungarn als „unfreund­liches Land“ betrachten. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow hatte zuvor eine Liste von Ländern, darunter auch die EU, veröf­fent­licht, die aufgrund der gegen Russland verhängten Wirtschafts­sank­tionen als „unfreundlich“ gelten. Im Weiteren verur­teilte Orbán den Krieg, den „Russland mit dem Angriff auf die Ukraine begonnen hat“, als „Aggression“ und fügte hinzu, Ungarn teile die Haltung der EU. Sein Land habe eine besondere Position „an der Ostgrenze der westlichen Welt“ und sei „kompro­misslos für den Frieden“, da Ungarn „Verant­wortung“ für die 200.000 in der Ukraine lebenden ethni­schen Ungarn trage.

Vor dem Ausbruch des aktuellen Krieges stellten die Rechte der ungari­schen Minderheit in den Unter­kar­paten häufig einen Konflikt­punkt zwischen der Ukraine und Ungarn dar, und es war für Russland laut einiger Beobachter ein Leichtes, im Sinne seiner eigenen Inter­essen leicht ausnutz­bares Thema.

Orbán erklärte auch, dass die Sanktionen und der Druck des Westens seine guten seit 2008 aufge­bauten Kontakte zu Russland zerstören könnten, und dass eine tiefgrei­fende Verän­derung anbahnte, sei es ein neuer Eiserner Vorhang oder reparierbare Schäden. Er erklärte seine Nähe zu Putin als langfris­tiges Ergebnis des Bukarester NATO-Gipfels von 2008, bei dem weder die Ukraine noch Georgien in die NATO aufge­nommen wurden, was Orbán damals heftig kriti­siert hatte. Auch den russi­schen Einmarsch in Georgien hatte er scharf kriti­siert und mit dem Ungarn-Überfall von 1956 verglichen, als sowje­tische Panzer die ungarische Revolution nieder­ge­schlagen hatten.

Orbán: „Damals habe ich verstanden, dass sich die Zeiten ändern. Bis 2008 hatte der Westen de facto an Boden gewonnen, wie die Erwei­terung der NATO zeigte, und 2008 (...) da hätten sie ja dafür stimmen können, die Russen waren auch schwach genug und hätten es akzep­tieren müssen. Doch der Westen beschloss, also wir beschlossen, die beiden Länder nicht aufzu­nehmen. Ich bin damals davon ausge­gangen, dass dies für lange Zeit die Macht­ver­hält­nisse in Europa sein würden. Daran angepasst entwi­ckelten wir eine neue Russland­po­litik. 2009 bin ich auf Präsident Putin zugegangen und (...) habe verstanden, dass Russland ein Teil der europäi­schen Sicher­heits­ar­chi­tektur sein würde, (...) wegen der neuen Grenze, die NATO und Russland vonein­ander trennt. Und zwischen beiden gibt es einige Puffer­staaten, Georgien im Süden, und hier, (…) im Westen Russlands die Ukrainer.“

Die inves­ti­gative Journa­lis­ten­gruppe Direkt 36 beschrieb ausführlich, wie sich seither die persön­lichen und geschäft­lichen Bezie­hungen zwischen Orbán und Putin entwi­ckelt haben. Unter Berufung auf FIDESZ-Quellen berich­teten sie: „Orbán war der Meinung, dass es sinnlos sei, wegen des Georgi­en­krieges Russland gegenüber Härte zu zeigen, wenn die westlichen Länder weiterhin Geschäfte mit Moskau machten. Er schätzte auch, dass die (...) Wirtschafts­krise 2008 zu einer weitrei­chenden geopo­li­ti­schen Verschiebung zugunsten der östlichen Mächte führen würde.“

Das Lavieren wird wohl auch in Zukunft weiter­gehen. Als EU-Kommis­si­ons­chefin Ursula von der Leyen von Chris­tiane Amanpour (CNN) gefragt wurde, wo die rote Linie für die Zugehö­rigkeit zur Staaten­ge­mein­schaft verlaufe, antwortete sie: „Wir müssen klar sein. Bisher haben sich die Ungarn an alle Sanktionen und Maßnahmen gehalten, die wir ergriffen haben, und ich denke, wir sollten ein Land nicht verur­teilen, bevor es nicht zum Beispiel die Regeln gebrochen hat. Meine Aufgabe ist es, die 27 (EU-Mitglieds­länder) zusammenzuhalten.“

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