Auf der Kippe. Über grüne Politik unter radikal verän­derten Bedingungen

Foto: Anne Hufnagl

Die Grünen liegen in Umfragen bei zwölf Prozent, der Traum einer Öko-Volks­partei scheint ausge­träumt. Ralf Fücks warnt im Interview mit ZEIT ONLINE vor einer gefähr­li­chen Kippsituation.

ZEIT ONLINE: Herr Fücks, die bürger­liche Mitte wendet sich von den Grünen ab. Umfragen messen die Partei nur noch bei zwölf Prozent. Sind Sie überrascht? 

Ralf Fücks: Ich bin besorgt. Auch wenn ich nicht mehr partei­po­li­tisch aktiv bin, bin ich doch seit über vierzig Jahren mit diesem Laden verbunden. Ich sehe die Grünen im Kern als bürger­liche Partei im besten Sinne. 

ZEIT ONLINE: Was ist an den Grünen bürgerlich?

Fücks: Sie betonen Eigen­ver­ant­wor­tung und eine lebendige Demo­kratie, die von einer aktiven Zivil­ge­sell­schaft lebt. Sie verstehen Kompro­misse nicht mehr als Verrat und suchen die Zusam­men­ar­beit mit der Wirt­schaft.  Dennoch sind sie gerade in einer gefähr­li­chen Kippsituation.

ZEIT ONLINE: Was kippt?

Fücks: Vor wenigen Jahren sah es fast so aus, als könnten die Grünen die Führung der Republik über­nehmen. Die grüne Kanz­ler­kan­di­datin symbo­li­sierte diesen Anspruch. Der Zeitgeist schien mit den Grünen, man hatte die kultu­relle Hegemonie in den tonan­ge­benden Milieus. Dieser Hype ist vorbei. 

ZEIT ONLINE: Haben sich die Grünen die Erzählung, eine neue Volks­partei zu sein, zu sehr zu eigen gemacht?

Fücks: Das war schon immer eine Selbsttäuschung. 

ZEIT ONLINE: Was hat sich seitdem geändert?

Fücks: Die poli­ti­sche Groß­wet­ter­lage hat sich gedreht. Der Wind, der den Grünen lange ins Segel geblasen hat, kommt jetzt von vorn. Und er hat die Partei kalt erwischt. Sie hat bis heute nicht hinrei­chend reali­siert, dass die Voraus­set­zungen für ihre Politik heute grund­le­gend andere sind als vor wenigen Jahren. 

ZEIT ONLINE: Die Zustim­mung zu den Grünen fällt, gleich­zeitig wächst der Anteil derer, die sagen, sie würden nie die Grünen wählen. Warum wenden sich die Menschen ab?

Fücks: Wir leben in einer Krisen­welt. Der Krieg ist zurück. Ökono­mi­sche Probleme rücken in den Vorder­grund. Die Wirt­schaft stagniert, die Angst vor dem Verlust an Arbeits­plätzen in den Kern­in­dus­trien geht um. Und die Klima­krise, das Kernthema der Grünen, ist in der Prio­ri­tä­ten­liste der Bevöl­ke­rung nach hinten gerutscht. Eine ambi­tio­nierte Klima­po­litik wird inzwi­schen von wach­senden Teilen der Bevöl­ke­rung eher als Bedrohung ihres Wohlstand wahr­ge­nommen. Und als Beläs­ti­gung ihres Alltags­le­bens. Viele haben den Eindruck, die Grünen ziehen einfach ihre Blaupause durch, obwohl sich die Verhält­nisse geändert haben. 

ZEIT ONLINE: Können Sie ein Beispiel geben?

Fücks: Die Entschei­dung, den Atom­aus­stieg durch­zu­ziehen – mitten in der Ener­gie­krise, trotz hoher Ener­gie­preise und einer wach­senden Vola­ti­lität des Ener­gie­sys­tems – hat außerhalb der grünen Szene viel Glaub­wür­dig­keit gekostet. Wohl­ge­merkt: Es ging um den Zeitpunkt und die Reihen­folge von Atom- und Kohle­aus­stieg. Wenn die Klima­krise so drama­tisch ist, darf man nicht gleich­zeitig sein Instru­men­ta­rium verengen. Auch anderswo, etwa bei Gentechnik oder der CO2-Spei­che­rung, tun sie sich schwer, alte Gewiss­heiten über Bord zu werfen. 

ZEIT ONLINE: Sind die Grünen über­for­dert vom Regieren?

Fücks: Haben Sie den Eindruck, sie müssten sich hinter der SPD oder der FDP verste­cken? Sicher nicht. Es war beein­dru­ckend, wie Habeck und sein Team die Abkopp­lung von russi­schem Gas gewuppt haben. Und mit Blick auf die Ukraine sind die Grünen die treibende Kraft In der Ampel. Gleich­zeitig schleppen sie etliche ordnungs­po­li­ti­sche Unklar­heiten mit sich herum. Wie viel Markt, wie viel Staat braucht die Klima­po­litik? Wie engma­schig muss staat­liche Regu­lie­rung sein, wie weit sollte die Politik nicht nur Ziele, sondern auch Mittel und Wege vorgeben? Wie inter­na­tional muss die Ener­gie­wende angelegt sein? Die Antworten auf diese Fragen drängen jetzt viel mehr als in Zeiten einer florie­renden Ökonomie. Jetzt treten die Ziel­kon­flikte und Kosten der ökolo­gi­schen Trans­for­ma­tion viel krasser hervor.

ZEIT ONLINE: Was heißt das für die grüne Klima­po­litik?

Fücks: Sie wird nur erfolg­reich sein, wenn sie unter dem Strich auch ein ökono­mi­sches Erfolgs­pro­jekt ist. Nur dann ist sie auch anschluss­fähig für den großen Rest der Welt.

ZEIT ONLINE: Auf besondere Ablehnung stoßen die Grünen aber doch vor allem mit Kultur­kampf-Themen wie Geschlechter- und Iden­ti­täts­po­litik.

Fücks: Unsere Gesell­schaft wurde in den Grund­zügen immer liberaler, in Geschlech­ter­fragen wie bei der Sensi­bi­lität gegenüber Rassismus. Aber wenn man in diesen kultu­rellen Fragen überzieht, dann mobi­li­siert das Wider­stände – ob es um Sprach­po­litik geht oder die Über­hö­hung von Iden­ti­täts­fragen. Die große Mehrheit ist bereit, unter­schied­liche Lebens­formen und sexuelle Iden­ti­täten zu respek­tieren. Aber viele wollen nicht, dass alter­na­tive Lebens­ent­würfe zur Norm erhoben werden. Kultu­reller Wandel muss aus der Gesell­schaft kommen. Er sollte nicht von Staats wegen forciert werden.

ZEIT ONLINE: Was haben die Grünen also falsch gemacht?

Fücks: Der größte Fehler wäre, die eigene Agenda durch­zu­ziehen, ohne nach links und rechts zu gucken. Die Kinder­grund­si­che­rung ist eine gute Idee, aber sie wirkt jetzt wie aus der Zeit gefallen. Und der ursprün­giche Entwurf des Heizungs­ge­setzes war leider Wasser auf die Mühlen derer, die den Grünen vorwerfen, sie igno­rierten die Lebens­rea­lität großer Teile der Gesellschaft. 

ZEIT ONLINE: Ist das Land viel­leicht doch nicht so verän­de­rungs­be­reit, wie die Grünen geglaubt haben?

Fücks: Ich sehe das gemischt. Für viele gehen die Verän­de­rungen zu schnell, Anderen passt die ganze Richtung nicht. Wieder andere sind befür­worten eine aktive Klima­po­litik, haben aber Zweifel, ob der einge­schla­gene Weg zum Ziel führt. Schließ­lich gibt es einen wach­senden Unmut über staat­liche Eingriffe in die persön­liche Lebens­welt und die unter­neh­me­ri­sche Verant­wor­tung. In Teilen der Gesell­schaft – auch in der Wirt­schaft – baut sich ein anti-grüner Wutpegel auf. Die Grünen werden zum Sünden­bock auch für Fehl­ent­wick­lungen, die sie gar nicht zu verant­worten haben. 

ZEIT ONLINE: Wie konnten den Grünen das passieren?

Fücks: Viel­leicht weil sie die ambi­tio­nier­teste poli­ti­sche Kraft sind – diejenige, die am stärksten auf grund­le­gende Verän­de­rungen drängt. 

ZEIT ONLINE: Nament­lich Robert Habeck wollte die Grünen heraus­führen aus der Nische, in der die Partei jetzt wieder steckt. Ist er geschei­tert?

Fücks: Es ist bemer­kens­wert, dass die beiden grünen Spit­zen­leute in den Umfragen deutlich besser abschneiden als die Partei. Das zeigt, dass die Grünen durchaus über ihr Kern­mi­lieu hinaus­greifenkönnnen. Aber dafür muss sich die Partei ernsthaft mit kriti­schen Stimmen auseinanderzusetzen. 

ZEIT ONLINE: Was droht sonst?

Fücks: Es ist aller Ehren wert, dass die Grünen für die Popu­listen von rechts und links der Haupt­feind sind. Aber es wäre gefähr­lich, sich in der Rolle der aufrechten Minder­heit einzu­richten. Die mora­li­sche Selbst­ge­wiss­heit, immer für das Gute und Richtige zu stehen, geht vielen Leuten außerhalb des grünen Milieus auf den Keks. Dort gelten die Grünen vielfach als Partei, die Teile der Realität ausblendet. 

ZEIT ONLINE: Was wollen die Grünen nicht wahrhaben?

Fücks: Nehmen wir die Migra­ti­ons­po­litik. Wir haben den Ruf einer Partei, die gegen jeden Versuch ankämpft, Migration zu steuern und zu begrenzen. Beides gehört aber zusammen, wenn man einen dritten Weg zwischen Abschot­tung und offenen Grenzen finden will. Die Aufnah­me­ka­pa­zität unserer Gesell­schaft ist begrenzt. Wir müssen die Naivität abstreifen, dass wir es nur mit Flücht­lingen zu tun haben, die nichts anderes wollen, als in einer liberalen Gesell­schaft zu leben. Man muss die sozialen und kultu­rellen Konflikte ernst nehmen, die mit unge­steu­erter Zuwan­de­rung verbunden sind. Das haben die anti­jü­di­schen Erup­tionen nach dem 7. Oktober noch einmal eindring­lich gezeigt. Wenn man das ausblendet, aus Angst, damit der AfD in die Karten zu spielen, dann gerät man ins Hintertreffen. 

ZEIT ONLINE: Die Grünen­spitze würde wohl entgegnen: Wir haben doch vielen Verschär­fungen im Asylrecht, etwa der GEAS-Reform in der EU, zugestimmt. 

Fücks: Das stimmt. Aber fest­ge­setzt hat sich bei den Leuten, dass dies nur gegen hinhal­tenden Wider­stand geschah. In der Migra­ti­ons­frage haben die Grünen ihre real­po­li­ti­sche Wende noch vor sich. Das ist auch eine Demo­kra­tie­frage. Man darf Flucht und Migration nicht zu einem Phänomen erklären, das demo­kra­ti­scher Steuerung entzogen ist. Die Handlungs- und Problem­lö­sungs­lö­sungs­fä­hig­keit der demo­kra­ti­schen Insti­tu­tionen stehen infrage. Das ist der Kern der Vertrau­ens­krise in die Politik, die sich seit Jahren aufgebaut hat.

ZEIT ONLINE: Warum tun sich die Grünen damit so schwer?

Fücks: Es ist ja legitim zu sagen: Wir verstehen uns als eine gesin­nungs­ethi­sche Kraft, die für das Gute kämpft. Aber wenn man gestalten will, muss man  den Spagat einer normativ grun­dierten Real­po­litik aushalten, die wert­ori­en­tiert bleibt, aber die realen gesell­schaft­li­chen Bedin­gungen im Blick hat. 

ZEIT ONLINE: Wie kommen die Grünen also aus ihrem Loch wieder raus?

Fücks: Eine Mehr­heits­partei werden wir nicht, das ist klar. Aber wir müssen aus der Minder­heit heraus gesell­schaft­liche Mehr­heiten für die notwen­digen Verän­de­rungen bilden. Das heißt aller­dings auch, dass man sich nicht an allen Fronten gleich­zeitig verkämpfen darf. Man muss schon Prio­ri­täten setzen. Und letztlich ist die ökolo­gi­sche Frage die zentrale für die Grünen. Darum heißen sie ja so. Den Wandel zu einer klima­neu­tralen Gesell­schaft zu einem wirt­schaft­li­chen Erfolgs­pro­jekt zu machen und die sicher­heits­po­li­ti­sche Zeiten­wende voran­zu­treiben – das sehe ich als grüne Kern­auf­gaben der kommenden Jahre.

ZEIT ONLINE: Sollten die Grünen zur kommenden Bundes­tags­wahl noch mal einen Kanz­ler­kan­di­daten oder ‑Kandi­datin aufstellen – oder ist diese Zeit vorbei?

Fücks: Darüber zerbreche ich mir nicht den Kopf. Die Frage eines grünen Kanz­ler­kan­di­daten – oder einer Kandi­datin – stellt sich nur, wenn sie erfolg­reich regieren. 

ZEIT ONLINE: Sie waren Anfang der 90er Jahre Umwelt­se­nator und Bürger­meister in Bremen – und haben selbst das Scheitern einer Ampel-Koalition in der Hanse­stadt hautnah miterlebt. Haben Sie derzeit ein Déjà-vu?

Fücks: Auch wenn das nur Peti­tessen gegenüber den heutigen Heraus­for­de­rungen an die Bundes­re­gie­rung waren: das Grund­muster ist das gleiche, ja. An Ambi­tionen fehlte es uns damals nicht, geschei­tert sind wir an einem Mangel an Gemein­sam­keit in der Koalition. Das ist auch heute das Grund­pro­blem der Ampel. Nach meinem Eindruck liegt das am wenigsten an den Grünen. Aber die Koalition hat es bislang nicht geschafft, den gemein­samen Erfolg zu suchen. Das Ergebnis ist, dass alle drei Parteien in dieser Konstel­la­tion verlieren. Die meisten Leute inter­es­sieren sich nicht für partei­po­li­ti­sche Befind­lich­keiten. Sie wollen gut regiert werden.

Der Beitrag erschien am 22.04.2024 in ZEIT ONLINE.

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