Die Türkei hatte die Wahl – Und sich für die Auto­kratie entschieden

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Mit dem Wahlsieg für den türki­schen Präsident Recep Tayyip Erdoğan ist die Chance auf eine demo­kra­ti­sche Wende verpasst – droht nun der Türkei, vollends in die Auto­kratie abzu­gleiten. Die Hoff­nungen auf eine soli­da­ri­sche, gerech­tere und freie Gesell­schaft, sind durch die Nieder­lage von Heraus­for­derer Kemal Kılı­ç­da­roğlu, nicht erfüllt worden.

Rechts­ruck in der Türkei – Demo­kratie und offene Gesell­schaft rückt weiter in die Ferne

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan, Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP, Partei für Gerech­tig­keit und Entwick­lung) konnte sich in der Stichwahl am 28. Mai 2023 mit rund 52 Prozent der Stimmen gegen seinen Heraus­for­derer Kemal Kılı­ç­da­roğlu, Cumhu­riyet Halk Partisi (CHP, Repu­bli­ka­ni­sche Volks­partei), durch­setzen. Erdoğan wird nun in den kommenden fünf Jahren als exekutive Staats­prä­si­dent die Türkei mit großer Macht­fülle und wahr­schein­lich unter Umgehung des Parla­ments via Dekret regieren.

Kılı­ç­da­roğlu hatte mit einer kreativen Wahl­kam­pagne und einer inte­gra­tiven Rhetorik Hoff­nungen in der Bevöl­ke­rung geweckt und lag vor dem ersten Wahlgang in den meisten Umfragen vorn. Obwohl er den Zuspruch auch religiös-konser­va­tiven und moderat national einge­stellten Bürgern gewann und trotz der wirt­schaft­li­chen Misere, Führungs­schwäche, Ermü­dungs­er­schei­nung und inef­fek­tivem Kata­stro­phen­ma­nage­ment bei dem verhee­renden Erdbeben vom Februar konnte sich Erdoğan einen Achtungs­sieg erringen. Was sind die Gründe dafür?

Gründe für das Wahlergebnis

Erstens: Erdoğan und seinem Wahl­bündnis Volks­al­lianz ist es gelungen, die Aufmerk­sam­keit von der wirt­schaft­li­chen Lage – hohe Inflation, Arbeits­lo­sig­keit sowie Kauf­kraft­schwund – durch mediale Insze­nie­rungen von Pres­ti­ge­pro­jekten wie etwa die Eröffnung des ersten Atom­kraft­werks der Türkei, die Markt­ein­füh­rung des ersten türki­schen Elek­tro­autos oder durch den Erdgas­fund im Schwarzen Meer im Wahlkampf abzu­lenken. Die Wohl­stands­ver­luste der letzten Jahre entschärfte er – ohne Rücksicht auf makro­öko­no­mi­sche Notwen­dig­keiten – mit groß­zü­gigen Wahl­ge­schenken, wie etwa die Anhebung des Mindest­lohns und der Renten, die Erhöhung der Gehälter für Staats­be­diens­tete sowie kosten­losen Erdgas für private Haushalte im gesamten Monat Mai.

Zweitens: Präsident Erdoğan hat mit seiner bewährten Strategie der Dämo­ni­sie­rung, Pola­ri­sie­rung und Stig­ma­ti­sie­rung der Oppo­si­tion das Lager­denken zusätz­lich befeuert. Die Annahme, dass durch den Zusam­men­schluss von Parteien aus unter­schied­li­chen Milieus zu einem Oppo­si­ti­ons­bündnis das Lager­denken schwächen würde, hat sich nicht bewahr­heitet. Somit blieb der erhoffte Wechsel konser­va­tiver Wähler­schichten zu den Parteien der oppo­si­tio­nellen Allianz der Nation aus.

Drittens: Erdoğan verband sein Moder­ni­sie­rungs- und Wohl­stands­ver­spre­chen gekonnt mit Demons­tra­tion natio­naler Größe. Er insze­nierte sich als mächtigen Staats­mann und Schlichter inter­na­tio­naler Konflikte – wie zuletzt beim Getrei­de­ab­kommen zwischen Ukraine und Russland – oder als „felsen­festen Anwalt“ natio­naler Inter­essen – wie etwa bei seinem Veto beim Nato-Beitritt Schwedens.

Viertens: Verstim­mungen und Diffe­renzen zwischen Präsi­dent­schafts­kan­di­daten Kılı­ç­da­roğlu und Meral Akşener, der Vorsit­zenden der İYİ Parti (Gute Partei), ließen Zweifel hinsicht­lich der Geschlos­sen­heit des Wahl­bünd­nisses aufkommen. Der Regie­rungs­block – sozio­po­li­tisch und ideo­lo­gisch kohä­renter als die Oppo­si­tion – konnte sich geschickt als Garanten für Konti­nuität und Stabi­lität inszenieren.

Kein unbe­deu­tender Faktor für den Sieg für Erdoğan und seine Volks­al­lianz war die Kontrolle der Medien durch die Regierung. Den Kandi­daten des Regie­rungs­blocks fiel in den öffent­li­chen Sendern deutlich mehr Präsenz zu als den Oppo­si­ti­ons­po­li­ti­kern. Während beispiels­weise Erdoğans Kund­ge­bungen live ausge­strahlt wurden, konnte die Oppo­si­tion die Bevöl­ke­rung nur über die sozialen Medien erreichen. Darüber hinaus hat es zahl­reiche Berichte über Vorkomm­nisse bei der Stimm­ab­gabe gegeben, die Zweifel an der Korrekt­heit des Wahl­er­geb­nisses nähren. Die staat­liche Nach­rich­ten­agentur gab am Wahlabend gezielt als erstes die Zahlen aus Wahl­kreisen, bei denen der Regie­rungs­block an Stimmen deutlich überlegen war. Die Oppo­si­tion warf eine gezielte Mani­pu­la­ti­ons­taktik vor, um die Wahl­hel­fe­rinnen und Wahl­helfer der Oppo­si­ti­ons­par­teien in den Wahl­lo­kalen zu demo­ra­li­sieren und zu erreichen, dass möglichst viele die Wahl­lo­kale vorzeitig verlassen. Wie lässt sich das Wahl­er­gebnis demo­kra­tie­theo­re­tisch einordnen?

Verfes­ti­gung der Autokratie

Vieles deutet auf eine Stabi­li­sie­rung und Verfes­ti­gung des auto­kra­ti­schen Systems, zu dem sich die Türkei schritt­weise entwi­ckelt hat. Die Gezi Park Proteste im Jahr 2013 markiert die auto­ri­täre Wende in der Türkei. Beschleu­nigt hat sich der Abwärts­trend der türki­schen Demo­kratie mit dem geschei­terten Mili­tär­putsch, auf den Erdoğan mit der Ausrufung von Ausnah­me­zu­stand, Repres­sion und Verfol­gung der Oppo­si­tion antwor­tete. Der Demo­kra­tie­abbau fand seinen Nieder­schlag bei der Note des Frei­heits­ra­tings von Freedom House für die Türkei, die sich bereits im Jahr 2017 um 28 Punkte verschlech­terte. Mit nur 38 Punkten rückte die Türkei in die Nähe von Russland (20), China (15) und Aser­bai­dschan (14).

Spätes­tens seit dem Übergang zum Präsi­di­al­system lässt sich die Regie­rungs­form der Türkei als auto­kra­tisch bezeichnen. Nach der klas­si­schen Defi­ni­tion von Karl Loewen­stein sind Auto­kra­tien Staaten, in denen eine Einzel­person oder eine Versamm­lung (Parlament), ein Komitee, eine Junta oder eine Partei unkon­trol­liert Macht ausübt. Weiter lässt sich die Auto­kratie als Macht­aus­übung eines allei­nigen Macht­trä­gers spezi­fi­zieren, die keinen bzw. nur schwachen verfas­sungs­mä­ßigen Beschrän­kungen unterliegt.

Das poli­ti­sche System der Türkei weist wesent­liche Charak­ter­züge einer Auto­kratie auf: Macht­kon­zen­tra­tion der Exekutive, einge­schränkte Kontroll­fä­hig­keiten des Parla­ments und der Judi­ka­tive, eine nicht-intakte Gewal­ten­tei­lung und Recht­staat­lich­keit, ille­gi­time Einfluss­nahme auf die (Straf-)Gerichte, Einschrän­kung der Menschen‑, Grund- und Frei­heits­rechte, Verfol­gung von Oppo­si­tio­nellen, intrans­pa­rentes staat­li­ches Auftrags­ver­ga­be­system und Kontrolle der Medien durch regie­rungs­nahe Unternehmens-Konglomeraten.

Die verpasste Chance auf demo­kra­ti­sche Wende

Mit dem Wahl­er­gebnis ist die Chance auf eine demo­kra­ti­sche Wende verpasst – eine soli­da­ri­sche, gerech­tere und freie Gesell­schaft und ein Regie­rungs­han­deln, das Menschen- und Grund­rechte und Recht­staat­lich­keit achtet, ist weiter in die Ferne gerückt.

Erdoğans Heraus­for­derer Kılı­ç­da­roğlu versprach eine demo­kra­ti­sche Wende herbei­zu­führen, die defekte Recht­staat­lich­keit instand zu setzen, das Vertrauen in die Justiz und Unab­hän­gig­keit der Recht­spre­chung wieder­her­zu­stellen, Korrup­tion zu bekämpfen und für Trans­pa­renz bei der öffent­li­chen Auftrags­ver­gaben zu sorgen. Mit einem neuen Reform­geist sollte ein günstiges Inves­ti­tions- und Geschäfts­klima geschaffen werden, um inter­na­tio­nale Inves­toren anzu­ziehen, und die türkische Wirt­schaft wieder auf Kurs zu bringen.

Mit der Wieder­wahl von Erdoğan und der Parla­ments­mehr­heit für die Volks­al­lianz droht nun der Türkei, vollends in die Auto­kratie abzu­gleiten. Neben Erdoğans Habitus, Poli­tik­ver­ständnis und seinem bishe­rigen Führungs­stil sprechen drei Entwick­lungen dafür.

Natio­na­lismus und Rechtsruck

Bei den Parla­ments­wahlen am 14. Mai konnten natio­na­lis­ti­sche Parteien so viel Stimmen auf sich vereinen wie nie zuvor. Auf İyi Parti (9,7), MHP (10,07), BBP (0,97) und Zafer Partisi (2,23) – alle Abspal­tungen der Milliyetçi Hareket Patisi (MHP, Partei der natio­na­lis­ti­schen Bewegung) und verankert in der Tradition der Ülkücü Bewegung – kommen auf knapp 23 Prozent der Stimmen. Türki­scher Natio­na­lismus ist im neuen Parlament mit einer Stärke von deutlich über 23 Prozent vertreten, weil über AKP- und CHP-Listen weitere Natio­na­listen in die Natio­nal­ver­samm­lung einziehen konnten. Die natio­na­lis­ti­sche Wende bildet sich auch in der Wahl­kampf­rhe­torik von Staats­prä­si­dent Erdoğan und – beim zweiten Wahlgang – von Kılı­ç­da­roğlu ab.

Das Wahl­er­gebnis zeigt auch den Rechts­ruck, dem die Türkei nicht erst seit der Wahl­kampf­phase, sondern seit mehreren Jahren ausge­setzt ist. Aus den Parla­ments­wahlen gingen die rechten Kräfte gestärkt hervor. Zehn von 16 Parteien lassen sich dem natio­na­lis­ti­schen Spektrum zuordnen, fünf Parteien als rechts­ra­dikal und rund Zwei-Drittel der Parla­men­ta­rier als rechts­kon­ser­vativ einstufen.

Dieser Rechts­ruck und der entfachte Natio­na­lismus stehen einer parti­ellen demo­kra­ti­schen Wende und Norma­li­sie­rung des Verhält­nisses zur Euro­päi­schen Union im Wege.

Hardliner im Kabinett

In den Medien werden Hardliner wie Süleyman Soylu (Ex-Innen­mi­nister), Mustafa Destici (Vorsit­zender der rechts­ra­di­kalen BBP), Fatih Erbakan (Vorsit­zender des isla­mis­ti­schen YRP), Hakan Fidan (Geheim­dienst­chef) als Minister verhan­delt. Was ein großes Indiz dafür ist, dass Erdoğan seinen auto­kra­ti­schen Kurs fort­setzen wird. Bei einer derar­tigen Zusam­men­set­zung des Kabinetts ist eine Kehrt­wende in der türki­schen Außen- und Sicher­heits­po­litik sowie ein Durch­bruch in den deutsch-türki­schen bzw. EU-Türkei Bezie­hungen nicht zu erwarten.

In diese Richtung deutet auch die Ermitt­lungs­un­ter­su­chung, die der Oberste Rundfunk- und Fern­sehrat (RTÜK) gegen mehrere oppo­si­tio­nellen Sender – darunter Halk Tv, Tele 1, Tv 5, KRT, Flaş Haber und Sözcü Tv – einge­leitet hat. Ihnen wird vorge­worfen, dass ihre Wahl­sen­dungen am 28. Mai 2023 Belei­di­gungen und Angriffe enthalten. Ein weiteres Zeichen für die künftige Ausrich­tung der neuen Regierung wird es sein, wie gegen den İstanb­uler Ober­bür­ger­meister Ekrem İmamoğlu juris­tisch-politisch vorge­gangen wird, dem eine Frei­heits­strafe droht.

Kein Durch­bruch im Verhältnis zu EU und Deutschland

Anzu­nehmen ist, dass die türkische Außen­po­litik weiterhin auf eine trans­ak­tio­nale Strategie setzen und ihre Fühler in Richtung Westen (USA, EU, Deutsch­land, Groß­bri­tan­nien) und Osten (Russland, China, Iran und Golf­staaten) strecken wird. Es lässt sich nahezu ausschließen, dass Ankara die Russ­land­sank­tionen mitträgt – nicht nur aus sicher­heits­po­li­ti­schem Bedenken, sondern auch aus wirt­schaft­li­chen Inter­essen. Die Türkei ist in Syrien, auf dem Kaukasus, Balkan und in Zentral­asien auf eine wohl­wol­lende Haltung Russlands ange­wiesen. Aufgrund der wirt­schaft­li­chen Lage kann die Regierung auf Einnahmen aus dem Tourismus aus Russland, auf die Erdgas­lie­fe­rungen und Kapital aus Russland nicht verzichten.

Auch ein Durch­bruch in den bila­te­ralen Bezie­hungen zwischen der Türkei und Deutsch­land mit einer Bundes­re­gie­rung unter Betei­li­gung der Grünen unwahr­schein­lich, solange die türkische Regierung von ihrem auto­kra­ti­schen Kurs nicht abkommt. Denkbar ist jedoch eine Vertie­fung der Koope­ra­tion auf dem Gebiet der Sicher­heits­po­litik und beim Russland-Ukraine-Krieg.

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