Meinungsfreiheit und wehrhafte Demokratie
Eine Replik auf den WELT-Artikel von Frank Lübberding
Am 24. November veröffentlichte die WELT einen Artikel mit dem Titel „Wenn der Aktivismus zur Bekämpfung politischer Gegner staatlich subventioniert wird.“ Der Text rührt alles Mögliche und Unmögliche in einen Topf, um den behaupteten Angriff auf die Meinungsfreiheit durch „grüne Seilschaften“ zu belegen. Folgt man dem Verfasser, wird mit Ausgrenzung und Stigmatisierung bestraft, wer die staatliche Corona-Politik kritisiert, Zweifel an der Ukraine-Politik hegt, die Deindustrialisierung Deutschlands als Folge der Energiewende beklagt oder der „Wahnidee einer Selbstzerstörung der Menschheit“ durch den Klimawandel widerspricht. Hinter allem Übel steckt ein mit Staatsgeldern aufgepäppeltes Netzwerk von „Klimaschützern, Nichtregierungsorganisationen und assoziierten Medienschaffenden, das vor allem einen Zweck hat: die politische Macht der Grünen zu befördern.“ So viel verschwörungstheoretisches Geraune grenzt zwar an Satire, hat aber Methode.
Hauptziel der aufgeschäumten Attacke war das „Zentrum Liberale Moderne“. Originell ist das nicht – der Autor kocht nur die Suppe wieder auf, die seit Wochen aus dem Umfeld der „alternativen Medien“, der AfD und der Linkspartei gegen „LibMod“ angerührt wird. Stein des Anstoßes sind vor allem unsere entschiedene Haltung gegen den russischen Angriffskrieg sowie das Projekt „Gegenmedien als Radikalisierungsmaschine“, das von der Bundesregierung sowie der Bundeszentrale für politische Bildung gefördert wird.
Die Schattenwelt der Alternativmedien
Das Projekt wirft ein Licht auf die Schattenwelt der Internetplattformen, die sich als Alternative zu den verachteten „Systemmedien“ verstehen. Ihre Videos und Artikel werden hunderttausendfach auf You Tube, Telegram oder Facebook aufgerufen; gemeinsam erreichen sie ein Millionenpublikum. Trotz ihrer erheblichen Reichweite operieren diese „Alternativmedien“ weitgehend außerhalb der Wahrnehmung demokratischer Politik und bürgerlicher Öffentlichkeit. Sie bilden eine eigene Welt mit untereinander vernetzten und sich gegenseitig befeuernden Akteuren. „Gegenmedien“ beleuchtet die Themen, Botschaften, Arbeitsweisen und Netzwerke dieser „alternativen Öffentlichkeit“.
Im Aufstieg der „Alternativmedien“ spiegelt sich die strukturelle Veränderung der politischen Öffentlichkeit. Internetplattformen, die keinerlei journalistischen Qualitätsstandards unterliegen, haben ein wachsendes Gewicht in der politischen Meinungsbildung. Für Millionen von Menschen sind „alternative Medien“ mittlerweile die primäre oder sogar einzige Informationsquelle. Sie wirken weit in die gesellschaftliche Mitte und schüren das Misstrauen in die liberale Demokratie. Verschwörungsmythen, Antiamerikanismus, das Spiel mit antisemitischen Stereotypen, die manipulative Inszenierung von Fakten und die Parteinahme für das Putin-Regime gehören zum Kernarsenal dieser Plattformen. Ein Prototyp moderner Verschwörungserzählungen waren die „Enthüllungen“, dass CIA und Mossad hinter dem Terrorangriff vom 11. September 2001 steckten.
Ein Protagonist dieser raunenden Spekulationen war der ehemalige taz-Journalist Matthias Bröckers, dem der Zweitausendeins Verlag eine publikumsträchtige Plattform bot. Inzwischen schreibt Bröckers für das Portal Telepolis, das viel Verständnis für den Kreml aufbringt und sich mit Vorliebe an den USA und der NATO abarbeitet. Seine Bücher erscheinen jetzt im Westend-Verlag, der auch Oskar Lafontaine („Ami go home“) und dem „Nachdenkseiten“-Herausgeber Albrecht Müller („Die Revolution ist fällig“) eine publizistische Heimstatt bietet. Dort erschien auch „Endspiel Europa“, das jüngste Werk von Ulrike Guerot und Hauke Ritz, wonach der Ukraine-Krieg die Ausgeburt eines teuflischen Plans der USA ist, die EU und Russland aufeinander zu hetzen, um ihre Vorherrschaft über Europa zu sichern. Für diese große Erzählung sind Tatsachen bloßes Material, das so lange geknetet und gebogen wird, bis bewiesen ist, was zu beweisen war – ein typisches Strickmuster von Verschwörungserzählungen.
Bis zu seinem Verbot als Instrument im Informationskrieg des Kremls war „Russia Today“ das Leitmedium der systemoppositionellen Milieus. Seither ist eine Vielzahl von „Alternativmedien“ zum Einfallstor für russische Kriegspropaganda geworden. Sie reicht von der offenen Rechtfertigung der Aggression bis zu ihrer Relativierung nach dem Muster „Russland wurde durch die NATO in die Ecke gedrängt und zum Angriff auf die Ukraine provoziert.“ Ehemalige Redakteure und Autoren von RT sind zu Satellitenmedien gewechselt. So ziert dessen ehemaliger Online-Chef Florian Warweg jetzt die Redaktion der „Nachdenkseiten“, der EX-RT-Chefredakteur Ivan Radionov betreibt mit früheren Mitarbeitern den YouTube-Kanal „Infrarot“. Man interviewt und zitiert sich gegenseitig und spielt über Bande.
Die neue Querfront
In den Corona-Protesten hat ein breites, zuvor zersplittertes Spektrum zusammengefunden. Die neue Querfront vereinigt alternative Gesundheitsapostel und Verschwörungsgläubige, NATO-Gegner und Reichsbürger, Antiwestler und Putinversteher, Linksdogmatiker und Rechtsradikale. Sie alle verbindet ihre Aversion gegen „die da oben“ und die etablierten Medien vulgo „Systemmedien“. „Alternative Medien“ fungieren als politische Brandbeschleuniger. Sie verknüpfen disparate Ängste und Wutquellen, bieten simple Erklärungsmuster für komplexe Probleme und markieren Schuldige: Ein kleiner Zirkel von Superreichen und Mächtigen, der hinter den Kulissen die Strippen zieht, vorzugsweise auch das Finanzkapital und die Pharmaindustrie, die uns ihre Impfstoffe aufzwingen will. In der Summe geht es hier nicht um kontroverse Meinungen, sondern um die Konstruktion einer Scheinwelt, in der demokratische Politik nur die Fassade für finstere Machenschaften ist.
Neben dem Dauerbrenner Corona, der Inflation, der Kriegsfurcht und dem „Genderismus“ zeichnet sich mit der Klimapolitik bereits das nächste Thema mit Mobilisierungspotenzial ab. Reizworte sind „Klimareligion“, „Katastrophismus“, „Bevormundung“ und „Deindustrialisierung“. Es ist keine große Kunst, daraus ein Narrativ vom Angriff abgehobener Eliten auf Arbeitsplätze und Lebensgewohnheiten der „einfachen Leute“ zu basteln.
Es verwundert nicht, dass die „alternativen Medien“ die kritische Auseinandersetzung mit ihrem Treiben stört.So aggressiv sie in ihren Angriffen auf die „herrschenden Eliten“ sind, so empfindlich reagieren sie auf Kritik. Sie inszenieren sich mit Vorliebe als Opfer staatlicher Überwachung und verwischen den grundlegenden Unterschied zwischen Kritik und Zensur. Parlamentarisch flankiert wird dieser Chorus von der AfD und der Linkspartei, die mehrere Anfragen zum Projekt „Gegenmedien“ an die Bundesregierung gerichtet haben. Die Frage bleibt, weshalb die WELT in diesen Gesang einstimmt. Sein Echo sind Drohmails und wüste Beschimpfungen, die auf Facebook und Twitter auf uns einprasseln.
Wohlgemerkt: Wir rufen nicht nach Verboten. Unserem Selbstverständnis entspricht eine weite Auslegung der Meinungsfreiheit. Sie ist immer die Freiheit der Andersdenkenden. Sie schließt auch anstößige und provokative Positionen ein, soweit sie nicht mit dem Strafrecht kollidieren. Aus dem Recht auf Dissens folgt aber nicht die Verpflichtung, jede beliebige Position in der öffentlichen Diskussion kritiklos hinzunehmen.
Diffamierung von Kritik als Zensur
Das Recht auf freie Meinungsäußerung ist kein Freibrief, unbehelligt von Kritik politische Nebelkerzen zu werfen, Fakten zu verwirren und Ressentiments zu schüren. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Liberal ist nicht, wer alles und alle gleichermaßen toleriert, sondern wer die offene Auseinandersetzung mit Gegnern der freiheitlichen Demokratie führt. Es ist ein Gebot wehrhafter Demokratie, dass der demokratische Staat auch Studien und Bildungsangebote fördert, die ein kritisches Licht auf Desinformation, Verschwörungsmythen und Radikalisierungstendenzen im Netz werfen. Solche Projekte als Angriff auf die Meinungsfreiheit zu denunzieren, mit der kritische Geister zum Schweigen gebracht werden sollen, stellt die Dinge auf den Kopf.
Lübberding erweckt den Eindruck, „alternative Medien“ seien lediglich ein Sprachrohr für „abweichende Meinungen“. Das grenzt an Beschönigung. Plattformen wie „Compact“ machen keinen Hehl aus ihrer Mission, den politischen Umsturz zu betreiben. Die „Nachdenkseiten“ erscheinen deutlich harmloser. Tatsächlich muten viele Beiträge dieses Portals eher bieder an. Antikapitalismus, Ablehnung der NATO und Amerika-Bashing finden sich auch anderswo. Schaut man genauer hin, wird ein Grundzug deutlich, der sich im Laufe der Jahre verstärkt hat: das Schüren von Ressentiments.
Seit dem 24. Februar werden die Töne schriller. „Sanktionen sind Wahnsinn!“ ist ein wiederkehrendes Motiv. Annalena Baerbock und Robert Habeck werden als „Auftragskiller des deutschen Mittelstands“ vorgestellt. Oskar Lafontaine, Dauergast bei den Nachdenkseiten, behauptet „Selenski will den 3. Weltkrieg!“. An anderer Stelle heißt es, der Bundestag habe sich mit der Bezeichnung des Holodomor als Völkermord „zum Instrument der Rechten in der Ukraine mit dem Ziel Feindbildaufbau Russland machen lassen.“ Laut Albrecht Müller sind wir „umstellt von Manipulationen.“ Das alles darf man behaupten. Aber dann muss man sich auch gefallen lassen, dass solches Geschwurbel als das kritisiert wird, was es ist: Schüren von Misstrauen in demokratische Politik und Heraufbeschwören finsterer Machenschaften, gegen die sich das brave Volk wehren muss.
In welch trüben Gewässern die Nachdenkseiten inzwischen schippern wird auch an ihrer „Video Playlist“ deutlich, mit der sie Beiträge anderer Medien empfehlen. Zu dieser illustren Liste gehört neben „Infrarot TV“, einem „Tummelplatz für Putin-Fans“ (so die FAZ), auch das Portal „Weltnetz TV“, das sich als Alternative zu den „Mainstream-Medien, die überwiegend den Interessen der Kriegs- und Ausbeutungsgewinnler dienen“ präsentiert. Zu den Highlights dieses Kanals zählt ein Auftritt des Ex-MdB und Bänkelsängers Dieter Dehm, der den alten Ernst-Busch-Song „Ami go home“ zeitgemäß interpretiert: „Gegen den NATO-Faschismus in der Ukraine!“. Empfehlenswert finden die Nachdenkseiten ferner Sarah Wagenknecht, prorussische Propagandasender wie „Druschba FM“, das im rechtskonservativen Spektrum angesiedelte Internetradio „Kontrafunk“ und den Crashpropheten Marc Friedrich, der als Kronzeuge für das baldige Ende des Euro dient.
Angriff auf die Demokratie
Das mag als obskure Mischung randständiger Positionen erscheinen. Aber in der Summe tragen diese Kanäle maßgeblich zur Radikalisierung von Protesten, zur Verbreitung verschwörungstheoretischer Weltbilder und russischer Propaganda bei. Dass laut einer repräsentativen Umfrage des „Center für Monitoring, Analyse und Strategie“ inzwischen rund 40 Prozent der Bevölkerung ganz oder teilweise mit der Aussage übereinstimmen, der russische Angriffskrieg sei eine „alternativlose Reaktion Russlands auf die Provokation der NATO“, kommt nicht von ungefähr. Es gibt einen fundamentalen Unterschied zwischen konträren Meinungen und der Verbreitung „alternativer Wahrheiten“, die auf der Manipulation der Tatsachen beruhen. Den Angriff auf „Tatsachenwahrheiten“, die das gemeinsame Fundament des politischen Meinungsstreits bilden, hat Hannah Arendt mit guten Gründen als Angriff auf die Demokratie bezeichnet. Das ist der Kern der politischen Auseinandersetzung, um die es hier geht.
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