Sind die Grünen im Umfra­gehoch, weil sie gut aussehen?

© Jörg Nickel, Referent für Presse- Öffent­lich­keits­arbeit, Büdnis 90/​Die Grünen (Schleswig-Holstein)

Die Grünen sind in der Mitte der Gesell­schaft angekommen, weil sie so hot sind, meint Welt-Chefre­dakteur Ulf Poschardt. Wirklich? Eine Gegenrede.

Also, ich bin ja durchaus bereit, auch mal was Positives über den baden-württem­ber­gi­schen Minis­ter­prä­si­denten Winfried Kretschmann zu sagen. Aber dass er hot aussieht, wie der Chefre­dakteur der Welt, Ulf Poschardt, meint (Paywall), würde selbst ich mich nicht trauen. Das Gleiche gilt für Cem Özdemir und Tarek Al-Wazir. Und Sven Giegold, Reinhard Bütikofer, Michael Kellner und Anton Hofreiter? Lassen wir das. 

Portrait von Peter Unfried

Peter Unfried ist Chefre­porter der taz und Autor.

Einmal sah der Bundes­vor­sit­zende Robert Habeck in der Tat richtig gut aus. Da saß aller­dings in einer Talkshow direkt neben ihm der FDP-Chef in einem affek­tiert wirkenden Jäckchen. Traut sich offenbar auch in Style­fragen niemand in der FDP, dem Maximo Lindner zu sagen, dass er manche Dinge besser nicht machen sollte.

Selbst­ver­ständlich ist es auch für Politiker besser, „gut“ auszu­sehen als gar nicht. Grund­sätzlich aber ist das Angezo­gensein eines Menschen ein komplexer Mix aus Körper, Geist, Stimme, Humor, Lächeln und Inhalten – in Abhän­gigkeit von indivi­du­ellen und zeitgeist­lichen Parametern. Wenn derzeit zwei- bis dreimal mehr Leute die Grünen wählen würden als vor einiger Zeit, dann liegt das definitiv daran, dass die sich von ihnen angezogen fühlen.

Solche Grüne und andere Grüne

Hier der Versuch einer Antwort: Niemand hätte von dem früheren Spitzen­grünen Jürgen Trittin erwartet, dass er  sensibel und einfühlsam auf die Sorgen und Nöte von normalen Menschen eingeht und bereit ist, Politik für sie zu machen, ohne dass sie sich in spitzen­steu­er­satz­zah­lende Verbots- und Verzicht­a­postel verwandeln. Das mag eine Projektion gewesen sein, für die Trittin pars pro toto zu stehen schien. Jeden­falls war sie sehr wirkungs­mächtig und sehr viel weniger geleitet von dem „links­grünen“ Inhalt als man in der Partei glauben wollte. Kein normaler (also wenig politik­in­ter­es­sierter) Mensch weiß, dass es bei den Grünen solche Grüne und andere Grüne gibt.

Es ist die Tonlage, auf die Leute aller­gisch reagieren. Es ist die Sprache der zweiten Generation Grün, die auch heute noch mehrheitlich bei Partei­tagen gesprochen wird und inter­es­san­ter­weise auch einen hohen Frauen­anteil hat. Anti-ideal­ty­pisch ist das zu erleben, wenn der Frakti­ons­vor­sit­zende Anton Hofreiter mit laien­schau­spie­le­ri­schem Instru­men­tarium katego­rische Haltung gegen den bösen Rest der Welt simuliert.

Diese Sprache der Abgrenzung – entweder ihr kapiert es oder ich verdamme euch – wird aber zumindest im Moment in der breiten Öffent­lichkeit nicht mehr mit den Grünen gleich­ge­setzt. Das wird von einigen sicher als Verlust betrachtet, doch es ist die Grundlage für politische Relevanz.

Der Gegenpol zur AfD ist in der Mitte

Es ist nicht nur der Bundes­vor­sit­zende Habeck, der diese Sprache in einer scheinbar endlosen Reihe von Talkshows bekannt gemacht hat. Und der Sprache als Schlüssel für demokra­tische und in seinem Verständnis „links­li­berale“ Mehrheiten versteht, wie man in seinem Spiegel-Bestseller „Wer wir sein könnten“ nachlesen kann. Speziell Vizemi­nis­ter­prä­sident Al-Wazir in Hessen hat gezeigt, dass Grüne aus einer Regierung heraus und mit maßvoller Politik und Sprache Wahlen gewinnen können, wenn die Bürger den dafür stehenden Protago­nisten vertrauen.

Die Grünen sind – Stand jetzt – der antipo­pu­lis­tische Gegenpol zur natio­na­lis­ti­schen und reaktio­nären AfD und entspre­chenden Strömungen in Union, SPD und Links­partei. Nicht trotz, sondern wegen ihrer neuen Sprache. Der Gegenpol zur AfD – Alt- und Salon­linke müssen jetzt stark sein – ist eben nicht am gegen­über­lie­genden Rand, sondern  in der Mitte. So ist das – selbst­ver­ständlich abschätzig gemeinte – Kompo­situm „Habeck-Grüne“ sowohl zum Kampf­be­griff der „Aufstehen“-Linken als auch der Lindner-Liberalen geworden. Hier lautet der Vorwurf: nicht links. Dort: zu links. Gleich­zeitig versuchen CSU-Strategen, den Begriff „bürgerlich“ als Gegensatz zu den Grünen zu besetzen – statt als Gegensatz zur AfD.

Es sind alles Versuche, die Grünen wieder in die Randrolle zurück­zu­drängen, aus der sie ausge­brochen sind, erst in den Ländern und seit einiger Zeit auch im Bund. Der histo­rische Wende­punkt, der die Kultur drehte, war der Regio­nal­kon­flikt Stuttgart 21. Er machte aus Minder­heits­re­vol­tierern und Achtund­sech­zigern Tradi­ti­ons­pfleger und Verfas­sungs­pa­trioten, die die res publica aus ihrem Zentrum verteidigen.

Wohlfühlwort „progressiv“

Noch immer sprechen grüne Politiker aller­dings in jedem zweiten Tweet reflexhaft davon, wie „progressiv“ sie seien. Das gehört zum Selbstbild der Kernkund­schaft. Ein Wohlfühlwort, so wie Christ­de­mo­kraten von der „Bewahrung der Schöpfung“ reden – ohne zu wissen, was sie damit meinen. Aber der Zeitgeist der Bundes­re­publik ist – bei allem Wissen um das Elend der Dienst­leis­tungs­skla­verei – ein konservativer.

Es geht nicht um Revolution, es geht ums Bewahren.

Der Münchner Soziologe Armin Nassehi hat schon vor einiger Zeit gesagt, dass jene Partei künftig vorn sein werde, die in der Lage sei, die „konser­va­tiven Bezugs­pro­bleme“ der Leute zu lösen. Das heißt nicht, dass diese Partei konser­vativ sein muss.

Das Grund­problem ist, vor allem im Osten, die Realität oder das Gefühl fehlender sozialer und kultu­reller Teilhabe. Die Partei­vor­sit­zenden Annalena Baerbock und Robert Habeck adres­sieren das Problem zunächst „links“, mit der Ankün­digung der Überwindung von Hartz IV, dann aber auch schon mit dem weiter­ge­henden Teilhabe-Gedanken eines bedin­gungs­losen Grund­ein­kommens. Die Zugehö­rigkeit wird weder an „das Volk“ (AfD), noch an Erwerbs­arbeit (SPD) geknüpft. Sie ist ein Bürger­recht. Das Neue scheint mir zu sein, dass Grüne inzwi­schen besser verstehen, dass es häufig kulturell fortschritts­skep­tische Milieus sind, die soziale Teilha­be­pro­bleme haben. Das heißt, dass sie Leute nicht mehr katego­risch verdammen, wenn sie in Fragen der Identi­täts­po­litik nicht auf Partei­tags­linie sind.

Konser­vativ ist der neue Gegensatz zu reaktionär

Gleich­zeitig ist auch die „Ehe für alle“ eine progressiv-liberale Lösung für ein konser­va­tives Bezugs­problem, nämlich den Wunsch nach Halt, Sicherheit und Anerkennung, den alle Leute haben, egal ob akade­mische Weltbürger oder mit dem Reaktio­nären flirtende Nationalisten.

Die werden die Grünen schwer erreichen, aber Bedingung für das Lösen politi­scher Probleme ist die neue Offenheit, die zumindest im Moment mitschwingt – und im Gegensatz zu früher nicht mehr so einfach als Macht­op­por­tu­nismus abgetan werden kann, sondern mehr und mehr als Grundlage für Politik in einer plura­li­sierten Gesell­schaft verstanden wird. Im Idealfall gelingt ihnen der große Sprung vom pseudo­ra­di­kalen Entweder-Oder zu Macrons „en meme temps“,  weil die Wider­sprüche der Gegenwart nicht mehr hegelia­nisch zu synthe­ti­sieren sind, sondern unauf­gelöst mitein­ander fruchtbar gemacht werden müssen. (Keine Ahnung, wie genau.)

Der Erfolg von Helmut Kohl, Angela Merkel und auch Gerhard Schröder beruhte ja darauf, dass man sehr unter­schied­liche Teile der Gesell­schaft für eine anscheinend gemeinsame Zukunft gewinnen konnte. Bei Kohl war es das europäische Projekt, was alles andere als konser­vativ war. Die briti­schen Tories dagegen sind nicht konser­vativ, sondern disruptiv. Das gilt auch für die national-italie­nische Fünf-Sterne-Bewegung.

Wenn nun Kandi­daten für den CDU-Vorsitz Konser­va­tismus simulieren und im Schielen auf die AfD die Partei ins Reaktionäre verrücken, dann könnte es sein, dass sie damit eben nicht zu seligen 40 Prozent zurück­kehren, sondern ihre Wähler weiter aufspalten.

In diesem Fall wird der Bedarf noch größer für eine neue Form einer 20-Prozent-plus-Partei, die eben keine „Volks­partei“ der Gleichen oder Ähnlichen ist, sondern eine Bürger­partei, die breite Teile der hetero­genen Gesell­schaft für eine Zukunft gewinnt, die eine mehrheits­fähige Balance zwischen Bewahren und dafür notwen­diger Verän­derung findet. Winfried Kretschmann hat dafür in seinem Buch „Worauf wir uns verlassen wollen“ den Begriff des „progres­siven Konser­va­tismus“ geprägt, um das Bedürfnis nach dem Verweilen des europäi­schen Augen­blicks mit der Notwen­digkeit des Arsch­hoch­kriegens zu koppeln.

Ich will noch gar nicht von sozial­öko­lo­gi­scher Zukunfts­po­litik sprechen, da ist es mit der von Ulf Poschardt behaup­teten „kultu­rellen Hegemonie“ noch ein sehr weiter Weg.

Aber eine bundes­po­li­tisch relevante Partei des entschlos­senen Europä­ertums und der offenen und sozialen europäi­schen Gesell­schaft (aber nicht der offenen Grenzen) wird dringend gebraucht. Dafür kann man nicht nur, dafür muss man Hegemonie gewinnen. Die EU und die offene Gesell­schaft sind Dinge, die sich – alles in allem – bewährt haben. Wir sollten sie gestalten, um sie zu bewahren. Es wäre also fatal, wenn „Links­li­berale“  konser­vativ mit reaktionär verwechselten.

Im Gegenteil: Konser­vativ ist der neue Gegensatz zu reaktionär.

Textende

Hat Ihnen unser Beitrag gefallen? Dann spenden Sie doch einfach und bequem über unser Spendentool. Sie unter­stützen damit die publi­zis­tische Arbeit von LibMod.

Wir sind als gemein­nützig anerkannt, entspre­chend sind Spenden steuerlich absetzbar. Für eine Spenden­be­schei­nigung (nötig bei einem Betrag über 200 EUR), senden Sie Ihre Adress­daten bitte an finanzen@libmod.de

 

Verwandte Themen

Newsletter bestellen

Mit dem LibMod-Newsletter erhalten Sie regel­mäßig Neuig­keiten zu unseren Themen in Ihr Postfach.

Mit unseren Daten­schutz­be­stim­mungen
erklären Sie sich einverstanden.