Wie viel Meinung verträgt der Journalismus?

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Journa­listen haben Privi­legien, die anderen Bürgern in dem Umfang nicht zustehen. Umso stärker stehen sie in der Pflicht. Nur wer gut und unabhängig infor­miert ist, kann als Bürger frei entscheiden. 

So viel Empörung hat Journa­lismus schon lange nicht mehr verur­sacht. Erst trat Anfang Juni der Leiter des Meinungs­res­sorts der New York Times zurück. Er hatte den Gastbeitrag eines republi­ka­ni­schen Senators durch­gehen lassen, der in den Augen vieler Mitar­beiter zu Gewalt gegen Protes­tie­rende der Black Lives Matter Bewegung aufge­rufen hatte. Weltweit wurde daraufhin durchaus auch außerhalb der Medien­branche darüber debat­tiert, ob bei dem publi­zis­ti­schen Flagg­schiff nun der Meinungs­plu­ra­lismus durch die Intoleranz der „Political Correctness“ abgelöst wurde, oder ob es legitime Inter­essen der Beleg­schaft zu vertei­digen galt. In Deutschland schlug kurz darauf eine Kolumne in der taz Wellen, die bis ins Bundes­in­nen­mi­nis­terium und letztlich ins Kanzleramt schwappten. Worum es ging, dürfte kaum jemandem entgangen sein: Die Autorin Hengameh Yaghoo­bi­farah hatte anlässlich der Debatte um Polizei­gewalt geschrieben, Polizisten seien für nichts tauglich als für die Müllkippe. Seitdem tobt selbst in der taz-Redaktion ein Streit darüber, ob das Stück legitimer Journa­lismus war. Bundes­in­nen­mi­nister Horst Seehofer hatte sogar laut über eine Straf­an­zeige nachge­dacht, Presse­freiheit hin oder her. Und dann folgte im Juli auch noch der von zahlreichen promi­nenten Autoren unter­zeichnete offene Brief in Harper’s, der sich wortge­waltig gegen die vermeintlich vorherr­schende „Cancel Culture“ aussprach, also in etwa eine Kultur der gutge­meinten Zensur. 

Portrait von Alexandra Borchardt

Alexandra Borchardt ist Journa­listin und Autorin von ‚Mehr Wahrheit wagen – Warum die Demokratie einen starken Journa­lismus braucht‘

Über das Richtig und Falsch in all diesen Fällen ist schon anderswo ausrei­chend gestritten worden. Die aufge­heizte Debatte um beide Ereig­nisse zeigt aber eins: Der Journa­lismus als solcher muss sich neu positio­nieren in einer Welt der sozialen Netzwerke und digitalen Medien, die vor Meinungen, Behaup­tungen, Inter­pre­ta­tionen und Provo­ka­tionen nur so strotzt. Dabei stellen sich einige Fragen. Will er einstimmen in das Konzert – oder besser: die Kakophonie – der Stimmen in der Überzeugung, dass aufge­klärte Bürger selbst in der Lage sind, sich aus der Vielfalt des Angebots ihre Meinung zu bilden? Bemüht er sich soweit dies geht um Neutra­lität der Bericht­erstattung, um mit seinem Quali­täts­ver­sprechen als Fels in der Brandung der Aufmerk­sam­keits-Ökonomie zu bestehen? Oder muss er gerade diesen Anspruch sogar in Frage stellen, weil die vermeint­liche Neutra­lität einem Verständnis von Journa­lismus entspringt, das auf dem Besser­wis­sertum der gebil­deten, zumeist männlich geprägten Mehrheits­kultur aufsetzt?

Glaubt man dem jüngst veröf­fent­lichen Digital News Report des Reuters Insti­tutes in Oxford, der weltweit größten fortlau­fenden Studie zum digitalen Medien­konsum, wünscht sich die Mehrheit der Befragten eine zumindest um Objek­ti­vität bemühte Bericht­erstattung. In Deutschland gaben dies sogar 80 Prozent der Teilneh­menden zu Protokoll. Entspre­chend gering ist hierzu­lande der Anteil derje­nigen, die in den Medien ihre eigenen Meinungen bestätigt finden oder mit anderen Perspek­tiven aus der Reserve gelockt werden wollen. Der Slogan „Fakten, Fakten, Fakten“ kommt einem in den Sinn, mit dem der Focus einst gegen den Spiegel antreten wollte. In Ländern mit starken öffentlich-recht­lichen Sende­an­stalten sind diese Vorlieben übrigens ähnlich verteilt, wohin­gegen in stärker privat­wirt­schaftlich geprägten Medien-Landschaften Meinungs­plu­ra­lismus stärker gefragt ist.

Leserinnen und Leser wünschen sich zudem immer wieder, dass Kommentare klar als solche gekenn­zeichnet werden. Das ist besonders wichtig in den sozialen Netzwerken, wo Meinungs­stücke ohne Bindung an eine spezielle Seite im Nachrich­ten­fluss auftauchen und das dazuge­hörige Fakten­stück eher selten zusätzlich serviert wird. „Journa­listen wissen, das Nachrichten und Kommentare getrennt sind, aber Leser können das oft nicht ausein­an­der­halten“, schreibt der Journa­lismus-Professor Kevin Lerner in einem vom Nieman Lab der Harvard University veröf­fent­lichten Beitrag. Dabei sind in der angel­säch­si­schen Tradition die Rollen von Reportern und Kommen­ta­toren sogar strikt getrennt, wohin­gegen Journa­listen in Deutschland sehr oft beides tun: berichten und kommen­tieren. Das schafft eher noch mehr Verwirrung.

Es spricht also einiges für das Modell „Fels in der Brandung“: Quali­täts­jour­na­lismus sollte sich gerade dadurch auszeichnen, dass er anhand von Fakten und Daten Orien­tierung bietet, Situa­tionen und Aktivi­täten genau beschreibt und sich damit zurückhält, alles sofort zu bewerten. Damit dient er einem Publikum, das zunehmend verun­si­chert ist und Orien­tierung vermisst inmitten der Meinungen von Betrof­fenen, Experten und derje­nigen, die sich für Experten halten. So viel Plura­lismus war schließlich nie. Dafür spricht auch, dass das Vertrauen in die Medien laut Digital News Report weiter gesunken ist. Nur noch 38 Prozent der Befragten in den unter­suchten 40 Ländern und Märkten vertrauen dem Journa­lismus generell, das sind vier Prozent­punkte weniger als im vergan­genen Jahr. Selbst den Marken, die er oder sie selbst regel­mäßig nutzt, vertraut nicht einmal jeder Zweite. Aufklärung durch Fakten klingt da nach einer guten Idee.

Bei näherem Hinschauen ist die Sache kompli­zierter. Zunächst einmal hat das, was Leserinnen und Leser über ihre Bedürf­nisse sagen, nicht unbedingt etwas mit dem zu tun, was sie tatsächlich lesen. Sie mögen sich Neutra­lität wünschen, aber sie klicken dann doch viel lieber auf den pointierten Kommentar. Redak­tionen wissen anhand von Daten, dass sie damit eher Reich­weite erzielen als mit so manch einem fakten­ge­tränkten Stück. Das gelingt vor allem mit Texten, an denen sich die Gemüter erhitzen. Und Reich­weite ist nicht nur gut für Anzei­gen­kunden, sondern auch willkom­menes Marketing in einer Zeit, in der viele Medien­häuser um ihr wirtschaft­liches Überleben kämpfen. Zumal Kommentare deutlich billiger zu produ­zieren sind als aufwändige Recherchen. Man braucht dazu lediglich Mitar­beiter mit Meinung und Schreib­gerät, los geht’s. Die Algorithmen der Plattform-Konzerne tun ihr übriges, indem sie Stoffe nach oben spülen, an denen sich viele Menschen reiben.

Ein weiterer Grund ist komplexer. Genera­tionen von Journa­listen haben das Credo der Objek­ti­vität hochge­halten, noch heute zitiert manch einer von ihnen das Bonmot des ehema­ligen Tages­themen Moderators Hanns Joachim Friedrich, dass sich ein Journalist niemals mit einer Sache gemein machen solle, nicht einmal mit einer guten. Natürlich machten sich Journa­listen schon damals mit allerlei Sachen gemein. Eine der Kernauf­gaben des Journa­lismus ist es ja, denen eine Stimme zu geben, die sonst niemand hören würde. Aber indem man andere sprechen ließ, trat man als Komponist des Stücks scheinbar in den Hinter­grund – auch wenn man genau das war: die Schöp­ferin, die einem Text Struktur, Klang und Emotion verlieh und ihn auf diese Weise sehr subjektiv prägte. Jüngere Journa­listen finden die Debatte um Objek­ti­vität deshalb verlogen. Jede und jeder bringe ohnehin seine eigene Perspektive mit, argumen­tieren sie, und das sei auch gut so. Ein Genera­tio­nen­kon­flikt schwelt.

In dem Argument steckt Wahrheit. Schwierig wird es aber dann, wenn mit der Begründung von Vielfalt jedes journa­lis­tische Produkt eine Daseins­be­rech­tigung erhält – eine missra­tenen Kolumne ebenso wie ein Gewalt sanktio­nie­renden Gastbeitrag. Die Presse­freiheit ist ein von der Verfassung geschütztes Gut. Aber Freiheits­rechte gehen immer mit einer beson­deren Verant­wortung einher. Die Freiheit des einen hört immer dort auf, wo die des anderen beginnt. Die Grenzen müssen demokra­tisch ausge­handelt werden. Respekt, Anstand und Rücksicht­nahme sind Bausteine der Freiheit. Je weniger davon vorhanden ist, umso mehr Regeln werden gebraucht.

Journa­listen haben Privi­legien, die anderen Bürgern in dem Umfang nicht zustehen. Umso stärker stehen sie in der Pflicht. Anders als dieje­nigen, die in den sozialen Netzwerken einfach mal flapsig vor sich hin mutmaßen und meinen, gilt für Repor­te­rinnen und Kommen­ta­toren der Presse­kodex. Und ein generelles Bewusstsein dafür, was man mit der Macht, die einem verliehen ist, anrichten kann, sollte bei der Berufswahl zur Grund­aus­stattung gehören. Ebenso wie es in Redak­tionen eine Sorgfalts­pflicht gibt, die möglichen Wirkungen von Reich­weite vor einer Veröf­fent­li­chung abzuschätzen. Wird diese Sorgfalt nicht angewandt, schadet das nicht nur den Redak­teu­rinnen und Reportern, die ihre Verant­wortung ernst nehmen, sondern dem Journa­lismus als Ganzem. Und wer das Ansehen des Journa­lismus beschädigt, schränkt die Freiheits­rechte der Gesell­schaft ein. Denn nur wer gut und unabhängig infor­miert ist, kann als Bürger frei entscheiden.