WELT-Interview mit Ralf Fücks: „Grundgefühl von Kontrollverlust“
Er gehört zu den klügsten Vordenkern des grünen Spektrums, und er macht sich Sorgen um Deutschlands Handlungsfähigkeit: Ralf Fücks war Senator und Bürgermeister in Bremen, lange Jahre Mitglied der Grünen-Grundsatzkommission und Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung. Fücks, der mit seiner Frau, der früheren Grünen-Bundestagsabgeordneten Marieluise Beck, die Denkfabrik Zentrum Liberale Moderne gegründet hat, sieht die offene Gesellschaft weltweit heraus gefordert.
DIE WELT: Herr Fücks, Sie waren gerade zu Gesprächen Ihres neuen Thinktanks Zentrum Liberale Moderne in New York. Wie blicken Ihre amerikanischen Diskussionspartner auf Deutschland?
Ralf Fücks: Seit einem Jahr haben wir bei solchen Anlässen immer gefragt: „What the hell is going on with the U.S.?“ Jetzt, nach den Bundestagswahlen, unklaren Mehrheiten, gescheiterten Jamaika-Sondierungen und der Ungewissheit über eine erneute große Koalition, wurden wir gefragt: „What the hell is going on in Germany?“
DIE WELT: Und? Was, zur Hölle, passiert in Deutschland?
Fücks: Es ist schon irritierend, dass die Bundesrepublik, die bislang ein Fels in der Brandung zu sein schien, jetzt am Rande einer Regierungskrise ist. Aber wir müssen die Dinge auch nicht dramatisieren. Die Institutionen funktionieren, und letztlich werden wir auch wieder eine stabile Regierung bekommen. Trotzdem ist Deutschland auf internationalem Parkett derzeit nicht wirklich handlungsfähig.
DIE WELT: Ist das nicht nach Wahlen regelmäßig der Fall?
Fücks: Mag sein, aber die weltpolitische Lage hat sich verändert. Christoph Heusgen, der deutsche Botschafter bei den Vereinten Nationen, wies dieser Tage darauf hin, dass Russland und China in der internationalen Arena derzeit enorm offensiv sind, während die USA als multilaterale Kraft weitgehend ausfallen. In einer solchen Situation kommt es verstärkt auf Europa an. Es gibt aber keine handlungsfähige EU ohne ein handlungsfähiges Deutschland. Insofern ist es allerhöchste Zeit, dass wir aus dieser Übergangsperiode herauskommen und uns wieder den wirklich wichtigen Herausforderungen widmen.
DIE WELT: Was sind die wichtigsten Herausforderungen?
Fücks: Klimawandel, digitale Revolution, sozialer Zusammenhalt und die Verteidigung der freiheitlichen Demokratie. Die Ideen der liberalen Moderne, also Menschenrechte, weltoffene Demokratie, kulturelle Vielfalt, sind massiv herausgefordert. Von außen durch autoritäre Mächte, die sich als Gegenmodell zur liberalen Demokratie verstehen, und von innen durch eine antiliberale Revolte von Teilen der Gesellschaft, die mit der ganzen Richtung nicht einverstanden sind. Sie empfinden die einschneidenden Veränderungen, mit denen wir konfrontiert sind, als Bedrohung ihres sozialen Status oder ihrer kulturellen Identität.
Das betrifft die ökonomische Globalisierung, die weltweite Migration, die heraufziehende digitale Revolution, die Umwälzung der Geschlechterverhältnisse. All das passiert gleichzeitig und in großem Tempo. Das führt in der Gesellschaft zu einer gereizten Unsicherheit. Darauf müssen wir Antworten finden.
DIE WELT: Wird unsere offene Gesellschaft nicht auch gefährdet durch Zuwanderer, die andere Vorstellungen haben zum Rechtsstaat, zur Selbstbestimmung der Frau, zur Religionsfreiheit?
Fücks: Der islamische Fundamentalismus ist eine Gegenströmung zur liberalen Moderne. Er lehnt die Errungenschaften der modernen Welt ab und empfindet sie als Sündenfall. Dagegen müssen wir klar Position beziehen.
Aber das ist nicht die einzige Bedrohung der offenen Gesellschaft. In Europa haben wir es mit rechtspopulistischen und nationalistischen Bewegungen zu tun und international mit autoritären Regimen, die eine expansive Politik betreiben. Das gilt für China wie für Russland oder den Iran. Die Gegenreaktion auf die liberale Moderne hat viele Gesichter.
DIE WELT: Sind nicht auch Teile des allgemein nicht als fundamentalistisch oder radikal eingestuften Islam kaum in die offene Gesellschaft zu integrieren, wenn dort der Koran oberhalb von Verfassungen und die Scharia oberhalb des BGB gesehen wird, und Frauen, Homosexuelle oder Nichtmuslime abgewertet werden?
Fücks: Dass es im Islam konservative Strömungen gibt, müssen wir aushalten, genauso, wie wir auch konservative Strömungen im Christentum aushalten müssen. Das Problem beginnt, wo die Religion über die demokratische Rechtsordnung gestellt wird. Das ist nicht akzeptabel. Die Trennung von Staat und Religion und die demokratischen Grundrechte müssen verteidigt werden. Aber mit kultureller und religiöser Vielfalt müssen wir umgehen können.