Ukraine und die EU: Nukleare Sicherheit in Zeiten des Krieges
Der russische Kernenergiemonopolist Rosatom scheint von Sanktionen verschont zu bleiben – trotz seiner Rolle bei der Besetzung des Kernkraftwerks Saporischschja und der faktischen Erpressung Europas. Wie die Lage in Saporischschja und anderen AKWs in der Ukraine ist, welche Sanktionen gegen Rosatom verhängt werden sollten und wie sich der Westen von der russischen Atomindustrie unabhängig machen kann – darüber diskutierten bei LibMod am 27. April Anton Hofreiter, Victoria Voitsitska und Rebecca Harms.
Während die westlichen Länder beispiellose Sanktionen gegen den russischen Energiesektor verhängt haben, bleibt die russische Atomindustrie – gleichbedeutend mit dem staatlichen Kernenergiemonopolist Rosatom – eine Ausnahme in der Sanktionspolitik von EU und G7. Trotz seiner Rolle bei der Übernahme des besetzten Kernkraftwerks Saporischschja und der faktischen Erpressung Europas scheint Rosatom von den Sanktionen verschont zu bleiben, da viele Länder immer noch von der russischen Atomindustrie abhängig sind.
Am 27. Februar diskutierten wir mit dem Bundestagsabgeordneten Anton Hofreiter, der ehemaligen Sekretärin des Energieausschusses der Werchowna Rada (2014–2019) und Expertin des Internationalen Zentrums für den ukrainischen Sieg, Victoria Voitsitska, und Rebecca Harms, der ehemaligen Abgeordneten des Europäischen Parlaments, wie die aktuelle Situation im besetzten AKW Saporischschja ist und wie gefährdet die anderen Kernkraftwerke in der Ukraine sind.
Vor diesem Hintergrund sprachen wir auch über Ziel und Hindernisse möglicher Sanktionen gegen Rosatom. Wir haben außerdem erörtert, wie die Ukraine vor dem russischen Nuklearterrorismus geschützt werden kann und welche Strategien notwendig und realistisch sind, um Europa und die G7-Staaten von der russischen Atomindustrie unabhängig zu machen – was wiederum den Weg zur Einführung der lang erwarteten Sanktionen gegen Rosatom ebnet.
Nukleares Risiko für Europa
Bis zum russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 waren Angriffe auf Nuklearanlagen in Kriegsgebieten und deren Militarisierung nicht Bestandteil der öffentlichen Diskussion, da über den besonderen Schutz von Kernkraftwerken gemäß der Genfer Konvention international Einigkeit herrschte. Durch die russische Besetzung der Kernkraftwerke Tschornobyl (Anmerk.d.Red: Die Schreibweise entspricht der Transkription aus dem Ukrainischen) und Saporischschja änderte sich die Situation grundlegend. Im Falle eines nuklearen Unfalls wäre nicht nur das Gebiet der Ukraine und Russlands betroffen, sondern je nach Windrichtung könnten auch Ost- und Mitteleuropa und die baltischen Staaten radioaktiv kontaminiert werden.
Ein direkter Anschlag auf ein Atomkraftwerk ist dabei das zwar scheinbar bedrohlichste Szenario, aber auch ein nicht funktionierendes Energiesystem kann eine nukleare Katastrophe verursachen. Im vollen Bewusstsein dieser Tatsache hat Russland dennoch die ukrainische Energieinfrastruktur, insbesondere Stromnetze und Umspannwerke, gezielt beschossen und damit eine nukleare Katastrophe riskiert. Um einen nuklearen Unfall zu verhindern, müssen daher müssen nicht nur die Kernkraftwerke der Ukraine geschützt werden, sondern auch wichtige Energieinfrastruktur. Zur Erinnerung: Bei dem Unfall auf Three Mile Island in den USA brachte eine Fehlfunktion der Kühlung einen Teil des Kerns zum Schmelzen.
Die Lage in Saporischja ist äußerst kritisch
Die Lage im besetzten Kraftwerk Saporischschja ist weiterhin sehr kritisch. Als Russland das größte Kernkraftwerk Europas besetzte und zu russischem Staatseigentum erklärte, übernahm Rosatom die Kontrolle über die Anlage. Vor der russischen Invasion waren dort 11 000 Menschen beschäftigt, inzwischen arbeiten noch 3 500 Personen unter menschenunwürdigen Bedingungen. Berichten zufolge wird das ukrainische Personal eingeschüchtert und darf die Stadt nicht verlassen, die Mitarbeiter werden verhört und gezwungen, 12-Stunden-Schichten zu arbeiten, und selbst Familienangehörige werden bedroht.
Das AKW Saporischschja ist derzeit nicht in Betrieb. Der Strom, der für die Kühlung während der Abschaltung benötigt wird, kommt aus einem ukrainischen Umspannwerk, das von Russland beschossen wird. Sollte dieses Umspannwerk also beschädigt werden, erhöht sich das Risiko eines atomaren Unfalls erheblich.
Trotz der Versprechungen der IAEA wurde das Gebiet um das AKW Saporischschja nicht nur nicht entmilitarisiert, sondern die russische Militärpräsenz hat laut Victoria Voitsitska sogar zugenommen. Vertreter der IEAE haben zwar Zugang zum Kraftwerk, die Anwesenheit der IEAE im Kraftwerk hat jedoch die weltweite – falsche – Wahrnehmung verstärkt, dass die Situation unter Kontrolle ist.
IRIS‑T Produktion in Deutschland ausweiten
Um die Zivilbevölkerung, die kritische Infrastruktur und die an der Getreide-Initiative beteiligten Schiffe vor russischen Raketen zu schützen, braucht die Ukraine dringend mehr Flugabwehrsysteme und Kampfjets. Anton Hofreiter erklärte, dass eine Ausweitung der Produktion des Luftabwehrsystems IRIS‑T in Deutschland notwendig sei. IRIS‑T ist weltweit eines der effektivsten Luftabwehrsysteme und hat mit einer 100-prozentigen Erfolgsquote seine Effizienz in der Ukraine bereits bewiesen. Da die Waffenhersteller jedoch nur sehr zögerlich in weitere Produktionslinien investieren, seien staatliche Garantien notwendig. Unklar bleibe, ob die Ukraine diese Garantien geben wird oder ob die EU oder Deutschland einspringen müssen. Gleichzeitig brauche die Ukraine Luftabwehrsysteme für die nächsten Jahrzehnte.
Die Abhängigkeit des Westens von der russischen Atomindustrie
Rosatom ist ein staatlicher Konzern, der mehr als 360 Organisationen umfasst, darunter Forschungsinstitute, eine Kernwaffenabteilung und eine nuklear angetriebene Eisbrecherflotte. Der Konzern ist einer der weltweit größten Akteure im Bereich Kernbrennstoff (17 % des Weltmarkts) und Uranproduktion (16 % des Weltmarkts) und belegt auf dem Weltmarkt für Urananreicherung den ersten Platz (38 %). Darüber hinaus ist Rosatom an 25 Standorten in 10 Ländern tätig.
Da die Produkte und Dienstleistungen der russischen Nuklearindustrie auf den internationalen Märkten bislang eine wichtige Rolle spielen, lassen diese sich nur langsam ersetzen. Anton Hofreiter plädierte dafür, dass sich Europa gemeinsam mit den G7 im Nuklearbereich von Russland unabhängig machen müsse. Solange Staaten auf die Zusammenarbeit mit Rosatom setzten, seien sie erpressbar, weshalb das nächste Sanktionspaket auch Rosatom einschließen müsse.
Das Ende der Zusammenarbeit mit Rosatom vorbereiten
Der erste Schritt könnten persönliche Sanktionen gegen Rosatom-Manager sein, die sich in den Betrieb des ukrainischen Kernkraftwerks einmischen und die nukleare Sicherheit in Europa gefährden. Außerdem sollten alle zwischenstaatlichen Abkommen und Forschungsprojekte mit Rosatom beendet und Geschäftsbeziehungen mit Rosatom verboten werden. Schon jetzt sollten die EU und die G7-Staaten eine Task Force mit Regierungs- und Parlamentsvertreter*innen zusammenstellen, um ein Ende der Zusammenarbeit mit Rosatom vorzubereiten.
Victoria Voitsitska schlug vor, dass die allmähliche Abkehr der EU von russischen Nuklearprodukten und ‑dienstleistungen in den REPowerEU-Plan der Europäischen Kommission aufgenommen werden müsse. Die Befreiung aus dieser Abhängigkeit birgt mannigfaltige Herausforderungen, ist aber realisierbar, wenn der entsprechende politische Wille vorhanden ist.
Kernbrennstoffe: Umstellung auf US-amerikanische Hersteller
Ob Kernenergie eine nachhaltige Energiequelle ist, wird auch in der breiten Öffentlichkeit intensiv diskutiert. Unstrittig ist jedoch, dass die Kernenergie nicht kurzfristig ersetzt werden kann. Die Umstrukturierung des Energiemixes erfordert eine lange Anpassungszeit, um die Lieferanten zu diversifizieren und die Beziehungen zu Rosatom zu lösen. Die Ukraine selbst importiert keine Brennstäbe mehr aus Russland und hat ihre Kernkraftwerke auf Kernbrennstoff des amerikanischen Herstellers Westinghouse umgestellt. Gleichzeitig hat sie die Aufbereitung von Atommüll im Kernkraftwerk Tschornobyl wieder aufgenommen, nachdem sich die russischen Besatzungstruppen von dem Gelände zurückgezogen haben.
Notwendige Einigung in der EU
Tschechien, Finnland und die Slowakei wollen sich ebenfalls von russischem Kernbrennstoff unabhängig machen. Ungarn und Bulgarien erklärten hingegen, dass sie ihr Veto gegen jegliche Sanktionen gegen Rosatom einlegen würden.
Frankreich, das seine eigenen Wiederaufbereitungskapazitäten nicht nutzt, weil Russland den Markt mit niedrigen Preisen dominiert, ist ebenfalls gegen Nuklearsanktionen. Die Abhängigkeit Frankreichs von russischen Atomimporten ist dabei entscheidend für eine Einigung der EU, die für Sanktionen gegen Rosatom erforderlich ist, so Hofreiter. Frankreich sollte deshalb beispielsweise dabei unterstützt werden, die Produktion von Brennstäben im Land zu erhöhen, um die Importe aus Russland schrittweise zu beenden.
Was sind die nächsten Schritte?
Großbritannien und die Vereinigten Staaten haben bereits Sanktionen gegen wichtige Rosatom-Beamte verhängt, die EU und andere G7-Länder sollten diesem Beispiel folgen.
Eine wirksame Maßnahme, um Russland daran zu hindern, seinen Einfluss auszuweiten und neue Abhängigkeiten zu schaffen, besteht darin, laufende oder künftige Projekte von Rosatom im Ausland zu blockieren, indem Sekundärsanktionen gegen Unternehmen verhängt werden, die die Kernkraftwerke mit Material, Bauteilen und Technologien beliefern.
Deutschland ging hier mit gutem Beispiel voran: Das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) blockierte Lieferungen von Siemens Energy für den von Rosatom betriebenen Bau von Kernkraftwerken in der Türkei und Ungarn.
Da einige EU-Mitgliedstaaten immer noch von Rosatom abhängig sind, muss die Europäische Union dringend nach Alternativen für Technologie, Wartung und Material russischer Herkunft suchen.
In einem weiteren Schritt müssen die Konversions- und Anreicherungsdienstleistungen diversifiziert, die russischen Lieferanten von Uranrohstoffen und Kernbrennstoffen ersetzt und Alternativen für die Endlagerung abgebrannter Brennelemente und Wiederaufbereitungsdienstleistungen gefunden werden. Alle bereits bestehenden Verträge mit Rosatom über zukünftige Dienstleistungen oder den geplanten Bau von Kernkraftwerken müssen nach dem Beispiel Finnlands – das seine Pläne zum Bau des AKW Hanhikivi mit Rosatom eingestellt hat – eingefroren oder gekündigt werden.
Die Umsetzung dieser und weiterer Maßnahmen würde Russland deutlich machen, dass sein Handeln nicht ohne Folgen bleibt – was wiederum das Risiko einer nuklearen Katastrophe in der Ukraine erheblich verringern würde. Gleichzeitig unterstützen diese Sanktionen Europa dabei, seine Abhängigkeit von der russischen Atomindustrie zu überwinden. Sie verringern darüber hinaus Russlands Einnahmen, was – wenngleich auch in geringerem Maße als die Einnahmen aus den Ölexporten – Russlands Kriegsfinanzierung weiter schwächt.
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