„Freiheit ist auch anstren­gend“ Ralf Fücks im Interview mit Guido Bohsem und Stefan Kegel

Liberale Demo­kra­tien müssen ihre Leis­tungs­fä­hig­keit neu beweisen,
sagt der Grünen-Vordenker. Ein Gespräch über den Macht­an­spruch Chinas, das
Versagen des Westens in Afgha­ni­stan und die Notwen­dig­keit, bei der Klimapolitik
auf Fort­schritt statt auf Verzicht zu setzen.

Herr Fücks, wenn Sie die Augen schließen und sich frei fühlen. An was denken Sie da?

An das ganz elemen­tare Gefühl der Freiheit von Furcht. Das empfinde ich als die große Errun­gen­schaft von Rechts­staat, Demo­kratie und moderner Indus­trie­ge­sell­schaft: dass sie Freiheit von Not kombi­nieren mit der Freiheit von Zwang.

Das ist jetzt aber eine sehr kopf­las­tige Antwort.

Finden Sie? Angstfrei zu sein ist die grund­le­gende Freiheit. Für mich ist sie etwas Körper­li­ches, nicht nur etwas Intel­lek­tu­elles. Sie verleiht mir Unbeschwertheit.

Wir dachten, jetzt kommt so etwas wie „Ich liege mit einem Cocktail in einer Hänge­matte am Strand“ oder „Ich fahre mit offenem Fenster mit meiner Lieb­lings­musik im Auto durchs Land“.

Das sind Glücks­mo­mente. Freiheit und Glück sind ja Zwillinge. Wobei Freiheit auch immer die Möglich­keit des Unglücks bedeutet. Deshalb ist sie auch anstren­gend, weil wir die Konse­quenzen unserer Entschei­dungen zu tragen haben. Aber ja, Glücks­zu­stände sind Momente von Freiheit. Und sie bauen letztlich auf der Freiheit von Furcht auf.

Sie merken, wir wollen mit Ihnen über Freiheit reden. Wenn wir in andere Länder schauen, dann scheint das Modell der liberalen Welt­ord­nung gegen­wärtig zu bröckeln. Afgha­ni­stan ist das jüngste Beispiel dafür. Beun­ru­higt Sie das?

Das ist eine Frage, die mich heftig umtreibt. Ich empfinde sehr stark, dass wir auf dem Rückzug sind mit den Werten und Idealen der liberalen Demo­kratie. Erst recht, wenn man das vergleicht mit der Zeit nach dem Fall der Berliner Mauer und der demo­kra­ti­schen Euphorie jener Jahre.

Damals war die Rede vom „Ende der Geschichte“.

Die These, dass es keine Syste­mal­ter­na­tive zur Kombi­na­tion aus Kapi­ta­lismus und liberaler Demo­kratie gibt, ist schon lange widerlegt: mit dem Scheitern der Demo­kratie in Russland, dem Aufstieg Chinas als auto­ri­tärer Weltmacht und den anti­li­be­ralen Bewe­gungen in den west­li­chen Demo­kra­tien. Heute nehmen wir die Zerschla­gung der demo­kra­ti­schen Insel Hongkong durch China achsel­zu­ckend hin, ebenso die fatalen Folgen des Rückzugs aus Afgha­ni­stan. An der Univer­sität von Herat sind 60 Prozent der Studie­renden Frauen. Es gibt 270 Rich­te­rinnen in Afgha­ni­stan. Frauen als Richter – so etwas hat es dort noch nie gegeben. Die sind jetzt in Gefahr, nicht nur ihren Job, sondern ihr Leben zu verlieren. Die Kälte, mit der wir uns über dieses Drama hinweg­setzen, empfinde ich als mora­li­sches Versagen, das uns noch lange nach­hängen wird.

Waren die 20 Jahre Afgha­ni­stan-Einsatz nicht genug?

Wenn man sich auf eine mili­tä­ri­sche Inter­ven­tion wie in Afgha­ni­stan einlässt, dann muss man wissen, dass man damit eine lang­fris­tige Verpflich­tung eingeht. Der Kalte Krieg hat 45 Jahre gedauert. In Südkorea sind die Ameri­kaner seit 70 Jahren stationiert.

In Deutsch­land auch.

Genau. Zu sagen, der zivile Aufbau in Afgha­ni­stan ist geschei­tert, ist Selbst­be­trug. Natürlich ist es uns nicht gelungen, stabile staat­liche Insti­tu­tionen aufzu­bauen. Aber es hat sehr viele gesell­schaft­liche und insti­tu­tio­nelle Fort­schritte gegeben, die wir jetzt mit einem Schlag aufgeben.

Also hätten wir 50, 60, 70 Jahre in Afgha­ni­stan bleiben sollen?

Wenn man zum Ergebnis kommt, dass bestimmte Regionen in unserem stra­te­gi­schen Interesse liegen, dann muss man auch bereit sein, sich lang­fristig dort zu engagieren.

So wie China es tut.

China betreibt eine syste­ma­ti­sche Geopo­litik. Es besetzt Räume in Asien, Afrika und sogar in Europa – ökono­misch und politisch. Gleich­zeitig baut es seine mili­tä­ri­sche Macht aus. Uns fehlt dieses stra­te­gi­sche Denken. Wir müssen von der Vorstel­lung wegkommen, dass unsere Bezie­hungen zur Welt im Wesent­li­chen aus Exporten und Importen bestehen.

Kann Europa denn wenigs­tens ein paar von den Räumen besetzen, die die Ameri­kaner freigeben? Oder müssen wir alles den Chinesen oder anderen Mächten überlassen?

Im Moment können die Europäer das nicht. Sie können ja noch nicht mal den Flughafen von Kabul ohne die Ameri­kaner halten. Das allein ist schon ein Armuts­zeugnis. Denn der Grund liegt nicht in fehlenden Ressourcen, sondern darin, dass wir uns jahr­zehn­te­lang auf die Ameri­kaner verlassen haben, wenn es um Militär und inter­na­tio­nale Sicher­heit ging. Wenn Europa ein globaler Akteur sein will, dann braucht es auch eine eigen­stän­dige mili­tä­ri­sche Hand­lungs­fä­hig­keit. Es wäre aber falsch, sich von den Ameri­ka­nern und der Nato abzu­kop­peln – gerade jetzt, im System­kon­flikt zwischen Demo­kra­tien und auto­ri­tären Staaten. Gegenüber China können wir uns nur im Bündnis mit den USA behaupten.

Wie würden Sie das chine­si­sche Gesell­schafts­mo­dell überhaupt beschreiben? Ist das noch Kommunismus?

An China ist nichts kommu­nis­tisch – außer der Diktatur der Partei. Ökono­misch ist es eine Mischung aus Staats­ka­pi­ta­lismus und privatem Unter­neh­mertum. Als ideo­lo­gi­scher Kitt dient der groß­chi­ne­si­sche Natio­na­lismus. Der Wille, wieder zur Weltmacht Nummer eins zu werden, ist die stärkste Antriebs­kraft. Bis zur indus­tri­ellen Revo­lu­tion im 18. Jahr­hun­dert in Europa war China die domi­nie­rende Macht auf der Welt. Dieses Selbst­ver­ständnis ist nie ganz verschwunden und kommt jetzt wieder zum Tragen. Es geht da nicht um Augenhöhe.

Sondern?

Die chine­si­sche Führung zielt darauf ab, die eigenen Normen und Inter­essen weltweit durch­zu­setzen. Das aktuelle Beispiel ist Litauen. Wegen dessen Angebots, eine taiwa­ne­si­sche Vertre­tung zu eröffnen, übt China jetzt massiven ökono­mi­schen Druck aus. Dort, wo China etwas finan­ziert, kommt gleich­zeitig der Anspruch auf Unterordnung.

Wer soll das chine­si­sche Gesell­schafts­mo­dell denn attraktiv finden?

China ist einzig­artig, weil es der Führung gelingt, ein hartes auto­ri­täres Regime mit einem hohen Maß an ökono­mi­scher Dynamik und Inno­va­ti­ons­fä­hig­keit zu verbinden. Das ist neu und unter­scheidet sich deutlich von der Sowjet­union des Kalten Krieges. China generiert Wachstum, sozialen Aufstieg, tech­ni­schen Fort­schritt, verbunden mit dem Verspre­chen auf Stabi­lität. Hinzu kommt: Die chine­si­schen Macht­haber müssen keine Rücksicht auf lang­wie­rige demo­kra­ti­sche Verfahren nehmen. Sie können durch­re­gieren. Das ist auch für andere Macht­eliten attraktiv, nicht nur in Entwicklungsländern.

Was hat das westliche Modell dem entgegenzusetzen?

Für die Verfechter des chine­si­schen Modells bedeutet Demo­kratie Chaos, Insta­bi­lität und Krise. Die liberalen Demo­kra­tien sind in einem ganz neuen Maß gefordert, ihre Handlungs- und Leis­tungs­fä­hig­keit zu beweisen. Wenn sie nur dahin­düm­peln und der Eindruck sich festsetzt, sie bekämen nichts auf die Reihe, dann bröckelt auch die Legi­ti­ma­tion nach innen.

Worin liegt denn das Problem der west­li­chen Gesellschaft?

Uns ist die Idee von Fort­schritt abhanden gekommen. Verän­de­rungen begegnen wir vor allem mit Furcht. Selbst die Klima­be­we­gung der jüngeren Gene­ra­tion, so gut ich ihr Enga­ge­ment auch finde, ist geprägt von Zukunfts­pes­si­mismus. Die Idee des Rückzugs dominiert die Idee des Fort­schritts. Das bringt uns ins Hinter­treffen im Wett­be­werb mit anderen Systemen, die auf Dynamik und Inno­va­tion setzen, die zukunfts­ori­en­tiert sind. Es muss uns gelingen, Ökologie mit Aufbruch, Fort­schritt und Inno­va­tion zu verbinden statt mit Buße und Verzicht.

Das Lasten­fahrrad als Nonplus­ultra ökolo­gi­scher Mobilität ist in unserer Gesell­schaft nicht mehrheitsfähig.

Sehen Sie den Weg vom Auto zurück aufs Fahrrad als Rück­schritt an? Die Grünen haben für die Förderung des Lasten­fahr­rads gerade eine Milliarde Euro gefordert.

Da ist eine ideo­lo­gi­sche Debatte über ein Gefährt ausge­bro­chen, das im Stadt­ver­kehr ausge­spro­chen sinnvoll ist. Aber darin liegt eine Symbolik, die man ernst nehmen muss. Ein großer Teil der Mensch­heit, in Asien oder Afrika, bewegt sich gerade vom Lasten­fahrrad hin zu moderner Mobilität: Auto, Hoch­ge­schwin­dig­keits­züge, Fliegen. Wenn unsere Antwort auf den Klima­wandel nun im Weg zurück zum Lasten­fahrrad als Nonplus­ultra ökolo­gi­scher Mobilität besteht, ist das weder in unserer Gesell­schaft mehr­heits­fähig noch ist es inter­na­tional ein Angebot für die vielen Menschen auf der Welt, die nach einem besseren Leben streben.

Basierend auf der Corona-Erfahrung kommt bei Klima-Akti­visten immer wieder die Drohung auf, zugunsten des Klimas in ähnliche frei­heits­be­gren­zende Struk­turen zu verfallen. Wie bewerten Sie das?

Dahin kommt man, wenn man Klima­po­litik vor allem als Einschrän­kung, als Verzichts­leis­tung versteht – und die ökolo­gi­sche Krise gewis­ser­maßen als Strafe für den Übermut und das Übermaß der modernen Indus­trie­ge­sell­schaft. Das führt in eine Sackgasse. Wir müssen in erster Linie unsere Produk­ti­ons­weise verändern – Ener­gie­er­zeu­gung, Mobilität, Industrie und Land­wirt­schaft –, nicht das Verhalten der Menschen, schon gar nicht durch staat­liche Verordnungen.

Die Coro­na­zeit scheint eine gewisse Neigung hervor­ge­bracht zu haben, Einschrän­kungen hinzunehmen.

Aber gleich­zeitig hat die Pandemie gezeigt, dass darin nicht der Ausweg liegt. Der Lockdown war ja nur ein Notbehelf. Was uns aus der Coro­na­krise heraus­führt, sind Forschung und Inno­va­tion: die Erfindung von Impf­stoffen und ein Unter­neh­mertum, das in der Lage war, diese Forschung in einer unglaub­lich kurzen Frist in große Produk­ti­ons­vo­lumen zu über­setzen. Corona war geradezu das Gegen­bei­spiel dafür, dass staatlich verord­nete Beschrän­kungen die Lösung der Mensch­heits­pro­bleme darstellen.