Israel und die Hamas: „Eine Ideologie lässt sich nicht durch Waffengewalt zerstören“
Gershon Baskin gilt als eine der führenden Stimmen zum Friedensprozess im Nahen Osten und ist einer der wenigen Israelis mit direktem Kontakt zur Hamas. Über 18 Jahre lang stand er im Austausch mit Ghazi Hamad, einem hochrangigen Führer der Terrororganisation. Im Interview gibt Baskin Einblicke in die Ideologie der Hamas und spricht über die Möglichkeit von Waffenstillstandsvereinbarungen sowie Wege, den Todeskult der Organisation zu bekämpfen.
Herr Baskin, wie haben Sie den Moment erlebt, als Sie zum von den Gräueltaten am 7. Oktober hörten?
Damals war ich mit meiner Frau auf einer Urlaubsreise in Kopenhagen. Zunächst hatten wir noch keine genauere Vorstellung vom Ausmaß des Grauens, aber es war dennoch klar, dass hier etwas ganz anderes vor sich ging, als wir es bislang gesehen und erlebt hatten. Wir waren extrem geschockt, nicht nur weil deutlich wurde, dass die Hamas nach den Regeln von ISIS vorging. Sondern auch, weil Israels Verteidigung offenkundig versagt hatte. Wir konnten kaum glauben, wie leicht es war, am 7. Oktober die Grenze zu überwinden.
Zurück in Israel, wollte ich sofort herauszufinden, ob es einen Weg zu Verhandlungen über die Freilassung der Geiseln gab. Ich nahm Kontakt zu Leuten in der Hamas auf und setzte mich mit jemandem in Verbindung, der die Zahlen der minderjährigen und weiblichen palästinensischen Gefangenen in Israel kannte. Mein Gedanke war: Als erstes müssen wir herausfinden, ob eine humanitäre Freilassung der Frauen, Kinder und älteren Menschen aus den Händen der Hamas möglich ist. Ich hatte den Eindruck, je eher uns das gelingt, desto leichter würde es sein, die größere Krise danach zu bewältigen.
Seit fast zwanzig Jahren sind Sie als inoffizieller Mittelsmann regelmäßig mit Mitgliedern und hochrangigen Funktionären der Hamas in Kontakt, vor allem mit Ghazi Hamad, dem Sprachrohr der Hamas. Wie hat sich ihre Kommunikation nach dem 7. Oktober verändert?
Als erste Reaktion auf meine Kontaktaufnahme leugnete Ghazi Hamad die brutalen Terrorakte. Daraufhin konfrontierte ich ihn damit, dass es doch Bildmaterial gibt, welches das Töten von Babys und das Verbrennen ganzer Familien belegt. In der fünften oder sechsten Nacht des Krieges hatte ich ein halbstündiges Telefongespräch mit jemandem in Gaza, der zu den Gründern der Hamas gehört. Er leugnete die Taten nicht, aber er sagte: „Was erwarten Sie von uns? Wir sind es leid, so zu leben, wie wir es tun. Wir haben es satt, gedemütigt zu werden, unter Besatzung zu leben, in einen Käfig gesperrt zu sein. Wir sind nicht mehr bereit, das zu akzeptieren.“
Das klingt ähnlich wie das, was in diesen Tagen auch in Europa und in den USA von IslamistInnen und vielen Linken zu hören ist: Die Gräueltaten vom 7. Oktober werden relativiert oder sogar gerechtfertigt, indem das beispiellose Massaker in einen sehr allgemeinen und vagen Kontext der Unterdrückung der PalästinenserInnen gestellt wird.
In der Tat, genau das hat mein Gesprächspartner gemacht. Am Ende des Telefonats hat er dann versucht, sich durch eine kategorische Trennung von Juden und Zionisten aus der Affäre zu ziehen. Er habe stets daran geglaubt, Muslime, Christen und Juden könnten in einem Staat in Frieden zusammenleben. Doch mit „diesen Zionisten“ sei das nicht möglich. Israel sei ein per se „böser Staat“, der keine Existenzberechtigung hätte und daher „wegmüsse“. Diese falsche Argumentation kennen wir ebenfalls aus anderen Kontexten. Doch nirgendwo auf der Welt gibt es eine Rechtfertigung für ein Massaker wie das vom 7. Oktober.
Wie ging es mit in ihrer Kommunikation mit Ghazi Hamad weiter?
Nachdem ich gehört hatte, dass Israel das Haus von Ghazi Hamad bombardiert hatte, nahm ich wieder Kontakt zu ihm auf. Mir ging es darum, an einem Deal zu arbeiten, durch den Kinder und Ältere aus den Händen der Hamas im Gegenzug für einige weibliche und minderjährige Gefangene aus israelischen Gefängnissen freikommen. Hamad sagte, er werde mit der Hamas-Führung sprechen und sehen, ob sie das vorantreiben könnten.
Als ich ihn erneut mit den Gräueltaten konfrontierte und klarstellte, dass die Hamas mit dem 7. Oktober eine Grenze überschritten hatte und nun ihr Schicksal besiegelt ist, entgegnete er aufgebracht: Die Hamas sei stark und habe noch viele tödliche Überraschungen parat. Ohnehin habe man keine Angst zu sterben. Das war ein ganz anderer Gazi Hamad, als der, den ich über die Jahre kennengelernt hatte. Ich hatte mir nie Illusionen über die Ideologie der Hamas gemacht. Aber ich hatte über die Jahre aber den Eindruck gewonnen, dass es möglich sei, über eine sogenannte hudna, einen langfristigen Waffenstillstand, zu verhandeln.
Inzwischen haben Sie die Kommunikation mit Ghazi Hamad abgebrochen. Warum?
Kurz nach meinem letzten direkten Kontakt zu ihm fand ich über einen gemeinsamen Freund heraus, dass er sich gar nicht in Gaza, sondern in Beirut aufhält, wohin er in seiner Rolle als Hamas-Sprecher im Krieg gegen Israel entsandt wurde. Dort hat er einem TV-Sender auch sein schreckliches Interview gegeben. Hamad rechtfertige darin die Gräueltaten und sagte, die Hamas würde die Taten vom 7. Oktober immer und immer wieder tun, bis Israel – als, wie er es beschrieb, illegitimer Staat ohne Existenzberechtigung – vernichtet ist.
Daraufhin habe ich ihm in einem Brief klar gemacht, dass unsere Kommunikation nach achtzehn Jahren, über tausend Gesprächen und vier Treffen von Angesicht zu Angesicht nun beendet ist. Ich schrieb ihm, dass er seine Menschlichkeit verloren hat und ein Feigling ist. Den Brief habe ich anschließend auf Twitter veröffentlicht. Wenn es helfen würde, Menschenleben zu retten, würde ich wieder mit ihm kommunizieren. Aber ich bin überzeugt, dass er nichts mehr mit der Entscheidungsfindung in Gaza selbst zu tun hat. Dort müssen die Entscheidungen in Bezug auf die israelischen Geiseln getroffen werden.
Die internationale Gemeinschaft, die Vereinigten Staaten und Israel scheinen das Gewicht der Verhandlungen auf Katar zu legen.
Ich bin sehr skeptisch, dass auch die hochrangigen Hamas-Funktionäre, die in Doha in ihren Fünf-Sterne-Luxushotels mit von der katarischen Regierung gestellten Leibwächtern sitzen, etwas mit den Verhandlungen mit den Geiselnehmern vor Ort in Gaza zu tun haben. Zudem ist mir durch meinen bereits erwähnten Versuch eines Deals deutlich geworden, dass die Verbindung zwischen den Hamas-Funktionären in Katar und den Kataris selbst nicht gut genug funktioniert. Ich denke daher, der bessere Weg für Verhandlungen liegt in Kairo.
Warum vertreten Sie diese Einschätzung?
Weil der ägyptische General Intelligence Service in direktem Kontakt mit dem militärischen Flügel der Hamas, den al-Qassam-Brigaden, sowie mit dem Palästinensischen Islamischen Jihad steht. Zudem war es Ägypten, das den letzten Waffenstillstand zwischen der Hamas und Israel sowie dem Palästinensischen Islamischen Jihad und Israel erreicht hat. Darüber hinaus teilt Ägypten eine Grenze mit Gaza, die für Gaza überlebenswichtig ist.
Insgesamt hat Ägypten mehr Einfluss auf die Hamas als Katar. Aber ich gehöre nicht zu den Entscheidungsträgern und bin nicht direkt an den Verhandlungen beteiligt. In jedem Fall müsste mehr Druck auf Katar ausgeübt werden. Allerdings bin ich skeptisch, dass das geschieht. Das liegt vor allem an wirtschaftlichen und auch geostrategischen Interessen der westlichen Staaten, inklusive Deutschland, das weiterhin Gas aus dem Terrorunterstützerstaat beziehen will.
In den deutschen Medien erscheint die Hamas sehr oft als eine mysteriöse und monolithische Organisation. Sowohl ihre interne Dynamik als auch das Spannungsverhältnis zwischen Realpolitik und ihrem grundlegenden Antisemitismus, wie er in der berüchtigten Charta niedergeschrieben ist, werden nur selten berücksichtigt. Über ihre Gespräche mit hochrangigen Hamas-Funktionären und einfachen Mitgliedern haben Sie wertvolle Einblicke in die Organisation gewinnen können. Was bewegt Personen dazu, sich den Hamas-Terrorkommandos als einfacher Kämpfer anzuschließen?
Zur Rekrutierung von Kämpfern besucht die Hamas insbesondere die Häuser von trauernden Familien und von Familien, deren Angehörige von Israel getötet wurden oder die früher durch Bombardements durch Israel ihr Zuhause verloren haben. Gerade den Kindern aus diesen Familien versucht die Hamas, ihre verzerrte Sicht des Islams beizubringen. Die Hauptgrundlage dieser Theologie ist die Annahme: Das Leben auf diesem Planeten ist kurz, und um ins Paradies zu gelangen, muss man Märtyrer werden. Für den Islam und für Allah, für al-Aqsa und al-Quds, für Palästina – und schlussendlich auch um Rache zu nehmen für die von Israel getöteten Verwandten.
Vor dem Hintergrund dieser zentralen Indoktrinationsmethode der Hamas habe ich die seit Jahren in Israel vorherrschende Vorstellung kritisiert, es reiche, auf Abschreckung zu setzen und der Hamas Angst vor uns zu machen, weil sie angeblich so viel zu verlieren haben. Ich denke allerdings, dass man nicht auf Abschreckung gegenüber Menschen setzen kann, die nicht nur überzeugt sind, dass Israel kein Existenzrecht hat und Juden Nachkommen von Affen und Hunden sind – sondern die vor allem emotional verinnerlicht haben, dass der Tod eine gute Sache ist, ein Weg, ins Paradies zu gelangen.
Wie aber lässt sich eine solche Ideologie, die sich auf eine ganz eigene Art des Denkens und Fühlens bezieht, aus ihrer Sicht bekämpfen?
Israel wird die Hamas militärisch eliminieren und die Menschen im Gazastreifen von ihrer Herrschaft befreien. Ihre Führer in Gaza und vielleicht auch im Ausland werden getötet werden, ihre Waffen vernichtet, ihre Verstecke gefunden und zerstört. Hinter geschlossenen Türen wird das Ziel der Auflösung der Hamas übrigens auch von den meisten arabischen Regimes in der Nachbarschaft unterstützt. Doch eine Ideologie kann man nicht durch Waffengewalt, sondern nur mit einer besseren Ideologie zerstören.
Deshalb ist es wichtig, dass am Ende dieses Krieges ein politischer Prozess beginnt, der für die Stärkung der Palästinensischen Autonomiebehörde sorgt. Es geht um die Beseitigung der in ihren Reihen ausgeprägten Korruption, die Durchführung von demokratischen Reformen und Wahlen für eine neue Führung in Palästina. Letztlich muss das Ziel eine Anerkennung Palästinas als Staat und eine Zweistaatenlösung sein.
Die Zweistaatenlösung gilt vielen BeobachterInnen schon seit langem als unrealistisch und daher als passé. Was lässt Sie so optimistisch in die Zukunft blicken?
Nach dem 7. Oktober haben wir hier vor Ort eine neue Realität. Unserem kollektiven Gedächtnis wurden nun neue Kapitel hinzugefügt. Zwei Völker durchleben gerade extreme Traumata – für die Jüdinnen und Juden die schlimmsten seit dem Holocaust und für die PalästinenserInnen seit der Nakba von 1948. Das sage ich dezidiert, ohne beides zu vergleichen. Die einzige Möglichkeit, die Ideologie zu bekämpfen, die den Tod glorifiziert, sehe ich darin, eine neue Ideologie zu schaffen, die das Leben heiligt. Von der israelischen Seite bedeutet das, dass wir den PalästinenserInnen beibringen, dass sie tatsächlich für Palästina leben können, anstatt für Palästina zu sterben.
Was braucht es aus ihrer Sicht dafür?
Um die Parteien an den Tisch zu zwingen und eine Zweistaatenlösung in die Realität umzusetzen, bedarf es eines sehr starken internationalen Engagements. Ich denke hier vor allem an ein Forum für die Verhandlungen, die nicht bilateral zwischen Israel und Palästina abgehalten werden, sondern auch Jordanien, Ägypten, Saudi-Arabien, die Emirate, Bahrain miteinschließen. (Anm. der Red.: Israel hat 1994 bzw. 1979 Friedensverträge mit Jordanien und Ägypten unterzeichnet. Mit den Vereinigten Arabischen Emiraten und Bahrain kamen 2020 bilaterale Abkommen zur arabisch-israelischen Normalisierung zustande. Bis zum Krieg zwischen Israel und Hamas nach dem 7. Oktober hatten sich die Beziehungen zu Saudi-Arabien im Laufe der Jahre erheblich verbessert, was zu Spekulationen über ein baldiges Normalisierungsabkommen führte.) Unterstützt würde dieses Forum von der Europäischen Union, den Vereinigten Staaten und anderen Ländern, die sich an einem soliden Prozess der Bereitstellung von Geldern für den Wiederaufbau des Gazastreifens und die Unterstützung der palästinensischen Wirtschaft beteiligen wollen.
Das alles muss schnell geschehen. Das Leben muss wieder in Gang kommen, damit wir nach vorne schauen können. Es gibt Aspekte dieses Prozesses, für die wir die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft brauchen. Da Deutschland das wichtigste Land in Europa ist, muss es hier eine konstruktive Rolle spielen. Das bedeutet in meiner Überzeugung nicht nur die historische Verantwortung gegenüber Israel, sondern auch die Unterstützung Israels dabei, Frieden mit den Palästinensern zu schließen.
Das Interview wurde am 14. November geführt und am 20. November auf seine Aktualität überprüft.
Gershon Baskin gilt als eine der führenden Stimmen zum Friedensprozess im Nahen Osten. Internationale Bekanntheit erlangte er durch seine Vermittlung bei der Freilassung des Soldaten Gilad Shalit. Er hatte bei einer Konferenz ein Hamas-Mitglied kennengelernt und so Kontakte in die Führungsriegen bekommen. Baskin beriet unter anderem die Regierungen von Jitzchak Rabin und Ehud Barak zum Friedensprozess. Baskin ist Middle East Director der International Communities Organization. Er lebt in Jerusalem.
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