Netanyahu: Der lange Schatten des Ministerpräsidenten

Shutter­stock /​ Roman Yanushevsky

Die Karriere des israe­li­schen Minis­ter­prä­si­denten Benjamin Netanyahu könnte bald vorbei sein – Justiz und politische Gegner werden ihm immer gefähr­licher. Doch auch unter einer neuen Regierung könnte sein Populismus fortleben, meint unser Kolumnist Richard C. Schneider. Noch radikalere Figuren warten auf ihre Chance.

Am Dienstag, den 27. November, kamen einige wenige Tausend Menschen zu einer Demons­tration in Tel Aviv zusammen. Es war eine Demons­tration gegen den „Coup d’état“, gegen den angeb­lichen Staats­streich, den – so Benjamin Netanyahu – Justiz, Polizei und die, natürlich linken, Medien gegen ihn führen. Nachdem Israels General­staats­anwalt Avichai Mandelblit Israels Premier wegen Korruption in drei Fällen angeklagt hat, machte der waidwunde Netanyahu genau das, was man von seines­gleichen bereits kennt: Angriff, Angriff, Angriff. Auf den Staat, den er doch eigentlich reprä­sen­tieren sollte. Erinnert das irgendwie an Donald Trump, an Polen, Ungarn? In einer öffent­lichen Rede unmit­telbar nach der Anklage, bediente sich Netanyahu aus dem Reper­toire des Populisten. Die Ankla­ge­schrift lautete „der Staat gegen Benjamin, Sohn des Benzion Netanyahu.“ Doch Bibi drehte das einfach um: Er, Netanyahu, gegen den Staat. Das war keine Überra­schung. Schon in den letzten Jahren wandte sich Israels Premier mehr und mehr gegen die staat­lichen Organe, sah überall Verschwö­rungen gegen ihn, Konspi­ra­tionen, einen „tiefen Staat“, der ihn vernichten will. Und seine Klientel kaufte ihm dies immer und immer wieder ab. 

Portrait von Richard C. Schneider

Richard C. Schneider ist Buchautor und Dokumen­tar­filmer. Er war Leiter der ARD-Studios in Rom und in Tel Aviv, und bis Ende 2022 Editor-at-Large beim BR/​ARD. Er schreibt heute als freier Korre­spondent für den SPIEGEL aus Israel und den Paläs­ti­nen­si­schen Gebieten..

Netanyahu kämpft schon seit Jahren um sein politi­sches Überleben, kämpft dagegen an, am Ende einer schil­lernden, großen Karriere, nicht in den Knast zu müssen. Sollte er durch das Gericht verur­teilt werden, drohen ihm bis zu zehn Jahre Haft. Seit dieses Damokles­schwert über ihm hängt, hat sich der rechte Politiker, der sich um seinen Staat durchaus verdient gemacht hatte, verändert. Er wurde allmählich zum Demagogen, zum Populisten und auch wenn er die extremsten Versuche seiner ultra­rechten Koali­ti­ons­partner immer wieder unterband, so ließ er es in der letzten Zeit immer wieder zu, dass Geset­zes­vor­haben in der Knesset durch­ge­winkt wurden, die das „checks and balances“ eines demokra­ti­schen Staates allmählich aushöhlen sollten, er ließ illiberale Entschei­dungen zu, er begann mehrfach einen rassis­ti­schen Wahlkampf gegen die arabische Bevöl­kerung des Staates, jene 20Prozent der Israelis, die keine Juden sind.

Der Staat in Geiselhaft

Seine Wahlkampf­sprache wurde extre­mis­ti­scher, brutaler und vor allem: mit immer mehr „Fake News“ versehen. Denn auch Bibi weiß: die Realität, die Fakten, sie spielen in der neuen Bruta­lität des 21. Jahrhun­derts keine Rolle mehr. Und Netanyahu ging sogar soweit, dass er die Nachfol­ge­partei der faschis­ti­schen und vom Obersten Gericht einstmals verbo­tenen Kach-Partei, einband, er vermit­telte eine Verbindung zwischen ihr und einer anderen ultra­rechten Partei, aus Angst er könnte bei den letzten Wahlen im September keine Mehrheit bekommen – was ihm dann trotz alledem nicht gelang.

Mit anderen Worten: Netanyahu hat in den letzten Jahren demokra­tisch-liberale Spiel­regeln gebrochen, sie nieder­ge­trampelt, um irgendwie seine Haut zu retten.

Noch ist Netanyahu an der Macht und niemand weiß, ob und wann der Mann gehen müssen wird oder ob und wann er freiwillig abdankt. Das israe­lische Gesetz besagt, dass ein Premier­mi­nister unter Anklage erst abtreten muss, wenn er verur­teilt worden ist. Das kann sich aller­dings über Jahre hinziehen.

Und doch ist jedermann klar, dass das letzte Kapitel des Benjamin Netanyahu einge­läutet ist. Bei der oben erwähnten Demo kamen grade mal fünf- bis achttausend Menschen, die meisten rechten Politiker ließen sich entschul­digen. Ein mageres Ergebnis, wenn man bedenkt, dass Netanyahu hundert­tau­sende Einladung verschickt, dass er alle Likud-Politiker aufge­fordert hatte, zu kommen.

Inzwi­schen gibt es innerhalb seiner eigenen Partei einen Heraus­for­derer, Gideon Saar, der Bibi auffordert zu gehen. Die ersten Risse unter den Loyalen sind zu sehen, doch man darf ein politi­sches Tier wie Netanyahu nicht zu früh abschreiben. Er ist mit allen Wassern gewaschen, er hat bislang noch immer irgend­einen Trick gefunden, um seine Macht zu erhalten.

Doch sicher ist: er ist angezählt, seine Zeit limitiert. Nur – würde nach seinem Abgang das große Aufatmen beginnen?

Netanyahu prägt die politische Kultur

Das große Problem demokra­ti­scher Systeme, die jahrelang unter einem Populisten leiden mussten, ist doch, dass die Folge­wir­kungen über lange Zeit erhalten bleiben, nachdem der mächtige Mann längst gegangen ist. Das Vertrauen in die staat­lichen Organe bleibt erschüttert, die aufrüh­re­rische, aggressive Sprache setzt sich weiter fort. Die einstigen Sykophanten und Adlaten, die bleiben und versuchen, die Krümel der Macht aufzu­sammeln und für sich zu nutzen, sind bereits so „umerzogen“, dass sie einfach so weiter­machen und weiter­reden werden wie ihr großes Vorbild. Und wenn man sich umschaut, wer im Likud als Nachfolger Bibis bereit­steht, dann wird schnell klar: politisch noch radikalere Figuren warten auf ihre Chance, sicher auch intel­lek­tuell kleinere Geister als Bibi. Politiker, die mit Begriffen wie Libera­lismus und Demokratie „spiele­risch“ umgehen, die bereits so beein­flusst sind von der „Bibi-Doktrin“, dass es schwer sein wird, schnell – wenn überhaupt – zurück­zu­finden zu einem demokra­ti­schen Konsens, in dem es keine Rolle spielt, ob man links oder rechts ist, sondern in dem der moralische und ethische Kompass auf beiden Seiten wieder stimmt, unabhängig von den politi­schen Anschau­ungen und Überzeu­gungen, die man vertritt.

Dämme sind gebrochen, rote Linien überschritten. Das ist ja auch eine der Strategien populis­ti­scher Bewegungen, um eine Demokratie allmählich auszu­höhlen. Das war in der Vergan­genheit so, das ist auch in der Gegenwart nicht anders, egal, wohin man schaut, ob nach England oder Italien, nach Ungarn oder Polen, nach Öster­reich oder auch Deutschland. In kleinen Schritten höhlt man den Staat aus, behauptet etwas, nimmt es zurück, entschuldigt sich. Dann, kurze Zeit später, wiederholt man das Gesagte, ein wenig anders, auch ein wenig extremer und mit der Zeit hat sich das Volk, haben sich die Medien, hat sich der Mainstream an einstmals radikale Gedanken gewöhnt. Der Tabubruch ist vollzogen.

Vor allem die USA sollten wegen des bevor­ste­henden Wahlkampfes die Gescheh­nisse in Israel aufmerksam verfolgen – aber auch die Deutschen und viele andere Europäer. Denn die Schlamm­schlacht, die nun blüht, der Kampf des Benjamin Netanyahu die Macht zu bewahren und dabei alle Tricks und Mittel anzuwenden, derer er habhaft werden kann, bis hin zur kompletten Denun­ziation seiner Gegner und des Staates selbst – das alles kann in westlich-demokra­ti­schen Staaten auch geschehen. Jederzeit. Und obwohl man dies weiß, ist man dennoch immer wieder überrascht, weil man sich an ein altes Ordnungs- und Rechts­gefühl festhält, das nicht mehr die Autorität besitzt wie früher, als es noch keine sozialen Medien gab.

Nein, Bibi ist noch lange nicht weg und seine ideolo­gi­schen Kinder werden versuchen, seinen populis­ti­schen Weg weiter­zu­gehen. Auf der Strecke bleiben könnte der demokra­tische Rechts­staat. In Israel ebenso wie in den USA, wie in Europa. Israel ist – wie so oft in seiner Geschichte – lediglich der Labor­versuch für vieles, was mit kurzer Zeitver­schiebung auch nach Europa und Deutschland kommt. Häme ist also nicht angebracht. Höchstens Sorge. Und die Hoffnung, dass die Israelis, ein Volk, das im Prinzip viel weniger führungs­hörig ist als viele andere, das viel anarchi­scher ist als etwa die Deutschen, sich letztlich selbst retten kann und den Populisten irgendwann den roten Teppich unter deren Füßen wieder wegziehen wird. Aber bis dahin ist es noch ein langer Weg.

Textende

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