Israel: Protestieren wie im Militär
Die Proteste in Israel sind weltweit einzigartig: Ausdauer, Ideenreichtum, straffe Organisation – und ein ausgeprägtes staatsbürgerliches Selbstverständnis. Was Deutschland und andere Demokratien von der israelischen Protestbewegung lernen können.
Nichts, aber auch wirklich gar nichts kann mit der Protestbewegung in Israel verglichen werden. Nirgendwo, in keinem Land, gingen jemals mehr Menschen auf die Straße, um ihre Demokratie zu verteidigen als in Israel. Und nirgendwo gingen sie länger auf die Straße. Aktuell demonstrieren Israelis seit 40 Wochen gegen ihre Regierung. Und der Protest wird weitergehen.
Weltweit hat bereits mehr als ein Viertel der israelischen Bevölkerung demonstriert
Nicht nur das: Inzwischen demonstrieren Israelis weltweit gegen ihre Regierung wie beispielsweise in New York, San Francisco, Berlin und vielen anderen Städten und Ländern. Wie Umfragen zeigen, hat inzwischen bereits mehr als ein Viertel der israelischen Bevölkerung demonstriert, das sind rund 2,5 Millionen Bürger.
Ein vergleichbarer Protest ist in Deutschland nicht in Sicht
Auf Deutschland umgelegt, wären das mehr als 20 Millionen Deutsche, die seit mehr als acht Monaten auf die Straße gehen, um… Ja, was? Um die Demokratie zu verteidigen? Hand aufs Herz: das ist kaum vorstellbar. Leider. Die Apathie, die schon jetzt in Deutschland herrscht, ist erschreckend – obwohl die Umfragewerte der AfD und anderer populistischer Parteien steigen. Jüngste Umfragen zeigen, dass inzwischen jeder 12. Deutsche rechtsextremem Gedankengut anhängt, das sind 8 % der Bevölkerung. Vor einigen Jahren waren es noch 2–3 %. Erschreckend? Jein. Denn den Verfall der Demokratie können wir auch in Deutschland schon länger beobachten.
Aber wann werden die Menschen in Deutschland auf die Straße gehen – wenn überhaupt? Wenn Herr Höcke Ministerpräsident wäre? Wenn die CDU ihre brüchige „Brandmauer“ endgültig einreissen würde? Nein, man kann sich einen solchen massiven, ausdauernden, leidenschaftlichen Protest wie in Israel in Deutschland einfach nicht vorstellen.
Was ist das Geheimnis der israelischen Protestbewegung?
Dabei könnten die demokratischen Bürger schwankender oder scheiternder Demokratien weltweit von den Israelis einiges lernen. Denn was ist das Geheimnis der israelischen Protestbewegung? Warum ist sie so energetisch und, bislang, auch ziemlich erfolgreich? Ausländische Beobachter sprechen gerne vom „jüdischen Widerspruchsgeist“, um das Phänomen zu definieren. Das ist nicht falsch, Streitkultur hat unter Juden Tradition, der Talmud ist nichts anderes als eine intensive Debatte, Auseinandersetzung und Streit unter Rabbinern, wie man Gottes Gesetze auslegen soll. Doch es gibt andere Kriterien, die entscheidender sind.
Das Gefühl aller Israelis, dass sie der Staat sind
Da ist zunächst das Gefühl aller Israelis, dass sie der Staat sind. Nicht: „Der Staat bin ich“ irgendeines Herrschers, nicht ein Gefühl von: „die da oben“ bestimmt das Selbstverständnis der Israelis als Bürger. Sie alle sind der Staat. Und sie haben viel für diesen Staat getan und gegeben. Allein die Tatsache, dass so gut wie alle ihren Militärdienst leisten, dass Männer etwa drei, Frauen meistens zwei Jahre ihres jungen Lebens opfern – und oftmals dieses auch riskieren, um ihr Land zu verteidigen – allein das gibt jedem Israeli das Gefühl, dass dieser Staat nur existiert, weil er oder sie selbst ein gewichtiges Pfund eingebracht hat, um die Existenz Israels zu garantieren. Von den vielen, die jahrzehntelang Reservedienst leisten, gar nicht zu reden. Vor diesem Hintergrund wollen die Israelis sich von nichts und niemandem ihr Land, für das sie buchstäblich kämpften, kaputt machen lassen.
Israelis haben gelernt zu kämpfen – mit und ohne Waffe
Was zur nächsten Eigenschaft führt: Israelis haben gelernt zu kämpfen. Mit der Waffe. Aber auch ohne. Das Leben ist hart in Israel, man muss immer und jederzeit einen hohen Einsatz bringen, um sein Leben zu gestalten. Die Erfahrungen in der Armee prägen den Charakter der Israelis. Für ein Ziel einen hohen Einsatz bringen, etwas riskieren, durchhalten – das sind alles Eigenschaften, die in der Protestbewegung zu sehen sind und die in der Armee durchaus mitgeprägt wurden.
Die Erfahrung aus der Armee für einen effektiven Protest nutzen
Und es ist wiederum die Erfahrung aus der Armee, die die Führerinnen und Führer der Protestbewegung nutzen, um ihre Arbeit effektiv zu gestalten. Sie entwickeln Strategien und Stabspläne, sie vernetzen verschiedene Protestbewegungen, um Synergie-Effekte zu nutzen, sie kümmern sich um Finanzierung und PR und machen regelmäßig Debriefings wie nach einem militärischen Einsatz. Was lief gut, was lief schlecht? Wo muss man nachbessern? Sie entwickeln auch „Special Ops“, ganz wie im Militär. Kleine Gruppen werden für besondere Anlässe irgendwo hingeschickt. So gibt es eine Woche, in der Protestierende zu den Wohnungen der Minister gehen, um dort zu demonstrieren. Es gibt andere Wochen, da werden im ganzen Land Kreuzungen zur Rush-hour blockiert. Und jede Woche, auf der großen Samstagsdemo auf der Kaplan-Straße in Tel Aviv, steht der Protest unter einem bestimmten Motto. Dass die Bewegung durchaus Phantasie hat, konnte man unlängst in den USA sehen. Da wurde ein Foto von Premier Netanyahu als Sträfling auf die Mauer des Gefängnisses von Alcatraz projiziert. Oder ein verbaler Protest auf die Außenmauer des UN-Gebäudes. Entscheidend ist, dass der Protest der Israelis organisiert und nicht anarchisch ist.
Vielleicht werden Israelis Demokraten weltweit vormachen, wie man eine Autokratie verhindern kann
Die Protestierenden wissen vor allem eins: dass sie einen langen Atem haben müssen. Und dass das Gewinnen einer Schlacht noch nicht bedeutet, dass man den „Krieg“ gewonnen hat. Und noch eins wissen sie: Sie haben keine andere Heimat. Und nach 2000 Jahren Verfolgungsgeschichte ist Demokratie und Freiheit für die meisten Israelis das allerhöchste Gut. Tatsächlich könnte es sogar sein, dass sich in Israel die Zukunft der Demokratie generell entscheiden wird, wie der Politikwissenschaftler Uriel Abulof in einem Artikel in der linksliberalen Haaretz formulierte. Möglicherweise werden die israelischen Bürger den Demokraten weltweit vormachen, wie man eine Autokratie, eine Diktatur verhindern kann. Wenn das gelänge, dann wäre die Vision von Staatsgründer David Ben Gurion wahrlich Realität geworden: dass Israel „ein Licht für Nichtjuden“ wird.
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