„Die Vertei­digung der liberalen Demokratie ist die Kernfrage unserer Zeit“

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Wir müssen Europa neu denken, sagt Ralf Fücks im Interview mit dem Green European Journal. Mehr Europa heiße nicht immer stärkere Nivel­lierung der Unter­schiede, sondern Einheit in der Vielfalt. Denken wir Europa als ein politi­sches Netzwerk, mit gemein­samen norma­tiven Grund­lagen und Insti­tu­tionen. Nur wenn wir die Freiheit in Europa erneuern, werden wir sie bewahren können. 

Roderick Kefferpütz: Die politische Landschaft Europas verändert sich. Der Wahlsieg Macrons, die Bildung einer Rechts­ko­alition in Öster­reich, die antili­be­ralen Tendenzen in Polen und Ungarn und der Ausgang der italie­ni­schen Wahlen deuten auf wachsende Spaltungs­linien innerhalb der EU. Wie wertest Du vor diesem Hinter­grund die Fortsetzung der „Großen Koalition“ in Berlin?

Ralf Fücks: Vorder­gründig ist das nach Monaten politi­scher Nervo­sität in Deutschland ein Signal der Stabi­lität und Konti­nuität. Ich bin aber nicht allzu zuver­sichtlich, was die politische Handlungs­fä­higkeit dieser Koalition angeht. Die SPD ist angeschlagen und wird versuchen, sich gegen die Christ­de­mo­kraten zu profi­lieren. Und die Union weiß nicht recht, wofür sie eigentlich steht. Zwar spricht man von einem neuen Anlauf in der Europa­po­litik und von der digitalen Heraus­for­derung, aber die Koali­ti­ons­ver­ein­barung ist eher ein Dokument des kleinsten gemein­samen Nenners. Man sollte von Berlin keine großen politi­schen Initia­tiven erwarten, obwohl das dringend nötig wäre.

Seit unserem letzten Interview hast Du ein neues Buch veröf­fent­licht („Freiheit vertei­digen“) sowie das „Zentrum Liberale Moderne (LibMod)“ gegründet. Was hat Dich dazu bewegt, was ist Deine Ausgangsthese?

Die liberalen Demokratien stehen vor einer doppelten Heraus­for­derung. Von außen durch selbst­be­wusst auftre­tende Mächte wie Russland, China, Iran oder auch die Türkei. Die verstehen sich nicht mehr als Übergangs­ge­sell­schaften von einer autori­tären Vergan­genheit hin zu einer demokra­ti­schen Zukunft, sondern als Gegen­modell zum Westen. Das Konzept der autori­tären Moder­ni­sierung wird selbst­be­wusst vertreten und bringt uns zurück in eine globale System­kon­kurrenz zwischen autori­tären und demokra­ti­schen Gesell­schafts­sys­temen. Gleich­zeitig haben wir den Feind im eigenen Haus. Eine antili­berale Gegen­be­wegung verbreitet sich in Europa und in den USA, also in den Kernländern des Westens. Trump, Brexit, die zuneh­mende Stärke rechts­po­pu­lis­ti­scher bis rechts­ra­di­kaler Bewegungen sind Ausdruck dessen. Die Vertei­digung der liberalen Demokratie ist die Kernfrage unserer Zeit geworden. Dabei geht es nicht um die Bewahrung des Status quo: Vertei­digung heißt Erneuerung.

Welche Ursachen stecken hinter dieser antili­be­ralen Revolte?

Wir befinden uns in einer Moder­ni­sie­rungs­krise. Funda­mentale Verän­de­rungen spielen sich mit großer Geschwin­digkeit ab: Ökono­mische Globa­li­sierung mit den zuneh­menden Leistungs­druck, die digitale Revolution mit ihren massiven Verän­de­rungen für die Arbeits- und Lebenswelt, globale Migration mit den kultu­rellen und sozialen Konflikten, oder auch die Verän­derung der Geschlech­ter­ver­hält­nisse, eine Entwicklung deren politische Dimension wir unter­schätzen. Diese Verän­de­rungen erzeugen ein Grund­gefühl von Unsicherheit in weiten Teilen unserer Gesell­schaft. Der Eindruck dass Wohlstand und Sicherheit prekär geworden sind, wurde von drei symbol­träch­tigen Ereig­nissen angeschärft. Das waren 9/​11, der Anschlag auf das World Trade Centre in New York, die Finanz­krise von 2008, die ja immer noch nicht bewältigt ist, und die große Flücht­lings­be­wegung von 2015–2016. Alle drei haben das Grund­gefühl von Kontroll­verlust verstärkt. Es geht nicht darum, dass es den Leuten drama­ti­scher schlechter gehen würde als in der Vergan­genheit. Das ist zwar für Teile der Arbei­ter­schaft tatsächlich der Fall, aber nicht in Deutschland. Es geht um eine negative Antizi­pation von Zukunft. Man schaut der Zukunft mit Furcht und nicht mit Zuver­sicht entgegen.

Aber welche Leitidee kann Zuver­sicht geben in diesen stürmi­schen Zeiten? In den autori­tären Staaten und auch bei den antili­be­ralen Bewegungen ist es der Natio­na­lismus. Im Gegenzug sind die freien, liberalen Gesell­schaften von einer hohen Indivi­dua­li­sierung und damit auch Fragmen­tierung geprägt. Was ist das verbin­dende Element in der freien Gesell­schaft, das Zuver­sicht bieten kann? 

Das ist eine alte Grund­me­lodie in der Ausein­an­der­setzung um die Moderne. Helmut Plessner hat diesen Grund­kon­flikt 1924 in seinem Buch „Die Grenzen der Gemein­schaft. Eine Kritik des sozialen Radika­lismus“ darge­stellt. Er beschreibt den Konflikt zwischen einer liberalen Gesell­schaft mit fortschrei­tender Indivi­dua­li­sierung, wachsender kultu­rellen Vielfalt und der Auflösung aller tradi­tio­nellen Bindungen, und radikalen Gemein­schafts­be­we­gungen von links und rechts in Gestalt des Kommu­nismus und eines radika­li­sierten völki­schen Natio­na­lismus. Die Volks­ge­mein­schaft ist der Gegen­entwurf zur liberal-indivi­dua­lis­ti­schen Gesell­schaft. Die grund­le­genden Ideen des Libera­lismus, also indivi­duelle Freiheit, Plura­lismus, kultu­relle Vielfalt und Weltof­fenheit, können wir nur vertei­digen, wenn wir Antworten finden auf das Grund­be­dürfnis nach Sicherheit, Gemein­schaft und Zugehö­rigkeit. Dass der Mensch Bindung braucht, dass er das Gefühl braucht, nicht alleine gelassen zu werden in den Stürmen der Verän­derung, die sich um uns herum abspielen – das müssen wir ernst nehmen! Die entschei­dende Frage ist dann, wie wir Zusam­menhalt definieren, und zwar auf eine nicht- exklusive Weise: nicht ethnisch, wie die Volks­ge­mein­schaft, oder religiös, wie der Islamismus, aber auch nicht als Klassen­so­li­da­rität, wie der Kommu­nismus, sondern republi­ka­nisch. Eine politische Gemein­schaft freier Bürger, die gemeinsame Werte und Grund­über­zeu­gungen teilen, und solida­risch für einander einstehen, das ist die Antwort.

Hat die postmo­derne Linke nicht eher ihre eigene Identi­täts­po­litik betrieben statt die republi­ka­nische Gemein­samkeit zu stärken? 

Die Identi­täts­po­litik von links war eine Falle. Die Politi­sierung von Identi­täts­fragen wie Geschlecht, ethnische, kultu­relle oder religiöse Zugehö­rigkeit, hat zu diesem populis­ti­schen Gegen­schlag beigetragen. Nach der Identi­täts­po­litik von links haben wir jetzt eine weiße Mehrheits­ge­sell­schaft, die ihre Identität rekla­miert und verteidigt. Deshalb müssen wir uns auf ein republi­ka­ni­sches Verständnis von Demokratie mit gleichen Rechten und gleichen Chancen für alle besinnen und Politik nicht aus Gruppen­iden­ti­täten ableiten.

In Deutschland wird der Begriff „Heimat“ in diesen Zusam­menhang disku­tiert und die Bundes­re­gierung hat ein Heimat­mi­nis­terium etabliert. Ist das die Antwort? 

Die Große Koalition hat schon verstanden, dass es in Zeiten der Entgrenzung ein Bedürfnis nach Zugehö­rigkeit und Bindung gibt. Aber das kann man natürlich nicht mit einem Heimat­mi­nis­terium, beant­worten. Der schei­dende Innen­mi­nister de Maiziere hat darauf die richtige Antwort gegeben: Heimat ist keine Staats­aufgabe. Sie gehört in die Sphäre der Zivil­ge­sell­schaft. Aller­dings ist es schon richtig, den Rechts­po­pu­listen den Begriff Heimat streitig zu machen. Dafür muss man aber alter­native Defini­tionen von Heimat durch­buch­sta­bieren. Heimat ist dort, wo ich anerkannt und geachtet werde. Sie muss offen sein für Neuan­kömm­linge, die ihr Leben in Gemein­schaft mit anderen gestalten wollen.

Welche Rolle spielt die Europäische Union wenn es um Heimat geht?

Ich glaube, für die Jüngeren, also die Generation Erasmus, ist Europa schon Teil ihres Selbst­ver­ständ­nisses. Wir haben ja nie nur eine Identität, sondern sind gleich­zeitig Europäer, Deutsche, Franzosen oder Italiener, mit unserer ganzen Geschichte, Kultur und Sprache. Wir sind auch Angehörige bestimmter Regionen mit ihrer spezi­ellen Landschaft, ihrer Geschichte und Dialekte. Das sind multiple Identi­täten mit vielen Anschluss­mög­lich­keiten. Europa gibt uns eine weitere Schicht von politi­scher Zugehörigkeit.

Aber Europa kann sich weit weg anfühlen und vielleicht dadurch den Eindruck des Kontroll­ver­lustes verstärken.

Das gilt vor allem, wenn man Europa als europäi­schen Zentral­staat beschreibt. Dann löst es diese Gegen­re­aktion aus. Der europäische Zentral­staat ist ein Eliten­projekt. Die Bildungs- und Wirtschafts­eliten können sich in einen solchen post-natio­nalen Europa wunderbar bewegen, aber der Großteil der Bevöl­kerung empfindet die Auflösung der Natio­nal­staaten als Verlust von Möglich­keiten zur Mitge­staltung. Die Politik rückt weiter von ihnen weg, sie wird noch anonymer und bürokra­ti­scher. Darum müssen wir Europa neu denken. Wir müssen raus aus der falschen Alter­native zwischen einem Europa der Natio­nal­staaten oder den Verei­nigten Staaten von Europa. Europa muss viel stärker als ein politi­sches Netzwerk gedacht werden, mit gemein­samen norma­tiven Grund­lagen und Insti­tu­tionen. Mehr Europa heißt nicht immer stärkere Nivel­lierung der Unter­schiede, sondern Einheit in der Vielfalt.

Mit Blick auf den Koali­ti­ons­vertrag der neuen Großen Koalition: Gibt er die Antwort auf die funda­men­talen Veränderungen?

Den Koali­ti­ons­vertrag muss man nicht in der Luft zerreißen. Er enthält eine Menge richtiger Dinge. Wenn man aber das Klein­ge­druckte liest, dann merkt man, dass es sich am Status quo orien­tiert. Die Große Koalition ist der Versuch, durch die Ausschüttung von viel Geld mit der Gießkanne die Probleme irgendwie in den Griff zu kriegen. Man findet wenig Zukunft in den Koali­ti­ons­ver­ein­ba­rungen. Es gibt zum Beispiel keine Struk­tur­re­formen in funda­men­talen Feldern wie Rente, Gesund­heits­system, oder bei der Frage der ökolo­gi­schen Erneuerung unserer Ökonomie. Das ist für mich eine der größten Enttäu­schungen. Die Debatte um Ökologie als Chance für indus­trielle Moder­ni­sierung und wirtschaft­liche Zukunfts­fä­higkeit ist vollkommen verschwunden. Das ist ein Rückfall um zehn Jahre. In der bundes­deut­schen Partei­en­land­schaft sind es zur Zeit nur die Grünen, die ansatz­weise diesen Zukunfts­diskurs führen.

Und außen­po­li­tisch? Der Angriff von außen, also von Ländern wie Russland, ist ja Teil Deiner Ausgangsanalyse. 

Der außen­po­li­tische Teil der Koali­ti­ons­ver­ein­ba­rungen ist Reali­täts­ver­drängung. Es gibt kaum einen Hinweis auf die geopo­li­ti­schen Heraus­for­de­rungen, mit denen sich die Europäische Union heute konfron­tiert sieht. Im Grunde ist es immer noch die alte Vorstellung, dass man mit Geld und guten Worten alle Konflikte lösen kann. Man stellt sich nicht den Konflikt gegenüber autori­tären Mächten, wie Russland. Auch die Frage des Umgangs mit China wird kaum ernsthaft disku­tiert. Es fehlt das Selbst­be­wusstsein, aber auch ein Element von Macht­be­wusstsein. Europa muss sich nicht nur um Wirtschafts­be­zie­hungen und Entwick­lungs­hilfe kümmern, sondern auch um Sicher­heits­po­litik im klassi­schen Sinne. Das beinhaltet auch ein macht­be­wusstes Auftreten. Davon sind wir noch ziemlich weit entfernt.

Das macht­be­wusste Auftreten hatten wir ja an die Ameri­kaner outges­ourct. Die ziehen sich aber zurück.

Diese Schizo­phrenie war schon immer da. Auf der einen Seite waren wir froh über die Ameri­kaner mit ihrer hard power und gleich­zeitig haben wir sie wegen Milita­rismus kriti­siert. Diese Arbeits­auf­teilung von hard power und soft power gibt es aller­dings auch in Europa. Da waren bisher Frank­reich und Großbri­tannien für hard power zuständig. Die Bundes­re­publik fühlt sich dafür nicht zuständig, weswegen wir auch eine Armee haben, die nicht einsatz­fähig ist. Die deutsche U‑Bootflotte zum Beispiel, das sind sechs U‑Boote, von denen kein einziges einsatz­fähig ist. Ähnliches gilt für die Luftwaffe. In diesen Zusam­menhang muss man auch die Diskussion um die Europäi­sierung der Vertei­digung stellen. Eine gemeinsame europäische Vertei­digung ist ein richtiges Ziel, darf aber nicht zur Ausrede werden. Wir reden gern über die Europäi­sierung der Vertei­digung, um nicht über die sicher­heits­po­li­tische Verant­wortung Deutsch­lands zu sprechen.

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