Nicht unser Krieg?

Foto: IMAGO /​ Sven Eckelkamp

Olaf Scholz verkündete den Deutschen eine neue Wehr­haf­tig­keit gegenüber einem neo-impe­rialen Russland, doch bleibt die Bundes­re­gie­rung bei der Unter­stüt­zung der Ukraine zögerlich. Ein Kommentar von Ralf Fücks in der Süddeut­schen Zeitung.

Als Olaf Scholz drei Tage nach Beginn des russi­schen Überfalls auf die Ukraine seine Zeiten­wende-Rede im Bundestag hielt, umwehte ihn ein Hauch von Churchill. Er verkün­dete den Deutschen zwar nicht „Blut, Schweiß und Tränen“, wohl aber eine neue Wehr­haf­tig­keit gegenüber einem neo-impe­rialen Russland, das sich anschickt, die euro­päi­sche Frie­dens­ord­nung zu zertrümmern.

Lange gehegte Glau­bens­sätze deutscher Außen­po­litik schienen mit einem Feder­strich weggefegt: keine Waffen­lie­fe­rungen in Krisen- und Kriegs­ge­biete. Sicher­heit gibt es nur mit Russland. Es gibt keine Gegner mehr, nur noch Partner unter­schied­li­chen Grades. Wirt­schaft­liche Verflech­tung sichert den Frieden. Das Zeitalter mili­tä­ri­scher Macht­pro­jek­tion ist vorbei. Wir schrumpfen unseren Rüstungs­etat und gehen anderen mit gutem Beispiel voran. Geplatzte Illusionen.

Deutsch­land schien über Nacht in einer neuen, rauen Wirk­lich­keit aufge­wacht: Waffen für die Ukraine, harte Sank­tionen gegen Russland, entschlos­senes Handeln gemeinsam mit unseren Verbün­deten in Europa und Amerika. Seither sind acht Wochen ins Land gegangen, ganze Städte liegen in Trümmern, mehr als zehn Millionen Menschen sind auf der Flucht, immer neue russische Kriegs­ver­bre­chen kommen ans Licht. Aber das Bild, das die deutsche Politik abgibt, ist zwie­spältig. Nicht nur die Ukrainer fragen sich: Was ist los mit Deutschland?

Gemessen an der Politik der letzten 20 Jahren hat sich die Bundes­re­gie­rung seit Beginn des Krieges weit bewegt. Aber gemessen an der Realität des Kriegs vor unserer Haustür ist das immer noch zu langsam, zu wenig. Bei den ökono­mi­schen Sank­tionen bleibt der russische Ener­gie­sektor mit Ausnahme der Kohle ausge­klam­mert. Das spült Russland täglich eine halbe Milliarde Euro und mehr in die Kriegs­kassen. Ener­gie­ex­porte finan­zieren den Staats­haus­halt und die Importe, von denen die russische Wirt­schaft abhängt. Nur eine der sechs größten russi­schen Banken ist bislang vom SWIFT-Zahlungs­ver­kehr ausgeschlossen.

Gleich­zeitig scheut die Bundes­re­gie­rung noch immer vor der Lieferung schwerer Waffen zurück. Auf Anfragen der ukrai­ni­schen Regierung gibt es keine verbind­li­chen Antworten, obwohl die Ukraine dringend weit­rei­chende Waffen­sys­teme und gepan­zerte Fahrzeuge braucht, um sich gegen die neue russische Groß­of­fen­sive zu behaupten. Der Kanzler will „keine deutschen Allein­gänge“ – dabei hängen wir chronisch hinter unseren Verbün­deten hinterher, obwohl es durchaus eine besondere deutsche Verpflich­tung gegenüber der Ukraine gibt, aus histo­ri­schen Gründen wie als Kompen­sa­tion für die Politik der jüngeren Vergangenheit.

Weshalb nimmt Berlin mit seiner Hinhal­te­taktik den massiven Verlust an poli­ti­schem Kredit unter unseren Verbün­deten in Kauf? Nicht nur in der Ukraine, Polen oder den balti­schen Repu­bliken gilt Deutsch­land mitt­ler­weile als unsi­cherer Kantonist. Die prokla­mierte Zeiten­wende ist auf halbem Wege stecken­ge­blieben. Teile der SPD voll­ziehen gar einen Salto rückwärts. Versucht man, die Gründe zu entwirren, werden Grund­muster hinter der Zöger­lich­keit des Kanzlers sichtbar.

  • Ein zentrales Motiv ist die Furcht vor einer mili­tä­ri­schen Konfron­ta­tion zwischen Russland und der NATO mit dem Potenzial eines finalen nuklearen Infernos. Daraus rührt die Haltung „Wir dürfen Putin nicht in die Ecke drängen – dann ist er zu allem fähig.“ Wer aber seine Politik von Furcht treiben lässt, lässt der Gegen­partei freie Hand für die Eska­la­tion der Gewalt. Die russische Macht­elite ist keine Bande von Selbst­mord­at­ten­tä­tern. Sie speku­liert darauf, wie weit sie gehen kann, ohne auf entschie­dene Gegenwehr zu stoßen. Deshalb bleibt Abschre­ckung das probate Mittel gegenüber einem russi­schen Regime, das stärker auftritt, als es ist. Wenn wir uns bei der Ukraine von der Drohung einer nuklearen Eska­la­tion einschüch­tern lassen – weshalb sollte das bei einem russi­schen Angriff auf ein NATO-Mitglied anders sein?
  • Es gibt in der Koalition zwei entge­gen­ge­setzte Denk­schulen, welches Ende des Ukraine-Kriegs anzu­streben ist: Muss Russland mit seinem Angriffs­krieg mili­tä­risch scheitern oder soll ein Arran­ge­ment mit dem Kreml gesucht werden, das eine erneute terri­to­riale Ampu­ta­tion der Ukraine in Kauf nimmt? Putins erstes Ziel bleibt, die Ukraine zu einem russi­schen Vasal­len­staat zu machen. Falls das nicht gelingt, bleibt die Option eines „Neu-Russland“ von Charkiw bis Odesa. Wenn wir signa­li­sieren, dass wir offen für eine solche „diplo­ma­ti­schen Lösung“ sind, ist die Büchse der Pandora weit offen. Putins geopo­li­ti­sche Ambi­tionen reichen weit über die Ukraine hinaus, und China beob­achtet sehr genau, wie entschieden der Westen handelt. Ein Verhand­lungs­frieden, der nicht auf einen Ausver­kauf der Ukraine hinaus­läuft, wird erst möglich, wenn Russland am Rande einer mili­tä­ri­schen Nieder­lage steht.
  • Von der Außen­mi­nis­terin und dem Vize­kanzler abgesehen vermit­teln die Äuße­rungen der Bundes­re­gie­rung zum Ukraine-Krieg immer noch die Botschaft: schlimm, aber nicht unsere Sache. Man hält Distanz und verkauft es als Real­po­litik. Dazu passt auch, tunlichst nicht von Völker­mord zu sprechen, obwohl das russische Vorgehen gegen Mariupol und andere belagerte Städte, die Grau­sam­keiten in den besetzten Gebieten und die täglichen Aufrufe zur Vernich­tung der natio­nalen Eigen­stän­dig­keit der Ukraine im Moskauer Staats­fern­sehen dieses Kriterium erfüllen. Die Dinge beim Namen zu nennen, könnte ja den Weg zu einer „diplo­ma­ti­schen Lösung“ versperren. Bei kaum einem anderen NATO-Land wird die Partei­nahme für die Ukraine so stark gebremst von der Furcht, von Moskau als „Kriegs­partei“ einge­stuft zu werden. Dahinter verschwindet, dass die Ukraine auch für unsere Sicher­heit kämpft. Es liegt im natio­nalen Interesse Deutsch­lands, dass Putins Angriffs­krieg scheitert. Der Kanzler sollte das offen ausspre­chen und entspre­chend handeln.

Der Krieg gegen die Ukraine ist die größte Bewäh­rungs­probe des Westens seit dem Umbruch von 1989/​90. Versagen wir vor dieser Heraus­for­de­rung, brechen finstere Zeiten für Europa an. Daran ist die deutsche Politik zu messen. Bisher wurde sie ihrer Verant­wor­tung nicht gerecht.

Textende

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