Ukraine und die EU: Nukleare Sicher­heit in Zeiten des Krieges

Photo: Oliver Geheeb

Der russische Kern­ener­gie­mo­no­po­list Rosatom scheint von Sank­tionen verschont zu bleiben – trotz seiner Rolle bei der Besetzung des Kern­kraft­werks Sapo­rischschja und der fakti­schen Erpres­sung Europas. Wie die Lage in Sapo­rischschja und anderen AKWs in der Ukraine ist, welche Sank­tionen gegen Rosatom verhängt werden sollten und wie sich der Westen von der russi­schen Atom­in­dus­trie unab­hängig machen kann – darüber disku­tierten bei LibMod am 27. April Anton Hofreiter, Victoria Voit­sitska und Rebecca Harms.

Während die west­li­chen Länder beispiel­lose Sank­tionen gegen den russi­schen Ener­gie­sektor verhängt haben, bleibt die russische Atom­in­dus­trie – gleich­be­deu­tend mit dem staat­li­chen Kern­ener­gie­mo­no­po­list Rosatom – eine Ausnahme in der Sank­ti­ons­po­litik von EU und G7. Trotz seiner Rolle bei der Übernahme des besetzten Kern­kraft­werks Sapo­rischschja und der fakti­schen Erpres­sung Europas scheint Rosatom von den Sank­tionen verschont zu bleiben, da viele Länder immer noch von der russi­schen Atom­in­dus­trie abhängig sind.

Am 27. Februar disku­tierten wir mit dem Bundes­tags­ab­ge­ord­neten Anton Hofreiter, der ehema­ligen Sekre­tärin des Ener­gie­aus­schusses der Werchowna Rada (2014–2019) und Expertin des Inter­na­tio­nalen Zentrums für den ukrai­ni­schen Sieg, Victoria Voit­sitska, und Rebecca Harms, der ehema­ligen Abge­ord­neten des Euro­päi­schen Parla­ments, wie die aktuelle Situation im besetzten AKW Sapo­rischschja ist und wie gefährdet die anderen Kern­kraft­werke in der Ukraine sind.

Vor diesem Hinter­grund sprachen wir auch über Ziel und Hinder­nisse möglicher Sank­tionen gegen Rosatom. Wir haben außerdem erörtert, wie die Ukraine vor dem russi­schen Nukle­ar­ter­ro­rismus geschützt werden kann und welche Stra­te­gien notwendig und realis­tisch sind, um Europa und die G7-Staaten von der russi­schen Atom­in­dus­trie unab­hängig zu machen – was wiederum den Weg zur Einfüh­rung der lang erwar­teten Sank­tionen gegen Rosatom ebnet.

Nukleares Risiko für Europa

Bis zum russi­schen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 waren Angriffe auf Nukle­ar­an­lagen in Kriegs­ge­bieten und deren Mili­ta­ri­sie­rung nicht Bestand­teil der öffent­li­chen Diskus­sion, da über den beson­deren Schutz von Kern­kraft­werken gemäß der Genfer Konven­tion inter­na­tional Einigkeit herrschte. Durch die russische Besetzung der Kern­kraft­werke Tschor­nobyl (Anmerk.d.Red: Die Schreib­weise entspricht der Tran­skrip­tion aus dem Ukrai­ni­schen) und Sapo­rischschja änderte sich die Situation grund­le­gend. Im Falle eines nuklearen Unfalls wäre nicht nur das Gebiet der Ukraine und Russlands betroffen, sondern je nach Wind­rich­tung könnten auch Ost- und Mittel­eu­ropa und die balti­schen Staaten radio­aktiv konta­mi­niert werden.

Ein direkter Anschlag auf ein Atom­kraft­werk ist dabei das zwar scheinbar bedroh­lichste Szenario, aber auch ein nicht funk­tio­nie­rendes Ener­gie­system kann eine nukleare Kata­strophe verur­sa­chen. Im vollen Bewusst­sein dieser Tatsache hat Russland dennoch die ukrai­ni­sche Ener­gie­infra­struktur, insbe­son­dere Strom­netze und Umspann­werke, gezielt beschossen und damit eine nukleare Kata­strophe riskiert. Um einen nuklearen Unfall zu verhin­dern, müssen daher müssen nicht nur die Kern­kraft­werke der Ukraine geschützt werden, sondern auch wichtige Ener­gie­infra­struktur. Zur Erin­ne­rung: Bei dem Unfall auf Three Mile Island in den USA brachte eine Fehl­funk­tion der Kühlung einen Teil des Kerns zum Schmelzen.

Die Lage in Sapo­rischja ist äußerst kritisch

Die Lage im besetzten Kraftwerk Sapo­rischschja ist weiterhin sehr kritisch. Als Russland das größte Kern­kraft­werk Europas besetzte und zu russi­schem Staats­ei­gentum erklärte, übernahm Rosatom die Kontrolle über die Anlage. Vor der russi­schen Invasion waren dort 11 000 Menschen beschäf­tigt, inzwi­schen arbeiten noch 3 500 Personen unter menschen­un­wür­digen Bedin­gungen. Berichten zufolge wird das ukrai­ni­sche Personal einge­schüch­tert und darf die Stadt nicht verlassen, die Mitar­beiter werden verhört und gezwungen, 12-Stunden-Schichten zu arbeiten, und selbst Fami­li­en­an­ge­hö­rige werden bedroht.

Das AKW Sapo­rischschja ist derzeit nicht in Betrieb. Der Strom, der für die Kühlung während der Abschal­tung benötigt wird, kommt aus einem ukrai­ni­schen Umspann­werk, das von Russland beschossen wird. Sollte dieses Umspann­werk also beschä­digt werden, erhöht sich das Risiko eines atomaren Unfalls erheblich.

Trotz der Verspre­chungen der IAEA wurde das Gebiet um das AKW Sapo­rischschja nicht nur nicht entmi­li­ta­ri­siert, sondern die russische Mili­tär­prä­senz hat laut Victoria Voit­sitska sogar zuge­nommen. Vertreter der IEAE haben zwar Zugang zum Kraftwerk, die Anwe­sen­heit der IEAE im Kraftwerk hat jedoch die weltweite – falsche – Wahr­neh­mung verstärkt, dass die Situation unter Kontrolle ist.

IRIS‑T Produk­tion in Deutsch­land ausweiten

Um die Zivil­be­völ­ke­rung, die kritische Infra­struktur und die an der Getreide-Initia­tive betei­ligten Schiffe vor russi­schen Raketen zu schützen, braucht die Ukraine dringend mehr Flug­ab­wehr­sys­teme und Kampfjets. Anton Hofreiter erklärte, dass eine Auswei­tung der Produk­tion des Luft­ab­wehr­sys­tems IRIS‑T in Deutsch­land notwendig sei. IRIS‑T ist weltweit eines der effek­tivsten Luft­ab­wehr­sys­teme und hat mit einer 100-prozen­tigen Erfolgs­quote seine Effizienz in der Ukraine bereits bewiesen. Da die Waffen­her­steller jedoch nur sehr zögerlich in weitere Produk­ti­ons­li­nien inves­tieren, seien staat­liche Garantien notwendig. Unklar bleibe, ob die Ukraine diese Garantien geben wird oder ob die EU oder Deutsch­land einspringen müssen. Gleich­zeitig brauche die Ukraine Luft­ab­wehr­sys­teme für die nächsten Jahrzehnte.

Die Abhän­gig­keit des Westens von der russi­schen Atomindustrie

Rosatom ist ein staat­li­cher Konzern, der mehr als 360 Orga­ni­sa­tionen umfasst, darunter Forschungs­in­sti­tute, eine Kern­waf­fen­ab­tei­lung und eine nuklear ange­trie­bene Eisbre­cher­flotte. Der Konzern ist einer der weltweit größten Akteure im Bereich Kern­brenn­stoff (17 % des Welt­markts) und Uran­pro­duk­tion (16 % des Welt­markts) und belegt auf dem Weltmarkt für Uran­an­rei­che­rung den ersten Platz (38 %). Darüber hinaus ist Rosatom an 25 Stand­orten in 10 Ländern tätig.

Da die Produkte und Dienst­leis­tungen der russi­schen Nukle­ar­in­dus­trie auf den inter­na­tio­nalen Märkten bislang eine wichtige Rolle spielen, lassen diese sich nur langsam ersetzen. Anton Hofreiter plädierte dafür, dass sich Europa gemeinsam mit den G7 im Nukle­ar­be­reich von Russland unab­hängig machen müsse. Solange Staaten auf die Zusam­men­ar­beit mit Rosatom setzten, seien sie erpressbar, weshalb das nächste Sank­ti­ons­paket auch Rosatom einschließen müsse.

Das Ende der Zusam­men­ar­beit mit Rosatom vorbereiten

Der erste Schritt könnten persön­liche Sank­tionen gegen Rosatom-Manager sein, die sich in den Betrieb des ukrai­ni­schen Kern­kraft­werks einmi­schen und die nukleare Sicher­heit in Europa gefährden. Außerdem sollten alle zwischen­staat­li­chen Abkommen und Forschungs­pro­jekte mit Rosatom beendet und Geschäfts­be­zie­hungen mit Rosatom verboten werden. Schon jetzt sollten die EU und die G7-Staaten eine Task Force mit Regie­rungs- und Parlamentsvertreter*innen zusam­men­stellen, um ein Ende der Zusam­men­ar­beit mit Rosatom vorzu­be­reiten.

Victoria Voit­sitska schlug vor, dass die allmäh­liche Abkehr der EU von russi­schen Nukle­ar­pro­dukten und ‑dienst­leis­tungen in den REPowerEU-Plan der Euro­päi­schen Kommis­sion aufge­nommen werden müsse. Die Befreiung aus dieser Abhän­gig­keit birgt mannig­fal­tige Heraus­for­de­rungen, ist aber reali­sierbar, wenn der entspre­chende poli­ti­sche Wille vorhanden ist.

Kern­brenn­stoffe: Umstel­lung auf US-ameri­ka­ni­sche Hersteller

Ob Kern­energie eine nach­hal­tige Ener­gie­quelle ist, wird auch in der breiten Öffent­lich­keit intensiv disku­tiert. Unstrittig ist jedoch, dass die Kern­energie nicht kurz­fristig ersetzt werden kann. Die Umstruk­tu­rie­rung des Ener­gie­mixes erfordert eine lange Anpas­sungs­zeit, um die Liefe­ranten zu diver­si­fi­zieren und die Bezie­hungen zu Rosatom zu lösen. Die Ukraine selbst impor­tiert keine Brenn­stäbe mehr aus Russland und hat ihre Kern­kraft­werke auf Kern­brenn­stoff des ameri­ka­ni­schen Herstel­lers West­ing­house umge­stellt. Gleich­zeitig hat sie die Aufbe­rei­tung von Atommüll im Kern­kraft­werk Tschor­nobyl wieder aufge­nommen, nachdem sich die russi­schen Besat­zungs­truppen von dem Gelände zurück­ge­zogen haben.

Notwen­dige Einigung in der EU

Tsche­chien, Finnland und die Slowakei wollen sich ebenfalls von russi­schem Kern­brenn­stoff unab­hängig machen. Ungarn und Bulgarien erklärten hingegen, dass sie ihr Veto gegen jegliche Sank­tionen gegen Rosatom einlegen würden.

Frank­reich, das seine eigenen Wieder­auf­be­rei­tungs­ka­pa­zi­täten nicht nutzt, weil Russland den Markt mit niedrigen Preisen dominiert, ist ebenfalls gegen Nuklear­sank­tionen. Die Abhän­gig­keit Frank­reichs von russi­schen Atom­im­porten ist dabei entschei­dend für eine Einigung der EU, die für Sank­tionen gegen Rosatom erfor­der­lich ist, so Hofreiter. Frank­reich sollte deshalb beispiels­weise dabei unter­stützt werden, die Produk­tion von Brenn­stäben im Land zu erhöhen, um die Importe aus Russland schritt­weise zu beenden.

Was sind die nächsten Schritte?

Groß­bri­tan­nien und die Verei­nigten Staaten haben bereits Sank­tionen gegen wichtige Rosatom-Beamte verhängt, die EU und andere G7-Länder sollten diesem Beispiel folgen.

Eine wirksame Maßnahme, um Russland daran zu hindern, seinen Einfluss auszu­weiten und neue Abhän­gig­keiten zu schaffen, besteht darin, laufende oder künftige Projekte von Rosatom im Ausland zu blockieren, indem Sekun­där­sank­tionen gegen Unter­nehmen verhängt werden, die die Kern­kraft­werke mit Material, Bauteilen und Tech­no­lo­gien beliefern.

Deutsch­land ging hier mit gutem Beispiel voran: Das Bundesamt für Wirt­schaft und Ausfuhr­kon­trolle (BAFA) blockierte Liefe­rungen von Siemens Energy für den von Rosatom betrie­benen Bau von Kern­kraft­werken in der Türkei und Ungarn.

Da einige EU-Mitglied­staaten immer noch von Rosatom abhängig sind, muss die Euro­päi­sche Union dringend nach Alter­na­tiven für Tech­no­logie, Wartung und Material russi­scher Herkunft suchen.

In einem weiteren Schritt müssen die Konver­sions- und Anrei­che­rungs­dienst­leis­tungen diver­si­fi­ziert, die russi­schen Liefe­ranten von Uran­roh­stoffen und Kern­brenn­stoffen ersetzt und Alter­na­tiven für die Endla­ge­rung abge­brannter Brenn­ele­mente und Wieder­auf­be­rei­tungs­dienst­leis­tungen gefunden werden. Alle bereits bestehenden Verträge mit Rosatom über zukünf­tige Dienst­leis­tungen oder den geplanten Bau von Kern­kraft­werken müssen nach dem Beispiel Finnlands – das seine Pläne zum Bau des AKW Hanhikivi mit Rosatom einge­stellt hat – einge­froren oder gekündigt werden.

Die Umsetzung dieser und weiterer Maßnahmen würde Russland deutlich machen, dass sein Handeln nicht ohne Folgen bleibt – was wiederum das Risiko einer nuklearen Kata­strophe in der Ukraine erheblich verrin­gern würde. Gleich­zeitig unter­stützen diese Sank­tionen Europa dabei, seine Abhän­gig­keit von der russi­schen Atom­in­dus­trie zu über­winden. Sie verrin­gern darüber hinaus Russlands Einnahmen, was – wenn­gleich auch in gerin­gerem Maße als die Einnahmen aus den Ölex­porten – Russlands Kriegs­fi­nan­zie­rung weiter schwächt.

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