Sicherheit: Zur Figur des „gefährlichen Fremden“
Ein afghanischer Flüchtling ersticht ein 15jähriges Mädchen. Schlimm. Weshalb entzündet sich an dieser Bluttat eine so heftige, emotional aufgeladene Kontroverse? Es geht – unter anderem – um die Frage, ob die Zuflucht von jungen Männern aus Zentralasien und Nordafrika zu einem höheren Gewaltrisiko für Mädchen und Frauen führt und wie damit umzugehen ist. Diese Debatte wird nicht nur aus dem rechtsextremen Spektrum angeheizt. Manuela Rottmann erklärt, weshalb es in Teufels Küche führt, wenn wir ganze Menschengruppen unter Generalverdacht stellen und repressive Maßnahmen an soziale oder kulturelle Merkmale knüpfen.
Ich habe gezögert, auf den Text von Götz Aly in den Stuttgarter Nachrichten zur Tötung eines jungen Mädchens in einer kleinen Stadt in Rheinland-Pfalz und weiteren Gewalttaten durch Flüchtlinge zum Jahreswechsel zu erwidern. „Relativierung, Ignoranz gegenüber den Opfern, Blindheit gegenüber den Sicherheitsrisiken aus der Zuwanderung von Geflüchteten, Multikulti-Naivität“ – die Reaktion auf jede differenzierende Sicht auf das Thema Gewalt gegen Frauen durch Geflüchtete scheint mir schon so gut wie festzustehen, bevor ich mich an die Tastatur gesetzt habe.
Wenn wir von unseren Annahmen über soziale oder kulturelle Ursachen von Gewalt auf die Gefährlichkeit einzelner Menschen schließen, sitzen wir in der Falle.
Götz Aly kritisiert in dem Anfang Januar erschienenen Text das Schweigen der Bundeskanzlerin und von Integrationsstaatsministerin Aydan Özoguz zur Sicherheitslage und unterstellt als Motiv Feigheit. Das lässt auf eine gewisse Egozentrik bei der Beschäftigung mit Sicherheitsgefühlen schließen. Just die von ihm namentlich adressierte Aydan Özoguz – nicht etwa der Innenminister – ist von Alexander Gauland bereits im Bundestagswahlkampf zur Zielperson ausgerufen worden. Anne Spiegel Integrationsministerin in Rheinland-Pfalz, hatte sich geäußert, sie hat eine Pflicht zu medizinischen Alterstests bei jungen Geflüchteten im Zusammenhang mit dem genannten Tötungsfall abgelehnt. Seit Anfang Januar steht sie unter Polizeischutz. Dass sie bedroht wird, ist nicht die Schuld von Götz Aly. Aber es ist ein bitterer Umstand, den man bei der Bewertung von Schweigen mittlerweile miteinbeziehen muss. Die einen beklagen, mit ihrer Angst nicht gehört zu werden. Die anderen werden an Leib und Leben bedroht, wenn sie auf diese Angst anders als mit dem Ruf nach Schärfe und Abschottung reagieren
Nach Entstehungsbedingungen der Gewalt fragen
Soviel zum Schweigen. Aber es hilft ja nichts.
Nein, es ist nicht falsch, nach kulturellen Hintergründen und Bedingungen von Gewalt zu fragen und daraus Schlüsse zu ziehen. Die kritische Kriminologie tut genau das. Es gibt hier kein Tabu. Aber welche Schlüsse sind zulässig und vernünftig?
Wir müssen nach den Entstehungsbedingungen für Gewalt fragen, damit wir diese verändern können, um mehr Sicherheit zu schaffen. Sicherheit entsteht aus der Kombination von Prävention und effektiver Strafverfolgung. Dazu gehört die harte, kritische Auseinandersetzung mit kulturellen Mustern, mit patriarchalen Strukturen, genauso wie die Frage, welche Wohnsituation, welche familiäre Situation, welche anderen Parameter Gewalt fördern.
Aber es gibt niemals eine einfache kausale Linie von den Bedingungen, in denen ein Mensch lebt oder aufgewachsen ist, zur Tat oder Nicht-Tat. Die Wenigsten werden Täter: Die wenigsten Männer, die wenigsten jungen Männer, die wenigsten Menschen, die selbst Gewalt erlebt haben, die wenigsten Flüchtlinge.
Das Gebot der Gleichheit jedes Einzelnen vor dem Recht
Wenn wir aber von unseren Annahmen über soziale oder kulturelle Ursachen von Gewalt auf die Gefährlichkeit einzelner Menschen oder Menschengruppen schließen, anhand ihrer Biografie, ihres Geschlechts, ihres sozialen Status oder ihres kulturellen Hintergrunds, sitzen wir in der Falle. Wenn wir an solche Merkmale individuelle Sanktionen, Gefahrenabwehrmaßnahmen und Repressalien knüpfen, dann werden alle Fundamente des Rechtsstaats eingerissen: Das Recht, dass der Unbescholtene auch unbehelligt bleibt, das Diskriminierungsverbot, das Gebot der Gleichheit jedes Einzelnen vor dem Recht. Und wir gewinnen keine Sicherheit. Denn Diskriminierung fördert Gewalt. Wer nicht mehr an seinem Handeln, sondern daran gemessen wird, was er ist und wo er herkommt, hat wenig Grund, sich an Normen zu halten. Er hat davon nämlich keinen Nutzen. Es ist egal, was er tut oder lässt. Denn er gilt als gefährlich, so oder so, und er wird entsprechend behandelt.
Der Rechtsstaat ist kein naiver Luxus für friedliche Zeiten. Er ist das aus bitterer Erfahrung geronnene Wissen darüber, wie Frieden und Sicherheit in einer Gesellschaft entstehen und woran sie zerbrechen.
Warum aber löst ein fremder kultureller Hintergrund von Tätern bei uns so viel aus? Warum lösen grausamste Taten deutscher Täter in unserer unmittelbaren Nähe nicht in gleichem Maße dieses Gefühl aus, dass die Gefahr immer näher rückt, dass man persönlich immer bedrohter ist?
Wir spalten die Gefahr der Täterschaft von der eigenen kulturellen Identität ab
Weil wir alle gezwungen sind, mit dem Risiko und mit der Angst davor zu leben, dass wir selbst oder uns nahe Stehende Opfer werden. Oder Täter. Und dagegen entwickeln wir Strategien: Wir verdrängen. Ein anderes Wort dafür wäre: Wir relativeren das Risiko. Wir alle tun dies jeden Tag, sonst würden wir uns nicht mehr vor die Tür wagen. Oder wir schreiben Gefährlichkeit bestimmten Menschengruppen zu. Auch das entlastet: Die Gefahr der Täterschaft lässt sich von der eigenen kulturellen Identität abspalten. Der vertraute kulturelle Raum erscheint sicherer. Und es entsteht der trügerische Eindruck, die Kontrolle über das Risiko zurückzugewinnen, wenn es sich klar verorten lässt. Wenn es einen einfach lesbaren Indikator für Gefahr gibt, dann kann man sich davor schützen. Wenn sich die Enkelin von Flüchtlingen fern hält, wird ihr nichts passieren. Wenn die Fremden die Gefährlichen sind, dann kann man die Gefahr mit den Flüchtlingen aussperren. Der Zorn gegen die, die diesen Schluss zum unbescholtenen einzelnen Menschen nicht mitmachen, ist auch ein Zorn darüber, dass einem diese entlastende Sicht auf die Gefahr versagt wird.
Die Ängste ernst nehmen – was bedeutet das also für einen Staat? Was erwartet Götz Aly von der Politik? Dass sie Gewalttaten nicht beschönigt und die Strukturen, die Gewalt fördern, bekämpft? Ja, das erwartet er zu Recht. Darüber kann man, muss man debattieren. Ob wir genug gegen patriarchale Weltbilder tun. Ob wir den Zugang zu Waffen besser kontrollieren können. Oder ob es klug ist, Flüchtlinge monatelang in Massenunterkünfte zu zwingen. Diese Arbeit leisten aber beileibe nicht nur Kritiker der sogenannten „Willkommenskultur“. Da trübt die eigene Eitelkeit den Blick. Wenn aber damit gemeint ist, sich die trügerische Zuordnung von Gefährlichkeit zu einzelnen Menschen aufgrund ihrer Herkunft zu eigen zu machen: Nein, das darf ein Staat nicht.
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