Ukraine-Krieg als Stresstest für die Energiewende

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„Wir stecken in dem Dilemma, im Eiltempo Alter­na­tiven zu fossilen Energie­trägern aus Russland zu erschließen, ohne unsere Klima­ziele auszu­hebeln.“ – Ralf Fücks über energie­po­li­tische Optionen und die Neujus­tierung der Energiewende

Russlands Überfall auf die Ukraine war auch ein Schock für die deutsche Energie­po­litik. Das bisherige Erfolgs­modell Deutschland beruhte auf einer dreifachen Exter­na­li­sierung: Der Ausla­gerung unserer Sicherheit an die USA – Ausla­gerung unseres Wachstums an China und Ausla­gerung unserer Energie­ver­sorgung an Russland (eine viel zitierte Formel der Politik­wis­sen­schaft­lerin Constanze Stelzenmüller).

Alle drei Prämissen entpuppen sich jetzt als Schwach­stellen und Krisen­fak­toren. Die USA werden nicht auf Dauer bereit sein, die Lasten für Europas Sicherheit zu tragen; China und Russland sind macht­po­li­tische Gegen­spieler und syste­mische Rivalen zu den liberalen Demokratien des Westens. Für sie sind wirtschaft­liche Bezie­hungen kein Selbst­zweck, sondern Macht­in­stru­mente in einem großen geopo­li­ti­schen Spiel. Die Erwartung, dass wirtschaft­liche Verflechtung mit der Zeit zu einer politi­schen Libera­li­sierung oder zumindest zu einer Einbindung in eine regel­ba­sierte Weltordnung führen würde, ist gescheitert.

Unsere bisherige Trennung zwischen Sicher­heits­po­litik einer­seits, Wirtschafts- und Energie­po­litik anderer­seits ist nicht länger haltbar. Ab sofort ist die drastische Reduzierung strate­gi­scher Abhän­gig­keiten von unseren geopo­li­ti­schen Gegnern angesagt. Eine totale Entkopplung ist weder wünschenswert noch realis­tisch – vor allem mit Blick auf China –, aber strate­gische Klumpen­ri­siken müssen abgebaut, Liefer­ketten und Absatz­märkte diver­si­fi­ziert, neue Allianzen aufgebaut werden.

Energie­po­li­tisch gibt es kein Zurück mehr zum Status quo ante mit Russland. Der Ausstieg aus russi­schen fossilen Energie­trägern – Öl, Gas, Kohle – ist irrever­sibel, weil Russland auch nach jedem denkbaren Ende des Ukraine-Krieges eine Gefahr für die europäische Sicherheit bleiben wird, solange im Kreml ein neo-imperialer Geist herrscht, der auf Restau­ration der „russi­schen Welt“ zielt und den Westen als Gegner sieht.

Es ist genauso gekommen, wie es die Kritiker der deutschen Russland­se­ligkeit prophezeit haben: Der Kreml setzt Energie als politische Waffe ein. Die Verknappung des Gasan­gebots – die schon vor Beginn des russi­schen Angriffs einsetzte – ist ein Mittel der Desta­bi­li­sierung und Spaltung Europas.

Die Politiker und Manager, die uns sehenden Auges in die Energie­ab­hän­gigkeit von Russland geführt haben, waren mit Blindheit geschlagen. Ein exempla­ri­sches Beispiel ist der Verkauf des größten europäi­schen Gasspei­chers (Rheden) an Gazprom im Tausch gegen die Betei­ligung deutscher Firmen an neuen Gasfeldern am russi­schen Polar­kreis. Der Deal hatte den Segen des damaligen Wirtschafts­mi­nisters Sigmar Gabriel; abgesi­chert wurde er durch Bürgschaften des Bundes in Milli­ar­denhöhe. War es politische Naivität, die Aussicht auf lukrative Geschäfte oder ging es um die „Achse Berlin-Moskau“ als strate­gi­sches Projekt?

Ähnliche Fragen stellen sich angesichts der Tatsache, dass die Verträge für NordStream 2 nach der russi­schen Okkupation der Krim und der militä­ri­schen Inter­vention in der Ostukraine unter­schrieben wurden – trotz aller Kritik und aller Warnungen europäi­scher Partner.

Abkopplung von Russland

Jetzt ist guter Rat teuer. Wir stecken in dem Dilemma, im Eiltempo Alter­na­tiven zu fossilen Energie­trägern aus Russland zu erschließen, ohne unsere Klima­ziele auszu­hebeln. Kurzfristig steht beides in einem Spannungs­ver­hältnis, langfristig wird der Übergang zu einem Erneu­erbare-Energien-System auch die europäische Energie­sou­ve­rä­nität stärken.

Robert Habeck hat diesen Konflikt einge­räumt, als er zu Beginn des Krieges davon sprach, dass Energie­si­cherheit im Zweifel vor Klima­schutz geht. Die aktuelle Energie­krise hat uns vor Augen geführt, wie sehr moderne Indus­trie­ge­sell­schaften auf eine gesicherte Energie­ver­sorgung angewiesen sind. Energie ist der Blutkreislauf, von dem alles abhängt: Produktion, Transport und unser Alltags­leben, das an einer gesicherten Strom- und Wärme­ver­sorgung hängt. Die Abhän­gigkeit von russi­schem Gas ist die Achil­les­ferse unserer Energie­ver­sorgung, weil Öl und Kohle in viel höherem Grad auf dem Weltmarkt verfügbar sind. Als zentrales Problem entpuppt sich nicht die nackte Versor­gungs­si­cherheit – die bekommen wir in einem Kraftakt gewähr­leistet –, sondern die exorbitant steigenden Kosten quer durch die Energiekette.

Die gute Nachricht ist: Wir haben die Abhän­gigkeit von russi­schem Gas erstaunlich rasch und drastisch reduziert. Noch vor wenigen Monaten wurde der Untergang der deutschen Wirtschaft herauf­be­schworen, wenn russi­sches Gas ausfällt. Aktuell liefert Russland nur noch Restmengen über die Ukraine, aber wir kommen zurecht und werden – Stand heute – auch einiger­maßen glimpflich über den Winter kommen.

Dabei spielen die Auswir­kungen hoher Preise auf den Verbrauch und eine konzer­tierte Kraft­an­strengung von Politik und Unter­nehmen zusammen. Sie führen zur Diver­si­fi­zierung von Öl- und Gasim­porten, zu Einspar­ef­fekten bei Industrie und privaten Haushalten und zur Substi­tution von Gas durch andere Energie­träger: Strom und Heizöl in der Industrie, Kohle im Stromsektor.

Der Primär­ener­gie­wechsel in der Strom­erzeugung war bisher noch ausge­sprochen zögerlich – der Anteil von Kohlestrom ist nur moderat gestiegen, im Sommer lieferten Gaskraft­werke mehr Strom als im Vorjahr. In einer akuten Gaskrise eigentlich ein Unding.

Energie­po­li­tische Optionen

Variante 1: Wir bleiben bei Erdgas als „Brücken­en­ergie“ – dann müssen wir russi­sches Gas in einer Größen­ordnung von rund 160 Mrd Kubik­meter im Jahr durch alter­native Importe ersetzen. Dann stellt sich auch die Frage einer Wieder­auf­nahme der heimi­schen Gasför­derung. Wir sitzen auf beträcht­lichen Reserven – der Haken ist bloß, dass sie nur durch Fracking erschlossen werden können. Ähnlich wie bei der Atomenergie, wo wir uns in einem Verbund mit dem franzö­si­schen Strom­sektor befinden, leisten wir uns auch bei Erdgas eine not-in-my-backyard – Menta­lität: Import von Schie­fergas aus den USA ja bitte, aber nicht bei uns!

Variante 2: Wir senken den Gasver­brauch schneller als geplant, dann müssen wir im Strom­sektor – sofern es beim Atomaus­stieg bleibt – vorüber­gehend verstärkt auf Kohle zurück­greifen und Gebäude sehr viel rascher auf Wärme­pumpen und Solar­wärme umrüsten – sofern es dafür die nötigen Rohstoffe, Bauteile und Handwerker gibt.

Ein drittes, inzwi­schen unstrit­tiges Element ist der beschleu­nigte Umstieg auf Elektro­mo­bi­lität, um die Abhän­gigkeit von Mineralöl zu senken.

Viertens muss die Energie­ef­fi­zienz in allen Sektoren voran­ge­trieben und der Aufbau eines Erneu­erbare-Energien-Systems beschleunigt werden. Die Fixierung auf den beschleu­nigten Zubau von Solar- und Windenergie greift zu kurz. Ohne den zügigen Ausbau der Strom­netze, der Speicher­ka­pa­zi­täten und den raschen Einstieg in eine Wasser­stoff-Ökonomie bleibt die Energie­wende auf halber Strecke stecken.

Europäi­sierung der Energiewende

Damit der zügige Übergang in eine neue, klima­neu­trale Energiewelt gelingt, müssen wir uns fünftens von der natio­nalen Engführung der Energie­wende verab­schieden. Ich befürchte, das ist noch nicht hinrei­chend bewusst. Wir brauchen mehr europäische und inter­na­tionale Koope­ration und großräumige Netze für grünen Strom und Wasser­stoff. Das ist eine Mengen- und Kostenfrage.

Auch bei einer konti­nu­ier­lichen Steigerung der Energie­ef­fi­zienz wird der Strom­bedarf im Verkehr, der Industrie, im Gebäu­de­sektor massiv steigen. Das erfordert einen Europäi­schen EE-Verbund mit Wind von den Küsten, Solar­strom aus dem Sonnen­gürtel rund ums Mittelmeer, Wasser­kraft von der Nordsee und den Alpen.

Die Neuauflage des Desertec-Projekts ist daher sehr zu begrüßen. Der massive Ausbau von Solar- und Windstrom in den Wüsten­ländern Nordafrikas ist ein Beitrag zur ökono­mi­schen Entwicklung und politi­schen Stabi­li­sierung der Region, ihrer engeren Anbindung an die EU und zur Versorgung Europas mit preis­güns­tigem Strom und Wasserstoff.

Wasser­stoff wird künftig vor allem aus Regionen kommen, in denen klima­neu­traler Strom in rauen Mengen und geringen Kosten zu Verfügung steht: aus der Mittelmeer-Region und Nordafrika, der Golfregion, Australien, Chile, hoffentlich auch aus der Ukraine mit ihrer Kombi­nation aus EE und Atomkraft.

Das erfordert den Aufbau strate­gi­scher Allianzen und den Ausbau der grenz­über­schrei­tenden Energie-Infra­struktur: Strom­netze, Umrüstung von Gaspipe­lines auf Wasser­stoff, Wasser­stoff-Terminals an Nord- und Ostsee. Ohne eine drastische Beschleu­nigung von Geneh­mi­gungs­fristen und Bauzeiten wird das nicht klappen.

Wir brauchen mehr Pragma­tismus bei der Wasser­stoff-Farben­lehre, um den Aufbau einer Wasser­stoff-Infra­struktur und die Umstellung von indus­tri­ellen Produk­ti­ons­pro­zessen auf H2 und synthe­tische Kraft­stoffe zu beschleu­nigen. Das gilt auch für die Substi­tution von Flugbenzin durch synthe­tische Kraft­stoffe bzw. die Direkt­ver­brennung von Wasser­stoff.  Wenn wir damit nicht bis jenseits 2030 warten wollen, muss vorüber­gehend auch Wasser­stoff auf Erdgas-Basis einge­setzt werden.

Energie­preise als kriti­scher Faktor

Der kritische Faktor wird voraus­sichtlich nicht die physische Verfüg­barkeit von Energie­trägern sein, sondern die Energie­preise. Wir haben es mit Preis­stei­ge­rungen bei Gas- und Strom­kon­trakten um den Faktor 10 zu tun. Selbst wenn es nicht bei diesem exorbi­tanten Preis­niveau bleibt, werden die Energie­kosten nicht mehr auf das alte Niveau zurück­fallen. Die Zeit vermeintlich billiger (fossiler) Energien ist vorbei.

Wir haben es mit einer Kombi­nation aus den Kosten für den Aufbau eines neuen Energie­systems, einer politisch gewollten Verknappung und Verteuerung fossiler Energien sowie geopo­li­ti­schen Konflikten zu tun, die für absehbare Zeit die Energie­preise treibt. Das erfordert gezielte Entlas­tungen vor allem für einkom­mens­schwache Haushalte und energie­in­tensive Industrien.

Ob es gelingt, die Grund­stoff­chemie, Stahl, Zement, Alumi­ni­um­pro­duktion in Deutschland zu halten, ist eine offene Frage. Entscheidend dafür ist die dauer­hafte Differenz zwischen den Energie­kosten bei uns und an den Stand­orten, mit denen wir im Wettbewerb stehen, etwa den USA und den Golfstaaten. Aktuell ist der Gaspreis für die Industrie in Deutschland etwa fünfmal höher als in Amerika. Klima­po­li­tisch wäre durch die Abwan­derung energie­in­ten­siver Branchen in andere Weltre­gionen mit gerin­geren Umwelt­stan­dards jeden­falls nichts gewonnen.

Die bessere Alter­native wäre, sich auch in diesen Branchen an die Spitze der ökolo­gi­schen Trans­for­mation zu setzen und den Übergang von Gas und Öl auf Regene­ra­tiv­strom und Wasser­stoff zu beschleu­nigen. Die Trans­for­ma­ti­ons­kosten können aber nicht allein von der Industrie getragen werden, solange wir keine vergleich­baren inter­na­tio­nalen Wettbe­werbs­be­din­gungen haben. Wieweit das Modell der „Carbon Contracts for Diffe­rence“ trägt, werden wir sehen. Auch die Reserven der öffent­lichen Haushalte sind nicht unbegrenzt.

Jetzt handeln und offen für Innova­tionen bleiben

Abschließend noch eine Bemerkung zu der Vorstellung, wir könnten die Zukunft unseres Energie­systems bis ins Jahr 2050 voraus­planen. Tatsächlich müssen wir den Umbau des Energie­systems auf der Basis der heute verfüg­baren Alter­na­tiven voran­treiben, vor allem der Solar- und Windenergie. Aber wir sollten bitte nicht glauben, das sei schon die finale Zukunft eines nachhal­tigen Energie­systems. Wir brauchen Offenheit für wissen­schaftlich-technische Innova­tionen auch im Energiesektor.

Welche Rolle künftig thermische Solar­kraft­werke, die Kernfusion, eine neue Generation dezen­traler, inhärent sicherer Atomre­ak­toren, Biotechnik (Mikro­or­ga­nismen als Energie­lie­fe­ranten), technische Photo­syn­these etc. spielen werden, lässt sich nicht definitiv voraus­sagen. Gewiss ist nur, dass sich technische Innova­tionen im Energie­sektor mit wachsender Knappheit und steigenden Preisen beschleu­nigen werden.

Die letzten 20 Jahre waren vor allem durch Sprung­in­no­va­tionen in der Compu­ter­technik und den Infor­ma­tions- und Kommu­ni­ka­ti­ons­tech­no­logien geprägt. Wir hantieren heute mit Geräten und Inter­net­welten, die vor einer Generation noch als Science-Fiction galten. Solch rasante Umwäl­zungen werden wir in den kommenden Jahrzehnten auch auf dem Feld der Energie­technik sehen. Der hemmende Faktor sind hier die enormen Infra­struk­tur­in­ves­ti­tionen und Kapital­kosten für den Aufbau eines Erneu­erbare-Energien-Systems. Sie schaffen Pfadab­hän­gig­keiten und erfordern langfristige Kalku­lier­barkeit. Das Kunst­stück besteht darin, dennoch genügend Raum und Flexi­bi­lität für Innova­tionen zu geben, die neue Energie­quellen erschließen und Monostruk­turen vermeiden.

Der Energie­sektor ist das Kernstück einer grünen indus­tri­ellen Revolution, die gerade erst begonnen hat. Ihre wichtigsten Spring­quellen sind die Einstrahlung von Sonnen­en­ergie auf die Erde und der mensch­liche Erfin­dungs­geist. Die Möglich­keiten, die sich aus dieser Kombi­nation ergeben, sind noch lange nicht ausgeschöpft.

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