Liberté! – Die bunte Gesell­schaft braucht den freien Markt

Foto: Shut­ter­stock

Ohne die Markt­wirt­schaft wäre die liberale Demo­kratie weniger fort­schritt­lich, eman­zi­piert und gewiss weniger bunt. Die Erfolge von Fort­schritt, Eman­zi­pa­tion und Schutz für Minder­heiten in modernen Gesell­schaften werden oft ausschließ­lich der Demo­kratie zuge­schrieben, nicht aber der Markt­wirt­schaft. Diese gilt lediglich als notwen­dige Wohl­stands­ma­schine: effizient schafft sie im besten Fall Wohlstand und Arbeits­plätze. Fort­schritt, Eman­zi­pa­tion und Vielfalt verbinden aber die Wenigsten mit der Markt­wirt­schaft. Man würde gerne, aber kann nicht ohne sie. Dieser instru­men­telle Blick übersieht aber, dass es besonders die Markt­wirt­schaft ist, die der offenen Gesell­schaft ihre Farbe gibt. 

Der erst­plat­zierte Essay von Justus Enninga & Marius Drozdzewski

 

Unter­neh­me­rInnen – verkannte soziale Avantgarde

Die kollek­tive Erin­ne­rung an das deutsche Wirt­schafts­wunder ist geprägt durch die Bilder von alten, weißen, bundes­re­pu­bli­ka­ni­schen Männern: Eucken, Erhardt oder die Albrecht Brüder. Viele Frauen hingegen werden in der Erin­ne­rung an die junge Bundes­re­pu­blik ausge­blendet. Beate Rotermund-Uhse zum Beispiel, besser bekannt als Beate Uhse. Kurz vor dem Eintreffen sowje­ti­scher Soldaten 1945 kapert die ausge­bil­dete Kampf­pi­lotin ein Flugzeug, flieht mit ihrem zwei­jäh­rigen Sohn nach Schleswig-Holstein, gerät in britische Kriegs­ge­fan­gen­schaft und wird in der Schul­bü­cherei eines kleinen nord­frie­si­schen Dorfs als Flücht­ling unter­ge­bracht. Ausge­stattet mit einem Wander­ge­wer­be­schein für Spielzeug und Knöpfe versucht sie wenig erfolg­reich, Haar­wuchs­mittel von Tür zu Tür zu verkaufen. Doch Haus­tür­ge­spräche mit Frauen über „Ehehy­giene“ wie Zyklus, Periode und Verhütung, bringen Uhse auf eine bessere Idee: Sie publi­ziert die „Schrift X“, eine kleine Broschüre, die Frauen für zwei Reichs­mark über Verhütung aufklärt. Das Produkt ist ein Kassen­schlager: Bis 1947 verkaufen Uhse und ihr Ehemann 32.000 Exemplare.

Während Politik und Gesell­schaft der frühen Bundes­re­pu­blik die Anliegen von Frauen noch so versteckt hielten wie Knie unter waden­langen Falten­rö­cken, gründete Beate Uhse 1951 das „Spezial-Versand­haus für Ehe- und Sexu­al­li­te­ratur und für hygie­ni­sche Artikel“ – den ersten Sexshop Deutsch­lands. Die Unter­neh­merin gab ihren Kundinnen die Möglich­keit, sich über Sexua­lität zu infor­mieren, Verhü­tungs­mittel oder gar Sexspiel­zeug zu kaufen – der erste Dildo der Bundes­re­pu­blik firmierte noch züchtig unter dem Namen „Sorgen­frei“ oder „pneu­ma­ti­sche Teil­pro­these“. Und das, während noch jahrelang der Mann politisch und rechtlich über seine Ehefrau entscheiden konnte. Von Uhses Tabubruch profi­tierten natürlich nicht nur ihre Kundinnen, sondern auch die spätere Multi­mil­lio­närin. Sie selbst sah sich daher auch nie als „Liebes­die­nerin der Nation“, sondern immer zuerst als Unter­neh­merin: „Ich bin nicht Jesus, ich bin eine Kauffrau. Ich muss das anbieten und verkaufen, was die Leute haben möchten.“

Demo­kratie als Ordnungsrahmen

Auch wenn das junge deutsche Parlament beim Thema Gleich­be­rech­ti­gung viel zu spät handelte, gelang es mit Hilfe der West-Alli­ierten glück­li­cher­weise, nach Ende des Dritten Reiches endlich eine stabile parla­men­ta­ri­sche Demo­kratie in Deutsch­land zu etablieren. Die parla­men­ta­ri­schen Mehr­heits­ent­scheide aus Bonn und später Berlin waren ein Schlüssel, um die frei­heit­liche Ordnung zu schützen und notwen­digen Zwang demo­kra­tisch zu legi­ti­mieren. Denn so manche Probleme kollek­tiven Handelns erfordern einen staat­li­chen Rahmen, den zu schützen auch Zwang erfordert: Sicher­heit muss gewähr­leistet, Frei­heits­rechte bewahrt, das Klima geschützt und den Schwächsten der Gesell­schaft geholfen werden. Um poli­ti­schen Zwang zu legi­ti­mieren, hat die poli­ti­sche Theorie noch keinen besseren Weg gefunden als demo­kra­ti­sche Entschei­dungen im Einklang mit Minderheitenrechten.

Nur weil demo­kra­ti­sche Entschei­dungen für die staat­liche Rahmen­set­zung relevant sind, sollte jedoch nicht alles von Mehr­heiten entschieden werden. Wenn demo­kra­ti­sche Entschei­dungen zu stark in die Details privaten Lebens eingreifen, besteht die Gefahr, dass sich der Staat vom Rahmen­bauer zum Patri­ar­chen aufschwingt, der indi­vi­du­elle Lebens­ent­würfe vorschreibt. So gab das Grund­ge­setz ab 1949 zwar vor, dass Männer und Frauen gleich­be­rech­tigt sind. Die poli­ti­sche Realität war jedoch eine andere, patri­ar­cha­li­schere, und wurde von einer Mehrheit lange gestützt: Ehefrauen durften nur mit Zustim­mung ihres Gatten Konten eröffnen, und ohne Zustim­mung nicht arbeiten gehen. Ehemänner konnten ihren Frauen sogar ganz legal den Schlüssel für die gemein­same Wohnung abnehmen. Erst 1957, fast 10 Jahre nach Verab­schie­dung des Grund­ge­setzes, nach zähen Debatten, Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts­ent­schei­dungen und Unter­aus­schüssen, gelang es, grund­le­gende Gleich­be­rech­ti­gung zu schaffen. Erst dann wurden die Gesetze abge­schafft, die die Unter­drü­ckung von Frauen mit staat­li­chem Zwang stützten.

Markt­wirt­schaft – Belohnt werden für das Anderssein

Die Ungleich­be­hand­lung von Frauen ist ein krasses Beispiel poli­ti­scher Benach­tei­li­gung und zeigt, was geschieht, wenn – auch demo­kra­ti­sche – Staaten bestimmte Lebens­ent­würfe staatlich erzwingen. Das Beispiel Beate Uhses dagegen beweist, dass Unter­neh­me­rinnen lange vor der Politik auf dem Markt eman­zi­pa­to­ri­sche Möglich­keiten schaffen. Wer also für eine progres­sive, liberale Zukunft kämpft, sollte sich genau ansehen, wie die Markt­wirt­schaft Fort­schritt, Eman­zi­pa­tion und Vielfalt zur insti­tu­tio­nellen Norm erhebt. Dabei spielen zwei Prin­zi­pien eine besondere Rolle: die unter­neh­me­ri­sche Über­win­dung von Tabus und der Schutz von Vielfalt.

Unter­neh­me­rinnen können die Sorgen und Bedürf­nisse auch von Minder­heiten ernst­nehmen, ohne dass sie dafür Mehr­heiten gewinnen müssen. Während Konser­va­tive aus Politik und Gesell­schaft Beate Uhse rechtlich verfolgten, belohnte die Markt­wirt­schaft ihren Tabubruch. Und schaffte so Möglich­keiten für aufmerk­same, einfühl­same Menschen. Menschen, die über­se­hene Sorgen entdecken, sie bedienen, anderen helfen und dabei sogar selbst profitieren.

Das gilt nicht nur für Tabus in der Hete­ro­se­xua­lität. Auch die Eman­zi­pa­tion von Homo­se­xu­ellen wurde durch den Markt beschleu­nigt. In seinen Buch Buying Gay – How Physique Entre­pre­neurs Sparked a Movement beschreibt David K. Johnson eine ähnlich unter­neh­me­ri­sche Eman­zi­pa­ti­ons­ge­schichte wie die von Uhse. In den USA der 50er Jahre begeg­neten Männer aus den verschie­densten Bevöl­ke­rungs­schichten das erste Mal ihrer Homo­se­xua­lität in privaten Zeitungs­ge­schäften. Die markt­wirt­schaft­liche Struktur des Magazin- und Zeitungs­we­sens in den USA führte zu einem breiten Sortiment von Magazinen, so zum Beispiel erotische Zeit­schriften, die explizit männliche Körper in Szene setzten und immer stärker von Männern nach­ge­fragt wurden. Die Kioske und Magazin-Heraus­geber ließen sich dabei nicht vom stock­kon­ser­va­tiven Zeitgeist der USA abschre­cken, und verfolgten die ökono­misch sinnvolle Strategie, ihre Märkte mit dem zu versorgen, was die Konsu­menten nach­fragten. In seinem Buch sammelt Johnson viele Stimmen von späteren Akti­visten, die berichten, wie der erste Kontakt mit diesen Zeitungen einem Erwe­ckungs­er­lebnis gleichkam und so zum Zünd­funken einer ganzen Eman­zi­pa­ti­ons­be­we­gung wurde.

Die Markt­wirt­schaft erlaubt nicht nur, sie schafft auch Anreize fürs Anders­sein. Gleich­zeitig schafft die Markt­wirt­schaft aber auch die Grundlage, um verschie­denste Lebens­ent­würfe neben­ein­ander auszu­leben. Dabei sind markt­wirt­schaft­liche Wege in der Lage, viel­fäl­tigste Angebote zu machen, ohne auf Mehr­heits­ent­schei­dungen ange­wiesen zu sein. Müssten sich Don Alphonso und Luisa Neubauer, Mario Barth und Margot Käßmann, Sibylle Berg und Stefan Effenberg auf eine Idee des guten Lebens einigen: Es gäbe Chaos. Doch dank privater Eigen­tums­rechte und der Möglich­keit, unge­hin­dert Verträge zu schließen, die durch einen staat­li­chen Rahmen garan­tiert werden, können die unter­schied­lichsten Indi­vi­duen in einem geschützten Rahmen ihren eigenen Lebens­ent­wurf leben. Von Alphonso bis Käßmann leben auf dieser Basis Menschen der unter­schied­lichsten Couleur friedlich neben­ein­an­derher: ganz, ohne sich gegen­seitig zustimmen zu müssen.

Auch bei der Frage, was wir essen, tragen, lesen möchten, ist man froh um Unter­neh­me­rinnen, die nicht um Erlaubnis fragen müssen. Auf dem Markt braucht es nur einen willigen Anbieter, der eine minimal notwen­dige Nachfrage erkennt. Vom bewussten Fleisch­konsum – halal, koscher oder egal – über vege­ta­ri­sches und veganes Essen bis gluten- und lakto­se­frei: Super­märkte bieten fast alles. Und wer noch mehr Auswahl sucht, findet in jeder größeren Stadt noch Asia­märkte oder Fein­kos­t­ita­liener. Für den Durch­schnitts­deut­schen wären das vermut­lich zu viele Geschmacks­aromen. Mehr­heits­ent­schei­dungen über die Frage, welche Lebens­mittel mit unseren begrenzten Mitteln angeboten werden, würden in Deutsch­land wohl irgendwo zwischen Schweins­haxe und Labskaus enden. Mehr­heiten ließen sich da für viele Formen des Essens sicher nicht gewinnen. Viel Auswahl gäbe es auch nicht. So ist doch jeder froh, auf dem Markt seine ganz indi­vi­du­ellen Lieblinge zu finden.

Unter­schätzt von Gegnern und Befür­wor­tern: Die Buntheit der Marktwirtschaft

Markt­wirt­schaft ist nicht nur eine Wohl­stands­ma­schine. Sie ist auch wichtige Trieb­feder des Tabu­bruchs und des Plura­lismus in der liberalen Demo­kratie. Gegner der Markt­wirt­schaft unter­schätzen sie – genauso wie schein­bare Befür­worter. Konser­va­tive etwa, oft Befür­worter der Markt­wirt­schaft, müssen immer wieder erkennen, dass Markt­wirt­schaft auch heißt, dass Produkte für die Versor­gung von Trans­per­sonen auf dem Markt zu finden sind, ebenso wie schicke Designs für Kopf­tü­cher und englisch­spra­chige Baristas in Berliner Cafés: Schnell ist von der konser­va­tiven Begeis­te­rung für den Markt nicht mehr viel übrig. Statt­dessen setzen sie auf den Kampf gegen einen diagnos­ti­zierten „Werte­ver­fall“ der liberalen Gesell­schaft. Ökonomie-Nobel­preis­träger Friedrich August von Hayek wäre von der konser­va­tiven Irri­ta­tion über die Markt­wirt­schaft nicht über­rascht gewesen. Schon 1960 stellte er in seinem Aufsatz Why I am not a Conser­va­tive fest, dass der Konser­va­tismus ein struk­tu­relles Problem mit der Koexis­tenz verschie­dener Werte und Lebens­ent­würfe in der Markt­wirt­schaft habe, weil er die eigenen mora­li­schen Über­zeu­gungen auf die ganze Gesell­schaft über­tragen möchte. Für den Liberalen hingegen ist entschei­dend mit Leuten, die andere mora­li­sche Ansichten haben als er, an einer poli­ti­schen Ordnung zu arbeiten, in der beide ihren Über­zeu­gungen folgen können.

Die Markt­wirt­schaft ist für viele Gegner und vermeint­liche Befür­worter nur lästige Notwen­dig­keit. Ach, gäbe es doch Wohlstand ohne Unter­neh­mertum, Wett­be­werb und private Eigen­tums­rechte, dann wäre Demo­kratie genug. Doch diese Sicht verkennt das eman­zi­pa­to­ri­sche und progres­sive Potential der Mark­wirt­schaft in der liberalen Demo­kratie. Beate Uhse, Veggie-Burger und die Gay-Rights Bewegung: Gerade auch unter­neh­me­risch denkende Indi­vi­duen haben die Lebens­ent­würfe von Minder­heiten möglich gemacht, und durch Empathie, Mut und Geschäfts­sinn einer viel­fäl­ti­geren Gesell­schaft den Weg geebnet. Gleich­zeitig erlauben es starke Eigen­tums­rechte aber auch, die Vielfalt einer Gesell­schaft zu schützen, in der Don Alphonso und Luisa Neubauer friedlich zusam­men­leben. Voraus­set­zung ist, dass weder der Staat noch einzelne gesell­schaft­liche Gruppen tief in die privaten Lebens­ent­schei­dungen von Anderen eingreifen dürfen. Die Markt­wirt­schaft ist dabei kein notwen­diges Übel. Sie ist Grundlage für eine progres­sive und eman­zi­pierte Gesell­schaft, die unsere Welt beständig bunter macht. 

Textende

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