Den Preis bezahlt –
Netanyahu und die Ultraorthodoxen

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Das neue Haushalts­budget Israel sieht mehr Gelder für Ultra­or­thodoxe vor als je zuvor. Das wird massive Konse­quenzen für das Land haben, analy­siert Richard C. Schneider.

Man muss sich das mal ganz konkret anhand von Zahlen vorstellen: etwa 14% der Bevöl­kerung des Staates Israel werden im neuen Haushaltsjahr etwa 5,4 Milli­arden Schekel erhalten, das sind etwa 1,3 Milli­arden Euro. 1,3 Milli­arden von einem Staats­budget über 122 Milli­arden Euro. Und wenn man bedenkt, dass ein sehr großer Teil dieser Bevöl­kerung überhaupt nicht arbeitet und kaum etwas zum BIP des Landes beiträgt, wäre man versucht zu sagen, es handelt sich hier um soziale Hilfe­stellung. Doch dem ist nicht so. Es geht um Macht­erhalt und um einen politi­schen, gesell­schaft­lichen und ideolo­gi­schen Umbau des Staates, der sich hier allmählich abzeichnet.

Die „Gottes­fürch­tigen“ sind gegen alles, was das säkulare Israel ausmacht

Die Rede ist von den Ultra­or­tho­doxen Israels. Sie sind der am schnellsten wachsende Bevöl­ke­rungs­anteil der israe­li­schen Gesell­schaft, alle 16 Jahre verdoppelt sich ihre Zahl. Die Haredim, die Gottes­fürch­tigen, wie sie genannt werden, sind gegen alles, was das säkulare Israel ausmacht. Sie wollen mit dem Staat nichts zu tun haben – außer mit seiner finan­zi­ellen Unter­stützung – oder aber ihn umbauen, hin zu einem halachi­schen Staat, einem Staat, der nach dem Religi­ons­gesetz regiert wird. Bis dahin wollen sie Geld, viel Geld für ihre Jeschiwot, ihre Religi­ons­schulen, wo ihre jungen Männer von früh bis spät die Heiligen Schriften studieren, keiner Arbeit nachgehen und obendrein auch noch vom Militär befreit sind. Das möchten sie auch noch per Gesetz endgültig verankert haben, um nicht abgelenkt zu sein vom Religionsstudium.

Netanyahu braucht die ortho­doxen Parteien

Premier Benjamin Netanyahu hat seinen frommen Koali­ti­ons­partnern so viel Geld gegeben wie nie zuvor in der Geschichte Israels. Ob Unter­stützung der Jeschiwot, Subven­tio­nierung von Nahrungs­mitteln, die Errichtung neuer sakraler Bauten, in nahezu allen Bereichen, die die Frommen betreffen, wurden die Gelder und Zuwen­dungen massiv erhöht. Netanyahu braucht die ortho­doxen Parteien, um sich an der Macht zu halten und diese haben ihn seit vielen Jahren fest im Griff.

Während der Pandemie beispiels­weise erließ Netanyahu wie alle Regie­rungen der Welt einen Lockdown. Ganz Israel hielt sich daran. Ganz Israel? Nein, die Frommen nicht. In ihren Stadt­vierteln und Städten gingen sie weiterhin in die Synagogen, in die Jeschiwot, saßen zusammen, beteten und lernten Thora und Talmud. Netanyahu schickte die Polizei los, um für Ordnung zu sorgen. Bis die Rabbiner ihm drohten, dass ihre Parteien die Koalition verlassen würden. Da gab der Premier nach. Die Frommen machten, was sie wollten, die anderen saßen daheim in der Isolation.

Kein Beitrag zum Staats­haushalt, aber staatlich alimentiert

Der neue Staats­haushalt ist für die meisten Israelis ein Skandal. Denn wer soll das Geld erwirt­schaften? Nicht die Ortho­doxen natürlich, sondern genau der Teil der Gesell­schaft, den diese Gottes­fürch­tigen eigentlich ablehnen und verachten. Oder noch genauer: rund 10% der Gesell­schaft muss dieses Geld erwirt­schaften, der High-Tech Sektor, der den wesent­lichsten Anteil am Wohlstand Israels erarbeitet.

Bedrohung der liberalen Demokratie Israels

Was mit dem Staats­haushalt offen­sichtlich wird, ist nicht nur das Bestreben Netan­yahus unbedingt an der Macht zu bleiben. Der restlos unreli­giöse „Bibi“, wie der Premier nur genannt wird, leistet einem gesell­schaft­lichen Umbau Vorschub, der es in sich hat. Wenn man bedenkt, dass seine anderen Koali­ti­ons­partner radikale Siedler sind, die jenseits ihrer politi­schen Ziele – unter anderem die Annexion des Westjor­dan­landes – ebenfalls einen halachi­schen Staat wollen, dann wird hier das Fundament gelegt, Israels liberale Demokratie endgültig aus den Angeln zu heben.

Der neue Staats­haushalt zemen­tiert die Umgestaltung der Gesellschaft

Es ist nicht die seit Monaten heiß umstrittene „Justiz­reform“, die das in die Wege leiten soll, das Projekt, das ein Ende der Gewal­ten­teilung vorsieht und bislang nur gestoppt wurde, weil der Massen­protest der liberalen und demokra­tie­treuen Israelis so stark wurde, dass der Premier keine andere Wahl mehr hatte, als die Pläne seiner Regierung erst einmal auf Eis zu legen. Die Umgestaltung der Gesell­schaft wird durch den neuen Staats­haushalt fast schon unumkehrbar gemacht, denn sie unter­stützt die demogra­phische Entwicklung – und mehr noch: Sie unter­stützt dauerhaft die Armut und Abhän­gigkeit der Frommen vom Staat.

Netanyahu gibt sogar jenen Jeschiwot, in denen nicht einmal mehr die Basis einer modernen Erziehung gelehrt wird, wie etwa Rechnen und Englisch, mehr Geld denn je zuvor. Die Abgänger solcher Schulen haben noch weniger Chancen auf ein eigenes, wirtschaftlich unabhän­giges Leben als jene anderer Religi­ons­schulen. Was sie aber nicht weiter inter­es­siert. Der Staat zahlt ja, also was soll’s?

Neben der Justiz­reform ist dies für die Protest­be­wegung, die schon seit 5 Monaten auf die Straße geht, nun schon das zweite Thema, das ihr Antrieb gibt, sich gegen die rechteste und extremste Regierung in der Geschichte Israels zu stellen. Denn es ist ja nicht nur so, dass einem Teil der Bevöl­kerung noch tiefer in die Tasche gegriffen wird. Die Geldge­schenke an die Haredim gehen auf Kosten des maroden Gesund­heits­systems, aber auch einer Moder­ni­sierung des Schul­systems, das inzwi­schen so schlecht ist, dass Eltern, die es sich irgendwie leisten können, ihre Kinder auf Privat­schulen schicken. Schlechte Infra­struktur, soziale Probleme und vieles mehr müsste in Israel dringend angegangen werden – doch von welchem Geld, wenn das Budget nicht vorhanden ist, weil die Ortho­doxen so viel bekommen?

Sinkende Wirtschafts­kraft und eine gespaltene Gesellschaft

Was Netanyahu da zulässt, ist ihm, der Wirtschaft zutiefst versteht und mitge­holfen hat, das Land zu einem wirtschaft­lichen, techno­lo­gi­schen und militä­ri­schen Power­house zu machen, im Grunde unwürdig. Denn dieses Konzept wird dazu führen, dass die Wirtschafts­kraft, das Know-How, die techno­lo­gische Überle­genheit des Landes mittel­fristig sinken und die Auswan­derung gerade der Begab­testen fördern wird.

Die Tragödie nimmt also ihren Lauf. Seit Antritt der neuen Regierung im Januar ist Israel schwächer, zerris­sener und zerstrit­tener denn je. Die Wirtschaft schwä­chelt bereits, der Wert des Schekels ist gesunken, der Riss, der die Gesell­schaft spaltet, wird immer tiefer und größer. Das alles konnte Staats­gründer David Ben Gurion nicht voraus­sehen, als er 1947, ein Jahr vor der Entstehung Israels, den Ultra­or­tho­doxen im sogenannten „Status-quo Brief“, de facto das religiöse Monopol im Land ebenso versprach wie die Freistellung der Jeschiwa-Studenten vom Militär­dienst. Damals waren das ein paar Hundert. Heute sind es rund 150 000, Tendenz: rasch und massiv steigend.

Netanyahu handelt wider besseres Wissen. Aber er will Premier sein und bleiben, am liebsten für immer. Die ultra­or­tho­doxen Parteien helfen ihm dabei – aber das kostet. Er hat den Preis bezahlt. Ob die Bevöl­kerung das mitmachen wird, bleibt abzuwarten.

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