Man gewinnt einen Krieg nicht mit „ein bisschen“ – Notizen aus Kyjiw und Lviv

Ralf Fücks war mit einer LibMod-Reise­gruppe in der Ukraine. Der folgende Beitrag schildert seine Eindrücke und formu­liert politische Schluss­fol­ge­rungen. Der Text erschien zunächst in der Welt am Sonntag.

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Nach dreieinhalb Jahren Krieg sind viele müde und erschöpft.  Aber der Wider­stands­geist der Ukraine ist nicht gebrochen. In einer reprä­sen­ta­tiven Umfrage sprechen sich 75% der Befragten für einen Waffen­still­stand aus, der mit inter­na­tio­nalen Sicher­heits­ga­rantien unter­mauert ist. Gleich­zeitig lehnt eine große Mehrheit die russi­schen Forde­rungen ab. Sie will ein Ende des Krieges, aber keinen Schein­frieden um jeden Preis.

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Russland wirft permanent neue Kräfte an die Front und steigert seine Rüstungs­pro­duktion. Dagegen herrscht auf der ukrai­ni­schen Seite ein chroni­scher Mangel an Soldaten, Waffen und Munition. Dennoch ist auf absehbare Zeit kein Kollaps der Front zu befürchten. Die Ukraine bleibt aber in einer hinhal­tenden Defensive gefangen, solange die Europäer sich nicht endlich aufraffen, ihr mit aller Kraft beizustehen.

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Die Ukrainer sind Realisten. Sie hegen keine Illusionen über einen rasches Ende des Krieges. Sie wissen, dass Putins Hunger nicht gestillt wird, indem man ihm einen Teil der Ukraine zum Fraß vorwirft. Russlands primäres Ziel bleibt, die ganze Ukraine wieder unter Kontrolle Moskaus zu bringen. Sie ist der Schlüssel für die Restau­ration des Imperiums und die Verschiebung der Macht­sphären in Europa. Putin wird davon nur ablassen, wenn die militä­ri­schen Kräfte­ver­hält­nisse zu seinen Ungunsten kippen und ihm ökono­misch das Wasser bis zum Hals steht. Das sind die beiden Hebel, die Europa ansetzen muss. Diplo­matie hat nur eine Chance, wenn Putin jede Aussicht auf Sieg verliert.

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Alles Reden über Sicher­heits­ga­rantien zäumt das Pferd von hinten auf. Vorrang muss haben, die Vertei­digung der Ukraine hier und jetzt zu stärken, einschließlich ihrer offen­siven Fähig­keiten. Mehr Flugabwehr ist bitter nötig, reicht aber nicht aus. Russland wird künftig mit tausend Drohnen und mehr gleich­zeitig angreifen, flankiert von ballis­ti­schen Raketen und Cruise Missiles. Dagegen wird die Ukraine nur stand­halten, wenn sie russische Rüstungs­be­triebe, Flughäfen, Eisen­bahn­linien, Kraft­werke und Raffi­nerien weit hinter der Front angreifen kann. Um die Angriffs­fä­higkeit Russlands zu brechen, muss sie selbst angriffs­fähig werden. Die zuneh­mende Eigen­pro­duktion von Drohnen und Marsch­flug­körpern („Flamingo“) macht die Lieferung westlicher Systeme nicht überflüssig. Das gilt auch für „Taurus“. Die Ukrainer reden darüber nicht mehr öffentlich, aber das Thema ist nicht vom Tisch.

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Gegen­wärtig ist Russland mit Blick auf Rekru­tie­rungs­po­tenzial, Bewaffnung und Rüstungs­pro­duktion klar im Vorteil, auch aufgrund der Unter­stützung aus dem Iran, Nordkorea, Belarus und China. Sobald aber Europa sein volles Gewicht in die Waagschale wirft, kehren sich die Kräfte­ver­hält­nisse um. Die ökono­mische Basis des russi­schen Regimes bröckelt bereits. Alle Indika­toren zeigen in Richtung Stagflation, die zivile Wirtschaft schrumpft. Putin wird diesen Krieg nicht beliebig lange durch­halten, wenn die Einnahmen aus dem Ölexport sinken und der Import kritscher Technik über Dritt­länder unter­bunden wird.

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Bis heute gibt es keine gemeinsame europäische Position, wie dieser Krieg enden soll. Ohne klare Ziele gibt es auch keinen Maßstab, welche Mittel erfor­derlich sind. Dazu gehört auch Klarheit über die Bedin­gungen eines Waffenstillstands:

  • Keine Anerkennung der russi­schen Gebietsansprüche.
  • Keine Einschränkung der innen- und außen­po­li­ti­schen Souveänität der Ukraine.
  • Keine Beschrän­kungen der militä­ri­schen Stärke der Ukraine.
  • Der ukrai­nische Beitritt zur EU ist nicht verhandelbar.

Es wird höchste Zeit, dass die Europäer endlich klar formu­lieren, wo unsere roten Linien liegen. Das setzt freilich voraus, dass den Worten dann auch Taten folgen.

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Der effek­tivste Weg, die Vertei­digung der Ukraine zu stärken, ist die Ausweitung der Rüstungs­ko­ope­ration: Direkt­in­ves­ti­tionen in die ukrai­nische Rüstungs­in­dustrie, Joint Ventures und Finanz­hilfen, damit ukrai­nische Betriebe ihre Produktion möglichst rasch skalieren können. Die Ukraine ist ein Reallabor moderner Krieg­führung; von einer vertieften Koope­ration wird auch die europäische Vertei­digung enorm profitieren.

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Es gibt starke Irrita­tionen über die Verzö­gerung der Aufnahme von EU-Beitritts­ver­hand­lungen: verstecken sich andere europäische Regie­rungen hinter Orbán und Fico? Die Eröffnung der Verhand­lungen ist ein wichtiges politisch-morali­sches Signal. Zudem sind forcierte Beitritts­ver­hand­lungen der zentrale Hebel, Demokratie und Rechts­staat­lichkeit in der Ukraine zu festigen.

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Schlüs­selsatz eines Militär­ex­perten: „Krieg gewinnt man nicht mit ein bisschen.“ Während Putin aufs Ganze geht, fehlt es in Berlin, Paris und anderen Haupt­städten immer noch an Entschlos­senheit. Ein exempla­ri­sches Beispiel ist die Weigerung, die in Europa geparkten 250 Milli­arden russi­scher Staats­gelder für Bewaffnung und Wieder­aufbau der Ukraine umzuwidmen. Man sieht überall Risiken und übersieht, dass ein russi­scher Sieg in der Ukraine das größte Risiko ist. Dann ist in Europa Feuer unterm Dach, und der Rest der Welt wird das als Zeichen europäi­scher Impotenz lesen.

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„Unbroken“ lautet der Name eines modernen Rehabi­li­ta­ti­ons­zen­trums für Kriegs­ver­sehrte in Lviv. Es schnürt einem das Herz zusammen, wenn man die Menschen sieht, die schwere Verwun­dungen erlitten haben. Zugleich ist das Zentrum ein Ort großer Stärke. Nicht aufgeben. Unter Schmerzen neu beginnen. Es zeichnet eine Gesell­schaft aus, wie sie mit den Opfern des Krieges umgeht.

In Lviv trafen wir auch Myroslav Maryn­ovych, eine intel­lek­tuelle Autorität in der Ukraine. Er zählte in den 70er Jahren zum kleinen Häuflein der sowje­ti­schen Dissi­denten, wurde zu sieben Jahren Arbeits­lager und anschlie­ßender Verbannung verur­teilt. Auf die Frage, wie er die Zukunft seines Landes sieht, antwortete er: Ich bin langfris­tiger Optimist. Wer hätte schon den Zusam­men­bruch der Sowjet­union und die Wieder­geburt der Ukraine voraus­ge­sehen? Auch das Putin-Regime ist nicht so stabil, wie viele im Westen denken. Und in der Ukraine lässt sich der Geist der Freiheit nicht wieder auslö­schen. Die Europäer müssten ihren Kleinmut überwinden. Wie wahr!

Textende

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