Fücks und Beck: „Wir dürfen die Ukraine nicht zu falschen Kompro­missen zwingen“

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Marie­luise Beck und Ralf Fücks aus Charkiw im Interview mit dem Tages­spiegel – mit der Warnung von Kyjiw Zuge­ständ­nisse einzufordern.

Das Interview führte Claudia von Salzen.

Frau Beck, Herr Fücks, nach Ihrem Besuch in Kiew im März sind Sie jetzt auch in die ost-ukrai­ni­sche Stadt Charkiw gereist. Was ist Ihr Eindruck?

Ralf Fücks: In Kiew konnte man die Illusion haben, das normale Leben sei zurück­ge­kehrt. Die Menschen sitzen im Stra­ßen­café, man spürt an der Ober­fläche wenig vom Krieg. Charkiw ist dagegen eine Stadt im Krieg. Wir waren in einem Vorort, in dem Wohn­ge­bäude flächen­de­ckend von der russi­schen Artil­lerie zerschossen worden sind. Etwa 30 Prozent der Gebäude in Charkiw sind beschä­digt. Mehr als die Hälfte der Einwohner sind geflohen. Es gibt täglich weiterhin Rake­ten­be­schuss, wenn auch längst nicht mehr so drama­tisch wie in den ersten Wochen. Die ukrai­ni­sche Armee hat die russi­schen Truppen zurück­drängen können, aber die Grenze ist nur 40 Kilometer entfernt. Hier spürt man den Krieg in seiner ganzen Dramatik und seinem ganzen Leid.

Marie­luise Beck: Wir haben in Charkiw ein Haus besucht, in dem eine alte Dame in ihrer ausge­bombten Wohnung stand. Das ist ein reines Wohn­quar­tier. Diese Rake­ten­an­griffe sind syste­ma­ti­scher Terror gegen Zivilisten.

Wie würden Sie die Stimmung der Menschen beschreiben?

Beck: Offi­zi­elle und Militärs sind sich der Tatsache bewusst, dass die mili­tä­ri­sche Situation kritisch wird, weil Waffen und Munition ausgehen. Aber das hat bisher nichts an der Entschlos­sen­heit der Gesell­schaft geändert. Eine Frau, die uns in Charkiw begleitet hat, ist 2014 aus dem Donbass geflohen. Sie sagte: Von denen, die in der Stadt geblieben sind, wird niemand mehr gehen und niemand sich ergeben. Eher nehmen wir ein Gewehr in die Hand. Die waffen­tech­ni­sche Über­le­gen­heit der russi­schen Armee ist aller­dings drama­tisch. Es gibt jetzt wieder viel Druck auf Charkiw aus der Richtung von Isjum, das russische Militär greift mit modernen Panzern an. Charkiw bleibt sehr gefährdet.

Fücks: Man spürt hier den unbe­dingten Willen vieler Menschen, für die Freiheit und Unab­hän­gig­keit ihres Landes zu kämpfen. Aber dafür braucht die Ukraine dringend Waffen, die sie auf Augenhöhe mit der russi­schen Armee bringen, also weit­rei­chende Artil­lerie, Rake­ten­werfer und Panzer. Das alte sowje­ti­sche Gerät ist jetzt verschlissen und muss durch moderne westliche Waffen ersetzt werden, und zwar konti­nu­ier­lich. Ab und an ein paar Geschütze oder Luft­ab­wehr­sys­teme reichen nicht. Das ist ein Abnut­zungs­krieg, eine klas­si­sche Materialschlacht.

Bundes­kanzler Scholz zögert aller­dings weiter beim Thema Waffen­lie­fe­rungen. Dabei wären die ersten Marder jetzt lieferbar.

Beck: Wer bereit ist, sich mit der Realität in der Ukraine zu konfron­tieren, hat es schwer, hier Deutsch­lands Zurück­hal­tung zu erklären. Wir sind von einem Offizier durch Charkiw geführt worden, dessen Vater bei der Roten Armee war und sein Augen­licht im Kampf gegen die Wehrmacht verloren hat. Diese Menschen, für die das Unheil histo­risch immer wieder entweder aus dem Osten oder aus dem Westen gekommen ist, verstehen nicht, dass wir uns bei so einer offen­sicht­li­chen Barbarei nicht entschieden an ihre Seite stellen.

Fücks: Deutsch­land vermit­telt wider­sprüch­liche Botschaften. Die Bundes­re­gie­rung sagt einer­seits: Wir stehen an eurer Seite, Russland darf diesen Krieg nicht gewinnen. Ande­rer­seits verwei­gert sie der Ukraine die Mittel, die sie braucht, um diesen Krieg zu gewinnen.

Macron sagte kürzlich, man dürfe Russland nicht demütigen. Dieser Gedanke taucht auch in der deutschen Debatte auf.

Beck: Hier sollten wir die ukrai­ni­sche Erfahrung berück­sich­tigen. Die Annexion der Krim ist faktisch hinge­nommen worden. In den Minsker Verein­ba­rungen gab es Zuge­ständ­nisse in Bezug auf den Donbass, und dennoch hat der Krieg nie aufgehört. Wenn jetzt bei uns die Vorstel­lung besteht, die Ukrainer sollten doch so vernünftig sein, Putin den kompletten Donbass zur Gesichts­wah­rung zu über­lassen, ist das absurd. Die Menschen in der Ukraine wissen, dass dort dann Terror und Willkür herrschen werden. Außerdem würde das für Putin die Einladung sein, nach einem oder zwei Jahren den nächsten Schritt zu gehen. Selbst der Satz, die Ukraine müsse selbst entscheiden, ist nicht ganz ehrlich.

Warum?

Beck: Die Ukraine kann nicht selbst entscheiden, weil sie mili­tä­risch so drama­tisch unter­legen ist. Wenn der Westen die Ukraine durch unter­las­sene Hilfe­leis­tung in ein „Minsk 3“ hinein­treibt, wird es keine Ruhe geben. Wir dürfen die Ukraine nicht zu falschen Kompro­missen zwingen. Sollte das Land weiter zerstü­ckelt werden und auch der Süden fallen, wäre das eine riesige Hypothek für die Regie­renden in Kiew und ein Verlust an Glaub­wür­dig­keit für den Westen, der für sich eine werte­ge­bun­dene Außen­po­litik reklamiert.

Fücks: Das wäre nicht nur eine mora­li­sche Bank­rott­erklä­rung des Westens. Wir können dann die ganze euro­päi­sche Frie­dens­ord­nung in die Tonne treten. Wenn wir so massive Verlet­zungen des Völker­rechts hinnehmen, würden sich EU und Nato davon nicht erholen, geschweige denn, dass wir Putin damit ruhig­stellen. Im Gegenteil: Wir würden ihn ermutigen, im nächsten Schritt die Nato zu testen.

Scholz zögert bei den Waffen­lie­fe­rungen, Frank­reichs Präsident Macron sagt, man dürfe Russland nicht demütigen, der italie­ni­sche Regie­rungs­chef Draghi legte kürzlich einen Frie­dens­plan vor. Wie wahr­schein­lich ist es, dass diese drei der Ukraine Zuge­ständ­nisse abringen wollen?

Beck: Leider wird auch in den Parla­menten nicht offen disku­tiert, mit welcher Botschaft die drei nach Kiew fahren. Scholz, Macron und Draghi reprä­sen­tieren wichtige euro­päi­sche Staaten, aber das bedeutet nicht, dass die Ukrainer ihnen folgen werden. Die Ukrainer werden sich an dieje­nigen halten, die verstehen, was passiert, und die wirklich helfen. In Kiew wird damit gerechnet, dass es mili­tä­risch einen schwie­rigen Sommer geben kann. Selenskyj kann keine terri­to­rialen Zuge­ständ­nisse machen. Wenn er das tun würde, wäre er keinen Tag länger Präsident. Die Entschie­den­heit in der ukrai­ni­schen Bevöl­ke­rung ist so groß, wie wir uns das nicht vorstellen können. Denn die Ukrainer wissen, was russische Besatzung bedeutet.

Womit müssen Scholz, Macron und Draghi bei ihrem Besuch in Kyjiw rechnen?

Fücks: Sie werden mit drei zentralen Fragen konfron­tiert werden. Die eine ist: Seid ihr bereit, uns zu unter­stützen, diesen Krieg zu gewinnen? Wenn ihr bereit seid, dann müsst ihr auch ausrei­chend Waffen liefern. Die zweite Frage wird der EU-Kandi­da­ten­status sein. Die Ukraine braucht ein klares Bekenntnis, dass sie Teil der demo­kra­ti­schen Gemein­schaft Europas ist und nicht zurück­ge­stoßen wird in eine Puffer­zone zwischen der EU und Russland. Das würde bedeuten, sie wieder unter russi­schen Einfluss zu bringen. Die dritte Erwartung lautet, schnelle Hilfe beim Wieder­aufbau zu leisten, damit das Land ökono­misch überleben kann.

Beck: Die Reise wird auch eine Botschaft an Putin sein. Alle Kompro­miss­vor­schläge würden in Moskau als Ermu­ti­gung verstanden werden, dass die Politik der mili­tä­ri­schen Stärke Erfolg hat.

Fücks: Mit dem Auswei­chen vor der Frage, wer diesen Krieg gewinnen soll, machen wir Putin stärker, als er ist. Wir über­lassen ihm die Eska­la­ti­ons­do­mi­nanz, indem wir vor allem sagen, was wir auf keinen Fall tun werden. Dass Putin sich mit der gesamten Macht der Nato anlegen würde, oder dass er bereit wäre, auch Russland in einem finalen Atomkrieg in die Luft zu sprengen – das sind Geis­ter­fan­ta­sien. Die Politik der Furcht führt dazu, dass man letztlich Putin gewinnen lässt. Wir sind jetzt an einem entschei­denden Punkt: Wir können Russland den Abschied vom Imperium nicht ersparen. Wenn die Russen nicht gezwungen sind, diesen Schritt zu voll­ziehen, wird es keinen dauer­haften Frieden und Sicher­heit in Europa geben.

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