„Wir müssen unsere Freiheit entschlossen verteidigen“
Mit den 68ern protestierte er gegen den Vietnamkrieg, dann wurde er Maoist, schließlich landete er bei den Grünen. Ralf Fücks, Leiter des „Zentrums Liberale Moderne“, hat die Irrungen und Wirrungen der deutschen Linken zwischen Pazifismus und Krieg hautnah miterlebt. Er meint: Angesichts von Wladimir Putins Brutalität müssen wir unsere Freiheit entschlossen verteidigen – auch mit militärischer Abschreckung.
Herr Fücks, was macht Putins Überfall auf die Ukraine mit den Deutschen – einem Volk, von dem immer behauptet wurde, es sei im Grunde latent pazifistisch?
Was wir jetzt erleben, ist ein kollektiver Schock. Eine Mischung aus Erschrecken und Aufwachen in einer neuen Realität. Weite Teile von Politik und Bevölkerung hatten sich eingerichtet in einer Wunschwelt, die noch aus den 1990er Jahren stammt: Es gibt keine Gegner mehr, wir sind umzingelt von Freunden, die Zeit von militärischer Bedrohung ist vorbei, wir ernten jetzt die Friedensdividende. Wir haben über Jahre verdrängt, dass diese Welt sich verändert hat, dass wir in einem neuen Systemkonflikt stehen mit gewaltbereiten autoritären Mächten, und dass in Russland eine revanchistische Macht herangewachsen ist.
Sie verwenden den Begriff „revanchistisch“ für das Putin-Regime in Russland?
Haben Sie einen besseren? Putin verfolgt eine revanchistische Großmachtpolitik, er will das Imperium wiederherstellen und die Landkarte mit Gewalt neu zeichnen. Das hat er schon 2008 mit seinem Krieg in Georgien gezeigt, 2014 mit der Annexion der Krim, dann in Syrien, wo er Krankenhäuser und Schulen bombardieren ließ.
78 Prozent der Deutschen finden die Waffenlieferungen richtig, ebenso viele unterstützten das zusätzliche 100-Milliarden-Paket für die Bundeswehr.
Als Olaf Scholz seine Kehrtwende im Bundestag angekündigt hat, das war, als hätte jemand den Vorhang von einer Kulisse weggezogen, auf einmal wurde ein ganz neues Bühnenbild sichtbar. Deutschland durchläuft einen dramatischen Lernprozess. Was mich verblüfft ist dessen Geschwindigkeit. Ich hatte eher gedacht, wir rutschen in eine Situation wie zu Anfang der 1980er Jahre in der Auseinandersetzung um die Nato-Nachrüstung. Also in eine scharfe Polarisierung der Gesellschaft und Proteste auf der Straße. Nichts davon. Stattdessen wie aus dem Erdboden riesige Demonstrationen, die nicht einfach nur nach „Frieden“ rufen, sondern klar Position beziehen für das Recht des ukrainischen Volkes, seine Freiheit zu verteidigen.
Woran könnte das liegen, dass es nicht so ist wie damals beim Nato-Doppelbeschluss?
Die Ukraine ist uns plötzlich nah, räumlich und auch emotional. Bei allen Problemen, die es dort gibt, der Korruption, der Macht der Oligarchen: Wir sehen, dass es ein Land im Aufbruch ist, das seine Freiheit will. Diese zurückhaltende Kälte, die es bei uns jahrelang gab, die moralische Indifferenz und die Offenheit für die russische Propaganda – das ist auf einmal weg, jetzt, wo Putin die Ukraine und die Menschen dort zur Schlachtbank führen will. Es ist ein zutiefst verstörendes Erlebnis, das dazu führt, dass viele bereit sind, alte Glaubenssätze in Frage zu stellen.
Zum Beispiel den: „Keine Waffenlieferungen in Konfliktgebiete!“
Mit diesem Satz stimmte doch immer schon etwas nicht. Er lief darauf hinaus, eine Neutralität in militärischen Konflikten zu reklamieren, also nicht unterscheiden zu wollen zwischen Angreifer und Verteidiger, zwischen denen, die ihr Recht auf Selbstverteidigung wahrnehmen und einer überlegenen Militärmacht, die sie unterwerfen will. In der Konsequenz ist das eine Parteinahme für den Aggressor. Ausgerechnet in einem Krieg sollen Waffenlieferungen tabu sein – also dann, wenn die Angegriffenen sie dringend brauchen? Das ist nicht zu Ende gedacht. Deutschland wollte letztlich eine große Schweiz sein, die mit allen Geschäfte macht, aber sich aus allen Konflikten heraushält. Dieses Konstrukt fällt jetzt wie ein Kartenhaus in sich zusammen.
Begründet wurde die Ablehnung von Waffenlieferungen aber moralisch: Wer Waffen liefert, fördert den Krieg.
Man kann in einer solchen Situation, wie wir sie jetzt in der Ukraine erleben, seine Hände nicht in Unschuld waschen. Auch wer nichts tut, macht sich schuldig: durch unterlassene Hilfeleistung. Politik heißt eben auch, Unterscheidungen zu treffen, Partei zu ergreifen, sich zu entscheiden zwischen Gut und Böse. Nicht alle sind gleich gleichermaßen schuld an diesem Krieg. Es gibt einem Aggressor und eine Nation, die sich zur Wehr setzt. Das ist das Neue: Dass Deutschland sich entschieden hat, in dieser Auseinandersetzung Partei zu ergreifen.
Gregor Gysi hat diese Tage gesagt: „Alles, was ich immer gesagt habe, ist an dem Tag gestorben, an dem ein völkerrechtswidriger Krieg beginnt.“ Glauben Sie, dass es im Moment vielen so geht, gerade unter Linken und Grünen?
Ich kaufe das nicht allen ab, die jetzt beteuern: „Wir haben uns geirrt.“ Man konnte schon lange wissen, was das für ein Regime in Moskau ist. Nehmen Sie nur die Putin-Legende von der drogenabhängigen Nazi-Clique, die sich in Kiew an die Macht geputscht habe. Goebbels würde vor Neid erblassen über diese Lügenpropaganda. Allzu viele haben ihr allzu lange nicht widersprochen.
Sie selbst sind in der westdeutschen Linken politisch großgeworden. Haben Sie eigentlich Wehrdienst geleistet?
Gute Frage. Als sie aufkam, war ich schon in meiner linksradikalen Phase zwischen Schule und Studium in Heidelberg. Ich habe verweigert mit der Begründung, ich wollte mich nicht an einem imperialistischen Krieg beteiligen. Das wurde natürlich nicht anerkannt. Zu Recht, denn das ist ja keine Ablehnung von Gewalt aus Gewissensgründen. Ich wurde dann aber nicht eingezogen, vermutlich wegen meiner radikalen Umtriebe. Ich galt wohl ein Sicherheitsrisiko.
Sind sind dann zum „Kommunistischen Bund“ (KBW) gegangen, einer maoistischen Splitterpartei. Wie wurde dort über das Thema Gewalt und Militär gedacht?
Wir träumten von der gewaltsamen Revolution in Deutschland und schwärmten für den antiimperialistischen Befreiungskampf in der Dritten Welt. Von Pazifismus keine Rede. Für meinen Ausstieg aus dieser Sackgasse spielte die Gewaltfrage eine zentrale Rolle. Ein Wendepunkt war das Erschrecken über den Terror der RAF. Diese Genickschussmentalität, an einer Haustür zu klingeln, mit einem Blumenstrauß in der Hand, und dann den Hausherrn zu erschießen. Oder Hanns-Martin Schleyer kaltblütig in seinem Verließ zu ermorden. Die Konsequenz war für mich aber nicht ein politischer Pazifismus im Sinne der Ablehnung alles Militärischen. Vielmehr ging es um die Selbstverpflichtung auf Gewaltfreiheit in der politischen Auseinandersetzung, das ist etwas ganz anderes. Auch das war ein Grund, zu den Grünen zu gehen.
Sie haben die westdeutsche Friedensbewegung Anfang der 1980er Jahre erwähnt, die Hunderttausende auf die Straße brachte. Auch sie waren dabei. Wie haben Sie diese Zeit erlebt? Und wie stark hat sie das Land geprägt?
Das war eine Massenbewegung. Die Grünen sind in den Bundestag gekommen durch die Kombination von Anti-Atomkraft-Protesten und den Protesten gegen die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen. Diese Anti-Raketen-Bewegung war allerdings zu großen Teilen eine Anti-Nato-Bewegung. Da sollten wir uns nichts in die Tasche lügen. Es gab zwar einen Flügel, der solidarisch mit den Dissidenten und Bürgerrechtsbewegungen in Osteuropa war und für Abrüstung in West und Ost eintrat. Aber die Mehrheit stellte die amerikanischen Atomraketen als die eigentliche Gefahr dar, nicht die russischen. Es gab beides: Einen authentischen Pazifismus als ethisches Prinzip – und einen Pseudo-Pazifismus als Fassade für Anti-Amerikanismus und „Raus aus der Nato“-Parolen.
Russland hatte ab 1979 Afghanistan überfallen und nach einem brutalen Krieg besetzt. Aber anders als beim Vietnamkrieg gab es keine Massenproteste. Bis zum Ukraine-Krieg war Ähnliches immer wieder zu beobachten: Scharfe Kritik an den USA gepaart mit Wegschauen, was Moskau betrifft oder sogar „Russland-Versteherei“. Woher kommt dieser selektive Moralismus?
Das Verhältnis der Deutschen zu Amerika war immer zutiefst ambivalent. Da gab es einerseits die Faszination für Amerika als Inbegriff der Moderne und das Aufsaugen aller kulturellen Impulse, die von da kamen: Martin Luther King und die Bürgerrechtsbewegung, Rock’n Roll und Blues, Woodstock und Hollywood. Und gleichzeitig eine tiefsitzende Antipathie.
Wie ist die erklärbar?
Ich erinnere mich noch an Gespräche, die ich als Kind bei Familientreffen erlebte, wo es immer wieder um den amerikanischen „Bombenterror“ im zweiten Weltkrieg ging. Und dieses Narrativ hat sich fortgepflanzt bis zu den Protesten gegen den Nato-Einsatz im Kosovo-Krieg. Da tauchten dann Plakate auf mit dem Slogan: „Dresden – Hiroshima – Hanoi – Belgrad“. Es wurde eine Kontinuität amerikanischer Kriegsverbrechen unterstellt. In den Protesten gegen den Vietnamkrieg gab es die Parole „USA-SA-SS“. Amerika auf einer Stufe mit dem Nationalsozialismus. Unglaublich, aber so war es.
Warum war die westdeutsche Linke für diese Narrative so empfänglich?
Nehmen Sie das Bonmot von Henryk M. Broder: „Die Deutschen werden den Juden den Holocaust nie verzeihen.“ Man beschuldigt Israel, wenn es sich gegen den Raketenterror der Hamas zur Wehr setzt, bezeichnet es als „Apartheidstaat“ und attestiert damit den Nachkommen der Opfer deutscher Massenverbrechen, dass sie auch nicht besser sind als unsere Nazi-Väter und Mütter. Diese Täter-Opfer-Umkehr gibt es auch gegenüber den USA: „Wir werden den Amerikanern nie verzeihen, dass sie uns befreit haben.“ Die Söhne und Töchter der Wehrmachtsgeneration sind unter der Last einer schweren deutschen Schuld aufgewachsen. Zur psychologischen Entlastung haben sie dann den deutschen Verbrechen die der USA in Vietnam und anderswo gegenübergestellt. Seht Ihr, Ihr seid auch nicht besser! Damit war man dann gleichsam quitt. Gegenüber Russland gab es diese Form der psychologischen Schuldabfuhr nicht. Vielleicht wegen der Grausamkeit des deutschen Vernichtungskriegs im Osten – die Sowjetunion musste sich ja verteidigen gegen den deutschen Angriff, nachdem Stalin zuvor mit Hitler paktiert hatte. Gegenüber Russland gibt es ein schlechtes Gewissen – nicht aber gegenüber Amerika.
Auf den Friedensdemos wurde gerufen: „Nie wieder Krieg!“, „Stell Dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin“ oder auch „Raus aus der NATO – rein ins Vergnügen!“ Wie denken sie heute darüber?
Das war alles nicht zu Ende gedacht. Es ist eine halbierte Lektion aus der deutschen Geschichte, wenn man ausblendet, dass wir durch einen erbitterten Krieg besiegt werden mussten. Jeder Krieg ist eine Tragödie, jeder Krieg, selbst ein gerechtfertigter Krieg, ist eine menschliche Katastrophe. Deshalb müssen wir alles tun, um Konflikte möglichst gewaltfrei zu lösen und Kriege zu verhindern. Aber wenn man „Nie wieder Krieg!“ absolut setzt, verwischt man den Unterschied zwischen einem Angriffskrieg, der darauf abzielt, andere Nationen zu unterwerfen, und einem legitimen Verteidigungskrieg gegen einen Aggressor. Am Ende ist dann alles gleich. Der deutsche Überfall auf Polen oder die Hungerblockade gegen Leningrad stehen dann auf der gleichen Stufe wie die Bombardierung Dresdens. Die fundamentale Differenz zwischen einem ungerechten und einem gerechtfertigten Krieg zu leugnen wird zum Alibi für eine bequeme ohne-mich-Position, wenn es um Auslandseinsätze der Bundewehr geht. Der deutsche Nationalpazifismus zeigt hier seine egoistische Seite: die Verteidigung von Sicherheit und Freiheit will man mitsamt den damit verbundenen Kosten lieber anderen überlassen. Dieser Egoismus wird mit einer höheren Moral des Gewaltverzichts veredelt.
Hat das, was Sie „Nationalpazifismus“ nennen die deutsche Haltung bis in die Gegenwart geprägt?
Ja, aber er wurde zunehmend brüchig, auch innerhalb meiner Partei. Die Auseinandersetzung um die militärische Intervention in Bosnien und im Kosovo, das war eine richtige Zerreißprobe für die Grünen, bis hin zur Farbbeutel-Attacke auf Joschka Fischer. Da hat sich auf dem Balkan ein ethnischer Nationalismus ausgetobt, mitten in Europa, ein genozidaler Krieg mit Vergewaltigung, Folter, Vertreibungen und Massakern wie in Srebrenica – und wir haben uns bis zum Exzess über eine militärische Intervention zur Beendigung dieses Gemetzels gestritten.
Die einen haben gesagt: Deutschland darf nie wieder einen Krieg führen, das ist die Lehre aus Auschwitz. Die anderen haben gesagt. Wir müssen diesen Krieg führen. Denn genau das ist die Lehre aus Auschwitz.
Meine Position ist: Ich will nie wieder einen Angriffskrieg aus Deutschland, nie wieder Krieg als Mittel imperialer Politik. Aber aus der Erfahrung von Krieg und Völkermord erwächst auch die Verpflichtung, denen zur Seite zu stehen, deren Leben und Freiheit bedroht sind. Auschwitz wurde ja nicht durch gewaltlosen Widerstand befreit, sondern durch militärische Gewalt.
War das Verhältnis der bundesdeutschen Linken zum Thema Gewalt und Militär letztlich eine einzige Abfolge von schweren historischen Irrtümern?
So weit würde ich nicht gehen. Es gab innerhalb der Linken immer unterschiedliche Haltungen, etwa zur Frage von Waffenlieferungen an Israel oder zur Beteiligung an humanitären Interventionen wie im Kosovo. Letztlich haben sich auch die Grünen mehrheitlich entscheiden: Wir können bei einem drohenden Völkermord nicht zuschauen. Aber Ihre Frage ist nicht unberechtigt. Wenn man die Geschichte der Linken kritisch reflektiert, verliert man zumindest das chronisch gute Gewissen – die Überzeugung, dass man immer auf der richtigen Seite der Geschichte gestanden hat.
Glauben Sie, dass das Bild, das wir von der Bundeswehr haben, sich jetzt ändert angesichts der Bedrohung, die von Russland ausgeht?
Wir hatten uns ja weitgehend verabschiedet vom Prinzip der Bündnisverteidigung, also von der Möglichkeit des Krieges in Europa. Das gilt auch für die Fähigkeit zu militärischer Abschreckung. Es herrschte die Überzeugung vor: Unsere Sicherheit wird eher über Auslandeinsätze in weit entfernten Weltgegenden wie am Hindukusch verteidigt, dafür reichen hoch professionelle Spezialkräfte aus. Jetzt hat uns der Krieg in der Ukraine mit einer neuen Wirklichkeit konfrontiert, mitten in Europa. Der Glaube, wir könnten uns das Problem militärischer Sicherheit räumlich vom Leibe halten und damit auch mental verdrängen, hat sich als Illusion erwiesen. Der Krieg findet vor unserer Haustür statt. Damit rückt in unserer Wahrnehmung auch die Bundeswehr wieder näher.
Ab und zu Skandale um Beraterverträge oder Nazi-Klüngel – ansonsten hatten wir fast vergessen, dass es diese Bundeswehr überhaupt noch gibt.
Ja, aber das ist auch eine Konsequenz aus der Abschaffung der Wehrpflicht. Dass die Distanz wächst zwischen der Bundeswehr und einer Gesellschaft, die in ihrer großen Mehrheit gar keine Berührung mehr hat mit ihrer Armee und mit allem Militärischen. Wir haben unsere militärische Sicherheit praktisch ausgelagert an eine professionelle Truppe von Freiwilligen und Berufssoldaten – eine Sicherheitsagentur namens Bundeswehr. Die sollte für uns Sicherheit produzieren, uns ansonsten aber mit der unbequemen Realiltät von Krieg und Gewalt nicht weiter behelligen. Wieder ein psychologischer Verdrängungsmechanismus. Aber der funktioniert jetzt nicht mehr. Das merken Sie ja schon, wenn Sie abends die Bilder aus der Ukraine in der „Tagesschau“ sehen.
Wären Sie dafür, die Wehrpflicht wieder einzuführen?
Wenn man sich die Geschichte anschaut, muss man sagen: Die Wehrpflicht ist eine fortschrittliche, republikanische Institution. Als Linker muss man also eigentlich dafür sein. Ich glaube aber, dass diese Art von Volksheer für den modernen, hochtechnisierten Krieg nicht mehr passt. Dafür braucht man eine hoch professionelle, bestens ausgebildete und bewaffnete Truppe. Aber ich bin sehr dafür, dass das öffentliche Bild der Bundeswehr geradegerückt wird. Dass Jugend- oder Bildungsoffiziere der Bundeswehr an Schulen nicht zugelassen werden, ist ein Unding. Wir haben eine Parlamentsarmee, die Soldaten werden vom Bundestag, also in unserem Auftrag, in Einsätze geschickt. Ihnen den Respekt zu verweigern heißt: Wir nehmen uns selbst nicht ernst. Ähnliches gilt für die Forderung: „keine Rüstungsforschung!“ Wir sind Mitglieder eines militärischen Bündnisses und wollen keine Rüstungsforschung? Eine völlige Schizophrenie. Wir sagen ja auch nicht: Wir betreiben ein Krankenhaus, wollen aber keine medizinische Forschung.
Die Bundeswehr transportiert möglicherweise allein durch ihre Präsenz eine Realität, die man nicht zur Kenntnis nehmen will: Ja, es gibt Krieg, es gibt Gewalt.
Das könnte sein: Man verdrängt die Bundeswehr aus der öffentlichen Wahrnehmung, weil man hofft, damit diese unangenehmen Themen von Gewalt und Krieg beiseite schieben zu können. Man akzeptiert sie allenfalls als humanitäre Hilfsorganisation, die Menschen rettet und Brunnen bohrt. Der Kernauftrag der Bundeswehr ist aber nicht Entwicklungszusammenarbeit. Sondern unsere Sicherheit und Freiheit mittels militärischer Abschreckung zu garantieren und notfalls auch dafür zu kämpfen.
Das ukrainische Volk zeigt Mut, Tapferkeit, Opferbereitschaft, Heimatliebe. Das sind alles Werte, zu denen wir aufgrund unserer Vergangenheit zu Recht ein gebrochenes Verhältnis haben. Gleichzeitig bewundern viele Deutsche aber auch den ukrainischen Staatspräsidenten Wolodymyr Selenskyj, wenn er in olivgrüner Kampfmonitur per Video vor der Weltöffentlichkeit erklärt, dass er bereit sei, für seine Heimat zu sterben. Was erleben wir da? Die Umwertung aller Werte – auch auf Seiten der Linken?
Der Berliner Politologe Herfried Münkler hat den Begriff von der „postheroischen Gesellschaft“ geprägt. Jetzt erleben wir mit Selenskyj einen Staatsmann, der zugleich zivil und kampfbereit ist. Wir sehen, wie Väter sich auf Bahnhöfen von ihren Kindern verabschieden, um an die Front gehen. Sie wissen nicht, ob sie einander je wiedersehen. Davor Respekt zu empfinden, dass Menschen bereit sind, ihr Leben zu riskieren für eine größere Sache, für die Verteidigung der Freiheit und Selbstbestimmung ihrer Nation – das müssen wir erst mal an uns rankommen lassen. Eine unserer Töchter ist mit einem Israeli verheiratet und lebt in Jerusalem. Da war immer klar, dass man bereit sein muss, im Notfall zu kämpfen, weil es sonst Israel gar nicht mehr geben würde. Wer militärisch erpressbar ist, der ist auch politisch erpressbar. Ich glaube, dass die neue Wehrhaftigkeit, die jetzt von uns verlangt wird, die Entschlossenheit auch in militärische Verteidigung zu investieren, dass all das am Ende sogar das beste Mittel ist, um den Krieg zu verhindern. Das ist ja gerade das Paradoxe: „Si vis pacem para bellum“ – „Wenn Du Frieden willst, bereite Dich auf Krieg vor.“
Wie verträgt sich dieses Prinzip mit einer durch und durch zivilen Gesellschaft wie der unseren?
Ihre Frage ist berechtigt: Passt das zusammen? Ich glaube, ja. Die Distanz zu Gewalt, die Wertschätzung jedes einzelnen Menschenlebens und auch das Erschrecken über die Brutalität des Krieges, das sind alles zivilisatorische Fortschritte. Die Frage ist, ob wir es schaffen, humanitäre Sensibilität mit Wehrhaftigkeit zu verbinden, ja, ich riskiere jetzt mal den Begriff: sogar mit der Bereitschaft, Opfer zu bringen. Wir wollen keinen Krieg mit Russland, weil das das Risiko des Dritten Weltkriegs und der gegenseitigen Vernichtung bedeutet. Aber sind wir dann wenigstens bereit, ökonomische Sanktionen zu verhängen, die uns auch was kosten? Ein Öl- oder Gasembargo gegen Russland, täuschen wir uns da nicht: das wird auch uns einiges abverlangen. Ivan Krăstev, ein brillanter europäischer Intellektueller aus Bulgarien, sagt: Heutzutage wird geopolitische Stärke nicht dadurch bestimmt, wie viel wirtschaftliche Macht man besitzt, sondern dadurch, wie viel Schmerz man ertragen kann. Das würde ich mir in dieser pathetischen Form gar nicht zu eigen machen. Es geht mir nicht um martialische Tugenden. Aber es braucht eine neue Entschlossenheit, unsere freiheitliche Lebensform zu verteidigen, für Menschenrechte und die Geltung des Völkerrechts einzutreten. Notfalls auch militärisch.
Das Interview führte Tilman Gerwien für den Stern.
Dies ist ein Nachdruck des am 7. März veröffentlichten Interviews.
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