NARRATIV-CHECK
Was hinter radikalisierenden Botschaften steckt.
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NARRATIV-CHECK
Was hinter radikalisierenden
Botschaften steckt.
Parallelwelten
Einführung
Digitale Parallelwelten –
Welten ohne Widerspruch
von Karolin Schwarz
US-Wahl, Corona-Pandemie oder Russlands Angriff auf die Ukraine – in den vergangenen Jahren wurde immer wieder über Desinformation, Verschwörungsideologien und den Einfluss sozialer Netzwerke auf Menschen, ihre Wahrnehmung und Einstellungen diskutiert. Zweifelsohne hat das Internet dazu beigetragen, dass neue, teilweise umfassende Parallelwelten entstehen und andere sichtbarer werden konnten – Welten, in denen etwa die Erde flach und der Klimawandel ein Märchen ist. Wie etablieren sich digitale Parallelwelten, wie gelangen Menschen in deren Kaninchenbau und wie beeinflussen sie die Gesellschaft?
Das Internet bietet heute eine Vielzahl unterschiedlicher Plattformen, medienaktivistischer Websites und Foren, die als Informationsräume dienen. Dass in vielen von ihnen menschenfeindliches, antidemokratisches sowie wissenschaftsfeindliches Gedankengut dominiert, ist kein neues Phänomen. Rechtsextreme und verschwörungsideologische Akteur:innen haben sich in der Geschichte immer wieder neueste Technologien angeeignet, um ihre Propaganda zu verbreiten, neue Anhänger:innen zu rekrutieren und politische Gegner:innen zu attackieren.
Offensichtliche Gründe für diese Aneignung sind beispielsweise die einfache Zugänglichkeit und Nutzung, ihre weite Verbreitung sowie die Möglichkeiten, mit geringem oder ganz ohne Kostenaufwand Inhalte zu produzieren und zu verbreiten. Hinzu kommt die noch immer vergleichsweise zurückhaltende Regulierung digitaler Räume weltweit und, im Fall von Deutschland, eine vergleichsweise geringe Zahl von Gerichtsurteilen für online begangene Straftaten wie Volksverhetzung oder andere Formen von justiziabler Hassrede. Diese Faktoren preisen insbesondere organisierte rechtsextreme Akteur:innen immer wieder als Vorteil ihrer digitalen Aktivitäten an und sie wissen sie zu nutzen. Deshalb ist es folgerichtig, dass diese Szene Initiativen, die geltendes Recht im digitalen Raum durchsetzen oder neue Regulierungen schaffen, immer wieder „Zensur“ vorwirft und sie vehement bekämpft.
Rhetorische Abschottung
Zur Erschaffung von Parallelwelten gehört auch, sich von dem abzugrenzen, was man ablehnt und bekämpft. Hier spielen vor allem die Erschaffung und ständige Erneuerung von Feindbildern in Politik, Medien oder Gesellschaft sowie kontinuierlich beleidigende und bedrohende Rhetorik eine wichtige Rolle. Eine Abschottung nach außen erfolgt einerseits über rhetorische Mittel, aber auch über den Aufbau eigener Infrastrukturen und eigener digitaler Räume.
Der Einstieg in die Parallelwelt und damit die Abwendung von den als „Mainstream“ diffamierten gemeinsamen Informationsräumen wird, je nach Szene, mit unterschiedlichen Begriffen beschrieben. Rechtsextreme, verschwörungsideologische aber auch organisierte > misogyne Akteur:innen etwa nutzen den Begriff > red pill oder „rote Pille“. Angelehnt an den Film Matrix, soll deren Einnahme vermeintlich zum Erkennen der eigentlichen „Wirklichkeit“ führen. Ein ähnliches Bild vermittelt der Begriff des „Aufwachens“ oder der „Aufgewachten“. Gemeint ist hiermit das Erwachen aus einem vermeintlichen Dämmerschlaf, der die ganze Welt befallen haben soll – ein Glaubenssatz, der vor allem in verschwörungsideologischen Kreisen verbreitet ist.
Sind Menschen erstmal abgetaucht in den Kaninchenbau einer solchen Parallelwelt, erwartet sie eine ständige Beschwörung einer „Wahrheit“, die nur die Eingeweihten, Aufgewachten und Rote-Pille-Schluckenden zu erkennen in der Lage sind. Immer wieder werden die vermeintlich im Dämmerschlaf Verbliebenen abwertend als „Schlafschafe“ oder ganz allgemein als Teil des verschrienen „Mainstream“ bezeichnet: Zum „Mainstream“ gehören jene, die sich ihre Meinung von „oben“, durch ein angebliches „links-grünes Diktat“ oder von angeblichen Verschwörer:innen vorgeben ließen und die es deshalb zu bekämpfen gelte. Ähnlich abwertend ist in diesem Kontext auch der Begriff der angeblich hörigen „Mainstreammedien“ zu verstehen. Diese ständige Feindbildkonstruktion äußert sich Journalist:innen gegenüber in Hassmails, Drohungen, „Lügenpresse“-Rufen bei Demonstrationen von Pegida bis Querdenken, aber auch in tätlichen Angriffen. Auch Politiker:innen, Wissenschaftler:innen, zivilgesellschaftlich Engagierte oder Unternehmer:innen, die sich gegen Rechtsextremismus oder Verschwörungsideologien engagieren oder allgemein ein Feindbild verkörpern, sind immer wieder Ziel von Drohungen und Attacken.
Die Themenvielfalt der Parallelwelten ist begrenzt. Zwar werden immer wieder aktuelle Themen aufgegriffen und mit der entsprechenden ideologischen Brille betrachtet oder als Puzzleteil einer großen Verschwörung deklariert. Der Fokus liegt jedoch vor allem auf Themen, die emotionalisieren und Angst, Wut oder Hass auslösen oder das Gefühl der Überlegenheit der Indoktrinierten verstärken. Dafür greift man auf eine Melange aus Inhalten zurück, die sowohl passend ausgewählt oder auch schlicht frei erfunden wurden. Insbesondere auf Plattformen wie Telegram oder den sogenannten > Alt-Tech-Plattformen (s. auch Artikel „Alt-Tech-Plattformen: Rückzugsräume in rechtsextreme Parallelwelten“), die mehrheitlich von Anhänger:innen rechtsextremer oder verschwörungsideologischer Ideologien genutzt werden, ist selten mit Widerspruch zu rechnen. Sollte es ihn doch geben, werden Abweichler:innen häufig als Teil der Verschwörung oder V‑Leute eines – westlichen – Geheimdienstes gebrandmarkt und aus Unterhaltungen ausgeschlossen.
Parallele Infrastruktur
Das Internet hat die Möglichkeiten massiv vereinfacht und vervielfacht, rechtsextreme und verschwörungsideologische Inhalte zu verbreiten und damit die Bindung zu Anhänger:innen zu stärken und neue zu gewinnen. Dass parallele digitale Räume von bestimmten Szenen genutzt werden, ist nicht neu. Schon das Usenet – ein seit 1978 existierendes eigenständiges Netzwerk von Newsgroups jenseits des World Wide Web – wurde spätestens in den 1990er Jahren von Neonazis, Holocaustleugner:innen und Verschwörungsgläubigen entdeckt und genutzt. Der US-Neonazi Milton Kleim zum Beispiel schrieb schon 1995 über das Usenet: „It is the only relatively uncensored (so far) free-forum mass medium which we have available.“ [1] Über die Jahre lassen sich vergleichbare Aussagen von Neonazis und anderen Rechtsextremen über das Internet und später über soziale Medien und neuere digitale Tools und Medienformen wie Podcasts oder Videoformate nachverfolgen.
Nachdem in den vergangenen Jahren durch vermehrte Berichterstattung, öffentlichen Druck, aber auch durch Gesetzgebung und rechtliche Konsequenzen zunehmend verbindliche Regeln für die Nutzung der großen sozialen Netzwerke aufgestellt und durchgesetzt wurden ( > DSA), hat sich eine ganze Reihe von alternativen Plattformen, Apps und Diensteanbietern etabliert, die häufig unter dem Begriff Alt-Tech zusammengefasst werden. Zu dieser alternativen Infrastruktur gehören zum einen eben jene Plattformen, die von Rechtsextremen und Verschwörungsgläubigen vereinnahmt werden, weil menschenverachtende, gewaltverherrlichende oder antidemokratische Inhalte dort kaum oder gar nicht moderiert werden. Und sie umfasst zum anderen Plattformen, die als Ausweichmöglichkeit speziell für jene geschaffen wurde, die bei Facebook, Youtube und Co. wegen wiederholter Regelverstöße gesperrt worden sind. Die alternativen Plattformen versprechen ihnen ein hohes Maß an „Meinungsfreiheit“ und wenig bis keine Moderation selbst strafrechtlich relevanter oder hasserfüllter Inhalte.
Digitale Migrationsbewegungen von einer großen Plattform zu abseitigeren Plattformen finden häufig als Reaktion auf Sperrungen einflussreicher Einzelpersonen oder Gruppen oder auf gesetzgeberische Initiativen statt. Der frühere Journalist und inzwischen u. a. wegen Volksverhetzung verurteilte, einflussreiche Verschwörungsideologe Oliver Janich war beispielsweise 2018 auf Youtube gesperrt worden und verlor seinen Kanal mit mehreren zehntausend Follower:innen. Als Reaktion verlagerte er seine Aktivitäten auf Telegram, wo ihm zunächst nur wenige Dutzend Anhänger:innen folgten. Die Möglichkeiten der Plattform beschrieb er in einem seiner ersten Telegram-Videos dennoch als für seine Zwecke positiv und verbreitete wie zum Beweis einen Gewaltaufruf gegen Politiker:innen: „Hier kann mich ja niemand zensieren. (…) Viele der Leute, die da heute an der Macht sind, gehören eigentlich aufgehängt.” [2]
Es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen großen, traditionellen und abseitigeren Plattformen. Alt-Tech-Plattformen dienen oftmals der Binnenkommunikation: Dort sind vor allem User:innen unterwegs, die in ihrer Ideologie bereits gefestigt sind. Zur Rekrutierung möglicher Anhänger:innen sind die entsprechenden Akteur:innen weiter auf Plattformen angewiesen, die in der Gesamtgesellschaft verankert sind. Selbst Akteur:innen, die durch besonders hassvolle, extreme und häufig auch gewaltverherrlichende Äußerungen auffallen, haben deshalb ein großes Interesse daran, auf den großen Plattformen zu verbleiben. Denn von dort können sie Nutzer:innen auf andere Plattformen lotsen, auf denen ihre Inhalte nicht moderiert werden und ideologisch gefärbte Parallelwelten weitestgehend ungestört und widerspruchslos existieren.
Zur Evolution des Internets gehört auch, dass kontinuierlich neue Plattformen und neue Trends entstehen. Neonazis und extreme Verschwörungsideolog:innen haben zum Beispiel den anhaltenden Podcast-Trend in Deutschland für sich zu nutzen gewusst und bieten heute eine Vielzahl unterschiedlicher Formate an. Seit Anfang 2024 wird zudem vermehrt über den vergleichsweise großen Erfolg rechtsextremer Akteur:innen auf Tiktok diskutiert. Die Debatte um neue Plattformen zeichnet sich häufig dadurch aus, dass einige Zeit vergeht, bis die Gefahren radikaler und extremistischer Aneignung erkannt und Gegenmaßnahmen in Form von Regeln durch die Plattformen oder Plattformregulierung ergriffen werden und die Verbreitung justiziabler Inhalte für Plattformen und User:innen tatsächlich Folgen hat.
Gleichzeitig sind Rückschritte in den Entwicklungen der vergangenen Jahre zu beobachten. Im Rahmen mehrerer Entlassungswellen haben große Plattformen zum Beispiel Teams verkleinert, die sich mit der Aufstellung plattformeigener Regeln und ihrer Durchsetzung befassen. So zum Beispiel nach der Übernahme von Twitter durch Elon Musk: Teams, die sich mit der Regelung oder Moderation von Hate Speech und Desinformation beschäftigt hatten, wurden verkleinert oder aufgelöst, hochrangige Manager:innen verließen die Plattform nach dem Verkauf. Außerdem ließ Musk mehrere bekannte, zuvor von Twitter gesperrte, Rechtsextreme zurück auf die Plattform. Zeitgleich stellte Twitter die Veröffentlichung von Transparenzberichten hinsichtlich ihrer Moderationspraktiken ein. Es ist nur folgerichtig, dass seit der Übernahme menschenfeindliche Posts und Desinformation auf der Plattform zugenommen haben.
Heute existiert ein ganzes Geflecht aus alternativen, parallelen Infrastrukturen, das die Parallelwelten von Rechtsextremen und Verschwörungsgläubigen aufrechterhält und sich häufig auch ideologisch überschneidet – online wie offline. Zur parallelen Infrastruktur gehören in der analogen Welt sowohl Zeitungen, Verlage, Musiklabels, Versandhäuser oder Veranstaltungsimmobilien. Und auch online differenziert sich das Angebot immer weiter aus. Schon in den Kindertagen des World Wide Web gab es rechtsextreme und neonazistische Anbieter, die Infrastruktur für Websites zur Verfügung stellten. Heute gibt es rechtsextreme und verschwörungsideologische Social-Media-Angebote für Text‑, Audio- und Videoinhalte, ideologisch eingefärbte „Bildungsangebote“ und Finanzierungsdienstleistungen, die alle möglichen Bedarfe der Szenen abdecken.
Und die technischen Entwicklungen bergen weitere Herausforderungen. Mit der zunehmenden Popularisierung KI-generierter Inhalte in der gesamten Gesellschaft wird auch deren Bedeutung für Akteur:innen aus dem rechtsextremen und verschwörungsideologischen Spektrum zunehmen. Bereits heute ist zu beobachten, dass insbesondere KI-generierte Bilder genutzt werden, um Inhalte mit stereotypen, rassistischen und generell menschenfeindlichen Visualisierungen zu erweitern. Es ist davon auszugehen, dass gerade durch die zunehmende Verbreitung kostenloser KI-Tools alte Propagandatechniken wie Überspitzung, Stereotypisierung oder Feindbildmarkierung vereinfacht oder sogar neue geschaffen werden.
Fazit
Parallelwelten führen zu einer Abschottung von Anhänger:innen rechtsextremer und verschwörungsideologischer Milieus nach außen. Weil Widerspruch insbesondere in Chatgruppen, Foren oder anderen homogenen Informationsräumen weder wahrnehmbar noch geduldet ist, erfolgt vielfach eine Immunisierung gegen wissenschaftliche Erkenntnisse und überprüfbare Fakten. Menschen, die vor allem Inhalte in rechtsextremen oder verschwörungsideologischen Channels auf Telegram, Videoplattformen oder medienaktivistischen Websites konsumieren, entfernen sich von demokratischen Diskursen und radikalisieren sich – bis einige von ihnen Gewalt gegen diejenigen gutheißen oder sogar ausüben, die sie zuvor als Feinde markiert haben.
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Karolin Schwarz ist Journalistin sowie Beraterin und Expertin für Desinformation, Rechtsextremismus im Netz und Rechtsterrorismus. Sie arbeitet außerdem als Referentin bei democ, einem Verein, der antidemokratische Bewegungen dokumentiert und analysiert.
Fußnoten
[1] Milton John Kleim (1995): „On Tactics and Strategy for USENET“
[2] Oliver Janich auf Telegram, 22. August 2022
GLOSSAR
Alt-Tech
Unter Alt-Tech werden rechte „alternative“ Plattformen, Apps und Diensteanbieter zusammengefasst, in denen es kaum Gegenrede zu menschenverachtenden Positionen gibt. Zu ihnen zählen Plattformen wie Gab, Parler, Gettr, Truth Social, Odysee und Bitchute sowie anonyme Foren wie 4chan oder 8kun, über die sich Rechtsextreme austauschen. Dass Betreiber kaum gegen Hassinhalte vorgehen, macht sie zu Ausweichplattformen für anderswo gesperrte Nutzer und Nutzerinnen.
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Digital Services Act (DSA)
ist eine Gesetzgebung für das Internet. Seit 2024 regelt der DSA die Aktivitäten von Anbietern digitaler Dienste innerhalb der EU. Sehr große Plattformen und Suchmaschinen mit mehr als 45 Millionen Nutzerinnen und Nutzern pro Monat müssen demnach neue Transparenzregeln und Beschwerdemöglichkeiten umsetzen, um Verbraucherinnen und Verbraucher besser zu schützen sowie Grundrechte im Internet und Grundregeln für digitale Diensteanbieter zu garantieren.
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Misogynie
bedeutet Frauenhass und beschreibt die Annahme einer grundsätzlichen Minderwertigkeit von Frauen. Neben der konkreten Abwertung bezeichnet der Begriff zunehmend die strukturelle Entwertung oder Benachteiligung von Weiblichkeit. Misogynie weist Frauen und weiblich gelesenen Personen eine untergeordnete Position und einen eingeschränkten Zugang zu Macht zu und ist eng verknüpft mit weiteren Formen der Frauenfeindlichkeit wie Sexismus, Antifeminismus oder Antigenderismus.
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Red pill, „rote Pille“
ist eine Metapher, die unter Rechtsextremen, Verschwörungsgläubigen und >misogynen Aktivistinnen und Aktivisten genutzt wird. Sie ist eine Referenz auf den Film Matrix, in dem der Protagonist sich zwischen einer roten und blauen Pille entscheiden soll – und damit zwischen dem Erkennen der „Wirklichkeit“ und dem Verbleib in der Scheinwelt. Die Idee, nach der die Menschheit im Dämmerschlaf gehalten werde und sich in „Erwachte“ und „Schlafschafe“ scheide, ist insbesondere in verschwörungsideologischen Kreisen verbreitet.
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