Die Dialektik des Liberalismus: Warum politische und wirtschaftliche Freiheit nicht mehr Hand in Hand gehen
Die gern geglaubte Gleichung „Freie Wirtschaft = Freie Gesellschaft“ erweist sich zunehmend als falsch, so Carsten Lotz, der erstplatzierte des Essaypreises. Der Liberalismus als philosophische, politische und ökonomische Weltanschauung beruft sich seit Kant auf die Mündigkeit des Individuums und prägte die westlichen Gesellschaften und ihre Wirtschaftsordnungen. Doch seine Strahlkraft lässt nach.
Vor fast 250 Jahren definierte Immanuel Kant die Aufklärung als den Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Der Liberalismus als philosophische, politische und ökonomische Weltanschauung berief sich seither auf jene Mündigkeit des Individuums und prägte die westlichen Gesellschaften und ihre Wirtschaftsordnungen. Doch seine Strahlkraft lässt nach. In den Demokratien werden rechte und populistische Kräfte stark; gleichzeitig öffnen die totalitären Diktaturen zwar ihre Wirtschaft, nicht aber die Gesellschaft. Die gern geglaubte Gleichung „Freie Wirtschaft = Freie Gesellschaft“ erweist sich zunehmend als falsch.
Das kommt nicht überraschend. So warnte Theodor W. Adorno schon in den 1950er Jahren davor, dass die ökonomische Ordnung auch nach dem Ende des Faschismus die Mehrheit der Menschen in Unmündigkeit stürzen könnte. Es ging ihm weniger um das konkrete wirtschaftliche Wohlergehen und die fehlenden ökonomischen Mittel zur Selbstverwirklichung. Er sah vielmehr im Wirtschaftssystem einen Zwang angelegt, der der individuellen Autonomieerfahrung entgegensteht. Das gebrochene Versprechen auf Freiheit und Autonomie lasse die Menschen indifferent gegenüber der Demokratie werden und anfällig für die Versprechen des Totalitarismus.
Dieser Zwang, so wollen wir argumentieren, kam seit Adornos Diagnose als anonymes System gesellschaftlich vollends zum Vorschein – im Beruflichen, im Privaten und in der Politik – und ist nun mit dem Durchbruch der künstlichen Intelligenz geeignet, die Demokratie strukturell zu gefährden.
Die Berufswelt hat sich anonymisiert und bietet immer weniger soziale Heimat. Die ehemals inhabergeführten Geschäfte – Supermärkte, Drogerien, Baumärkte – sind den Filialen überregionaler Großunternehmen gewichen und haben die innenstädtische Lebenswelt der Bürger verlassen. Prozesse, Warenangebot und Arbeitskleidung sind standardisiert. Der verantwortliche Unternehmer wurde durch den nach Kennzahlen gesteuerten Filialleiter ersetzt. In den Großkonzernen sind lokale Strukturen durch funktionale ersetzt worden. Querschnittsaufgaben wurden zentralisiert, outgesourced oder offgeshored. Wer früher Kollege war, ist heute externer Dienstleister und kann morgen schon ausgetauscht werden. Und innerhalb des eigenen Unternehmens lösen agile Teams, Tele-Arbeit und Flex-Offices verbindliche Strukturen auf. Wer zur Arbeit kommt, wird ein Rädchen im Getriebe.
Das Privatleben hat sich verkompliziert und ökonomisiert. Dank der Liberalisierung ehemals öffentlicher Dienstleistungen muss der Bürger heute mehr ökonomische Entscheidungen treffen als je zuvor. Er hat die Wahl aus hunderten von Strom‑, Gas- und Telekommunikationstarifen. Die Krankenkasse muss er wählen und sich nach Möglichkeit für eines der über 6.300 zertifizierten Riester-Renten-Produkte entscheiden. Die Lage ist unüberschaubar. Häufig entdeckt er nach Vertragsabschluss, dass er eine Sonderaktion versäumt, einen Bleibe- oder Wechselbonus nicht wahrgenommen oder ein kostenfreies Zusatzangebot nicht rechtzeitig gekündigt hat.
Und die Politik greift ebenfalls verstärkt zu ökonomischen Instrumenten, um die Gesellschaft zu lenken: CO2-Abgabe und schadstoffausstoßabhängige LKW-Maut, Langzeitstudiengebühren und Bildungsgutscheine, Zigaretten- und Alkopopsteuer, die Liste ließe sich fortsetzen. Der Staat übt ökonomischen Druck aus, der vor allem bei der unteren Hälfte der Bevölkerung ankommt; die Wohlhabenden haben die finanziellen Mittel, um sich freizukaufen.
Man kann die Liberalisierung ehemals öffentlicher Dienstleistungen und die zielgerichtete Besteuerung unerwünschten Verhaltens als Antwort der liberalen Demokratie auf die von Hartmut Rosa beschriebene Beschleunigung der Moderne begreifen: Wo alle Lebensvollzüge kontinuierlich schneller werden, dauert demokratische Willensbildung und Kompromissfindung zu lange. Die ökonomische Logik ist schneller, aber auch liberaler, weil sie keine Vorschriften macht, sondern die Menschen entscheiden lässt, wie und wo sie ihr Geld ausgeben.
All diese Entwicklungen haben uns wirtschaftliche Vorteile gebracht: Längere Ladenöffnungszeiten, ein größeres Warenangebot, günstigere Produkte, weniger staatliche Verbote. Doch sie haben auch den Zwangscharakter eines anonymen Systems verstärkt. Es ist schwer, jemanden zu finden, der die Verantwortung trägt. Immer scheint es der anonyme Markt zu sein, dem wir nicht entkommen können. 1984 musste der Postminister dem Parlament noch Rede und Antwort stehen für die 6- monatigen Wartezeiten auf einen Telefonanschluss beim Fernmeldeamt Lübeck. Heute gibt es keinen Postminister mehr; und die Antwort auf die fehlenden Glasfaseranschlüsse oder die schlechte Netzabdeckung sind die ökonomischen Zwänge und „der Markt“, dem man Versagen unterstellt. Dabei zeigt er sich gerade darin effektiv, unrentable Vorhaben zu verhindern, so sehr sie politisch auch gewünscht sind.
Dass solche Wirkmechanismen des Marktes einen Zwang darstellen können, dafür ist der Liberalismus blind. Der Markt ist ihm die Summe der freien Entscheidungen mündiger Bürger. Doch während die liberalen Gesellschaften weiterhin versuchen, die Ökonomie in ihren Dienst zu nehmen, wird in der internationalen Tech-Szene und im Silicon Valley längst über eine andere Zukunft nachgedacht. Accelerationism nennt sich eine Denkschule, der der Mensch zu unvollkommen ist und das Institutionengeflecht des demokratisch verfassten Staats zu langsam. Der Philosoph Nick Land propagiert die Organisation der Gesellschaft in der Form von Aktiengesellschaften mit den Bürgern als Anteilseignern und strebt eine umfassend technologisierte und de-humanisierte Wirtschaft an.
Jene ist seit dem Durchbruch der Generative Artificial Intelligence mit Händen greifbar. Die strukturellen Konsequenzen für das Verhältnis von Wirtschaft und Gesellschaft werden dabei bislang unterschätzt. So hat der deutsche Ethikrat in seiner detailreichen und differenzierten Stellungnahme zu Künstlicher Intelligenz zwar vier Felder näher untersucht – Medizin, Bildung, öffentliche Kommunikation und Meinungsbildung sowie öffentliche Verwaltung –, hebt dabei aber vor allem auf Einzelanwendungen ab. Dass Maschinen und Algorithmen einzelne Prozesse oder Prozessschritte in Unternehmen übernehmen, ist jedoch nicht neu; so findet ein Großteil des Börsenhandels schon heute automatisiert statt, und der Autopilot landet das Flugzeug ruhiger als der Mensch.
Neu ist die Möglichkeit der restlosen Vernetzung der Einzelprozesse und der Automatisierung des gesamten Unternehmens, von Einkauf über Mitarbeiterdisposition bis zum Vertrieb. Der chinesische Konzern Netdragon Websoft hat – wenn auch vermutlich als PR-Aktion – den CEO seiner Tochtergesellschaft Fujian im August 2022 durch eine künstliche Intelligenz ersetzt. Was uns bevorsteht, ist ein eigenständiges Computerprogramm, das als Unternehmen am Wirtschaftsgeschehen teilnehmen kann. Dabei geht es nicht primär um die Reduzierung von Kosten, wie die aktuelle Diskussion um die wegfallenden Arbeitsplätze glauben lassen möchte. Der weitaus größere Hebel der künstlichen Intelligenz ist die Steigerung des Umsatzes und der Marge; kurz: wir alle sollen mehr kaufen und mehr bezahlen.
Die ersten voll-digitalen Unternehmen werden wir daher vermutlich im Vertrieb von einfachen Verträgen sehen: Strom und Gas, Telefon und Internet, Bank- und Versicherungsdienstleistungen. Die Plattformen stehen längst, die Prozesse sind digitalisiert und laufen auf den Servern von Amazon, Google und Microsoft in der Cloud. Derzeit arbeiten noch letzte Menschen im Callcenter, in der Produktentwicklung und der Programmierung der Prozesse. Sobald der Computer zuverlässig eigenständig kommunizieren und programmieren kann, werden auch sie ersetzt. Und da der Computer über unsere verschiedenen Bedarfe hinweg ständig alle relevanten Daten präsent hat, durch Analyse seines menschlichen Gegenübers seine Verkaufsstrategie in Echtzeit anpassen kann und auch nach acht, zwölf oder 16 Stunden Einsatz nicht müde wird, wird er zum unwiderstehlichen Verkäufer und Verführer. Gilles Deleuze‘ Metapher vom Kapitalismus als Maschine wird Wirklichkeit. Müssen wir angesichts der neuen technischen Wirklichkeiten wirtschaftliche Freiheit neu bestimmen? – Der Liberalismus verteidigt zu Recht die Freiheit des menschlichen Unternehmers. Eine freie Gesellschaft ohne freie Berufswahl und freies Unternehmertum ist schwer vorstellbar. Der Ökonom Friedrich August von Hayek ging so weit, die ökonomische Gesellschaft als Retterin der Demokratie vor sich selbst zu feiern. Demokratie habe eine Tendenz dazu, »zwangsläufig egalitär« zu werden, schrieb er. Mit der Rechtsfiktion der „juristischen Person“ gemäß Artikel 19 des Grundgesetzes erkennen wir Unternehmen sogar Grundrechte zu und sind bereit, diese gegen die Grundrechte von Menschen abzuwägen. Doch würden wir auch einem von Maschinen gesteuerten Unternehmen Grundrechte zuerkennen, wenn es ein von Menschen gesteuertes Unternehmen ersetzte? – Mit verbundenen Augen wird Justitia den Unterschied nicht sehen.
Aufklärung, die wie Kant meinte, „einzig Freiheit“ brauche, wird da nicht reichen. Er hielt unsere Unmündigkeit noch für selbstverschuldet durch „Faulheit und Feigheit“. Der Liberalismus ist mit dieser These weit gekommen: Wir leben heute vermutlich in der wohlhabendsten und freiesten aller Welten. Kant war zuversichtlich, dass in einer freien Gesellschaft einige wenige anfangen würden zu denken und so den Rest aufklären. Allein, sie werden es schwer haben gegen die Maschinen und ihre Verführungskunst. Der Maschine gegenüber werden wir zunehmend unmündig. Sie weiß mehr über uns als wir selbst, kennt unsere Schmerzgrenzen, wenn wir für sie arbeiten sollen, und unsere Schwachstellen, wenn sie uns etwas verkaufen will. Wenn Adornos These stimmt, dass die mit dem ökonomischen System verbundenen Zwangserfahrungen den Rechten Auftrieb verleihen, – und diverse aktuelle Studien zeigen entsprechende Korrelationen zwischen der Unzufriedenheit mit der Demokratie und der Ablehnung der (ökonomischen) Globalisierung sowie dem Gefühl, nicht mehr zur Gesellschaft dazuzugehören – dann müssten wir uns Gedanken machen, wie wir die Menschen wieder in die Lage versetzen, Mündigkeit zu erfahren.
Wir müssten den individuellen Unternehmer gegenüber den anonymen Unternehmen stärken und den Menschen im Beruf wieder die Chance geben, in einem Umfeld zu arbeiten, das Autonomieerfahrungen ermöglicht.
Wir müssten die ökonomischen Entscheidungen im Privaten, die viele Menschen nicht überblicken können und die gesamtgesellschaftlich wenig Wert stiften, zurückdrängen. Niemand braucht die Vielzahl an Anbietern und Tarifen für den Bereich der (ehemals) öffentlichen Daseinsvorsorge.
Und wir müssten uns in der Politik wieder trauen, Entscheidungen politisch zu treffen, anstatt einen Marktmechanismus zu erfinden und dann darauf zu warten, dass die Klügsten und Schnellsten in dem neuen Markt gewinnen und die weniger Klugen und weniger Schnellen nach Subvention und Aufschub rufen.
All das würde bedeuten, dass unser gesellschaftlicher Wohlstand langsamer wächst, weil wir die wirtschaftliche Dynamik bremsen. Das macht Verteilungsfragen virulenter als heute und mag linke Gruppierungen stärken, muss aber für die liberale Gesellschaft nicht schädlich sein, waren es doch vor allem Arbeiterbewegungen und politische Linke, die in Spanien und Griechenland in den 1970ern und auch in Osteuropa Ende der 1980er Jahre zum Sturz totalitärer Regime beitrugen. Die Wirtschaft hingegen wird uns im Zweifelsfall nicht gegen den Totalitarismus zu Hilfe eilen, sie lebt damit in anderen Teilen der Welt recht gut und ist auch in Deutschland in der Vergangenheit nicht als große Widerstandskämpferin aufgefallen.
Carsten Lotz (46) studierte Philosophie und katholische Theologie in Freiburg, Tübingen, Bonn und an der Sorbonne in Paris. Er wurde 2007 in Dogmatik promoviert, arbeitete anschließend 17 Jahre für die Unternehmensberatung McKinsey, zuletzt als Partner in Paris. Seit Juli 2023 ist er freier Autor.
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