NARRATIV-CHECK
Was hinter radikalisierenden Botschaften steckt.
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NARRATIV-CHECK
Was hinter radikalisierenden
Botschaften steckt.
Was Esoterik Macht
Im Fokus II
Das Neuheidentum
und die esoterischen Wurzeln der NS-Ideologie
von Christian Arlt
Esoterische neuheidnische Bewegungen besinnen sich ab dem 19. Jahrhundert auf eine „ursprüngliche“ Naturreligion. In bestimmten Strömungen geht damit die Konstruktion einer überlegenen „arischen Rasse“ einher. Nicht zuletzt deshalb diente den Nationalsozialisten das Neuheidentum als wichtiger Baustein ihrer rassistischen Ideologie.
Im 19. Jahrhundert entstehen in Europa esoterische > neuheidnische Bewegungen, die sich vom Christentum abgrenzen und nichtchristliche religiöse Traditionen erforschen und ausleben wollen. Entgegen dem Neuheidentum verstelle das Christentum den Zugang zu einer ursprünglichen Religion, die sich im Einklang von Mensch und Natur an verschiedenen Orten entwickelt habe. Im Gegensatz zur aufkommenden Industrialisierung betonte das Neuheidentum romantisch verklärte Naturerfahrungen und verband diese mit mystischen Erzählungen aus Sagen und Märchen, aber auch mit Erkenntnissen aus Ethnologie, Archäologie und Religionswissenschaft zu Ritualen, Runen und Kultplätzen.
Dabei umfassen die neuheidnischen Bewegungen auch heute noch eine Vielzahl an unterschiedlichen und teils nicht miteinander zu vereinbarende religiöse Vorstellungen, Weltanschauungen und lokalen Praktiken: Druidentum, Hexentum und Satanismus können ebenso ein fester Bestandteil des Neuheidentums sein wie pantheistische Gruppen, die von einer Allbeseeltheit der Welt ausgehen.
Was sich hier zunächst als ein Projekt zur Erweckung vermeintlich alter religiöser Traditionen darstellt, hat in Teilen sehr schnell seine vermeintliche Unschuld verloren. Neuheidnische Ideen, wie die Wiederentdeckung der nordischen Götterwelt, wurden in bestehende und aufkommende Denktraditionen integriert, die sich später als Bausteine in der Ideologie des Nationalsozialismus wiederfinden. In einigen Fällen prägte das Neuheidentum sogar Denkmuster, wie die Identifizierung der „Arier“ mit den „Germanen“, ohne die eine Legitimation der Rassenlehre des NS nicht möglich gewesen wäre. Einige Hauptvertreter und ihre Überzeugungen werden im Folgenden aufgeführt. Sie gelten als entscheidende Stichwortgeber neuheidnischen Denkens und trugen mit ihren Ideologien zu einer rassistischen Gesinnung bei.
Als schillerndste Persönlichkeit ist Helena Petrovna Blavatsky (1831–1891) zu nennen. Sie gründete 1875 die > Theosophische Gesellschaft, nachdem sie von Reisen unter anderem nach Tibet und Indien zurückgekehrt war. Hier hatte sie nach eigener Angabe Zugang zu Geheimschriften, die die Menschen als Nachkommen einer „Rasse“ von am Nordpol auf die Erde herabgestiegenen riesenhaften „Schatten der Götter“ betrachtete. Eine von ihr verfasste „Geheimlehre“ beschreibt, wie ein Teil dieser Wesen die „arische Rasse“ gründete. Sie baute diese Vorstellungen zu einem System aus, das anderen Bevölkerungsgruppen eine Minderwertigkeit zuschrieb.
Blavatskys Vorstellungen boten eine Grundlage für andere Strömungen wie die > Anthroposophie und die rassisch-okkulte > Ariosophie. Gerade letztere war ein nächster Schritt in Richtung des NS-Weltbildes. Angelehnt an Blavatsky identifizierte ihr Begründer Guido von List (1848–1919) in seiner Lehre die „Germanen“ zunächst als „Arier“ und konstruierte eine völkische Ideologie, die die Befreiung der „germanischen Rasse“ von allem „Fremden“ forderte.
Dieser Vorstellung verlieh die Theozoologie von Jörg Lanz von Liebenfels (1874–1954) eine noch aggressivere Note. Sie erweiterte den von Blavatsky und List entwickelten Kult um die „Arier“ um die Vorstellung, dass alle anderen „Rassen“ durch die Vermischung der göttlichen „Arier“ mit Tieren entstanden seien. Wegen der daraus abgeleiteten Forderung nach „arischen Reinzuchtkolonien“ gilt Lanz von Liebenfels als extremer Vertreter der Eugenik. Der Lebensborn e.V., der sich auf Basis der „NS-Rassenhygiene“ zur Aufgabe gemacht hatte, die Geburtenrate „arischer“ Kinder zu erhöhen, war direkt von Lanz von Liebenfels‘ Vorstellungen beeinflusst.
Der Nationalsozialismus übernahm den wachsenden Mythos einer „Deutschen Glaubensbewegung“, einer zur Reinigung der Welt berufenen „Herrenrasse“ überlegener „Arier“, und wollte diese mystische Geisteslage für Religion, Politik, Architektur, Symbolik und Wissenschaft ausbeuten. Unabhängige theosophische und ariosophische Bewegungen waren mit dem Versuch einer zentralen Steuerung der rassistisch-völkischen Ideologie nicht vereinbar und aufgrund ihres okkulten Charakters während der NS-Zeit offiziell verboten. Ihr geistiger Einfluss ist jedoch allgegenwärtig. Heinrich Himmlers „Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe“ und Albert Speers Architektur eines neuen germanischen Deutschlands sind hier die prominentesten Beispiele.
Bis heute bedient sich die Neue Rechte dieses Erbes. Auf der Suche nach einfachen nationalstaatlichen Lösungen und daraus resultierenden verkürzten Erklärungen weltpolitischer Mechanismen greift sie auf diese rassistischen Überzeugungen zurück. Beispiele dafür sind die religiös-völkische „Artgemeinschaft – Germanische Glaubens-Gemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung“, die Vereinigung „Thule Seminar“ oder die „Germanische Glaubensgemeinschaft“.
Christian Arlt ist evangelischer Theologe, Religionswissenschaftler und Experte für jüdisch-christliche Beziehungen. Er arbeitet freiberuflich als wissenschaftlicher Berater.
Eine umfassendere Version dieses Textes gibt es hier:
Christian Arlt (2019): Neopaganismus: die Rückbesinnung auf Naturreligion, gegneranalyse.de
GLOSSAR
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.Anthroposophie
bezeichnet eine von Rudolf Steiner (1861–1925) begründete esoterische Weltanschauung mit wissenschaftlichem Selbstverständnis. Basierend auf Schriften und Vorträgen Steiners, wird eine ganzheitliche und übersinnliche Deutung des Kosmos, der Menschheit und der Menschheitsentwicklung beschrieben. Obwohl Steiner anfangs eng mit der > Theosophischen Gesellschaft verbunden war, kam es 1913 zur Abspaltung und Gründung der Anthroposophischen Gesellschaft. Bis heute finden anthroposophische Prinzipien in Praxisfeldern wie Pädagogik (> Waldorfschulen), Landwirtschaft, Medizin und Architektur Anwendung. Ab den 2000er Jahren gab es immer wieder Debatten um Rassismus und Antisemitismus in Steiners Werk.
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Ariosophie
ist eine im 19. Jahrhundert aufkommende geistige Strömung, in der sich esoterisch-okkulte Vorstellungen der > Theosophischen Gesellschaft mit völkisch-rassistischen und antisemitischen Gesinnungen vermischten. Die Ariosophie findet okkulte Begründungen für die Ungleichwertigkeit von Menschen und beschwört die Wiedererweckung einer mystischen „arischen Heldenrasse“ durch eugenische Praktiken. Besondere Bedeutung erhalten germanische Runenschriften, in denen laut Ariosophie ein uraltes Geheimwissen verborgen sei, welches sich „Arier“ durch Körperhaltungen in Runenform aneignen könnten..
Neuheidentum (auch Neopaganismus)
ist ein Sammelbegriff für verschiedene Bewegungen, die sich ab dem 19. Jahrhundert meist auf vorchristliche Naturreligionen zurückbesinnen und diese teilweise neu interpretieren. Zentral dabei sind die Wahrung, Förderung und Verbreitung nicht-christlichen Glaubens und Brauchtums, häufig begleitet von esoterisch-okkulten Praktiken wie Runen-Orakeln, Naturmagie oder Astrologie. Neuheidnische Gemeinschaften können politisch liberal eingestellt sein und sich für progressive Themen wie Feminismus oder Umweltschutz einsetzen. Jedoch zeichnen sich bestimmte Bewegungen wie die „Artgemeinschaft“ immer wieder durch ihre > antimoderne bis rechtsextreme Orientierung und manifesten Rassismus und Antisemitismus aus..
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Theosophische Gesellschaft
Die Theosophische Gesellschaft wurde 1875 von Helena P. Blavatsky (1831–1891) mitbegründet. Ihre okkulte anglo-indische Theosophie gilt als einflussreichste neuzeitliche Esoterikbewegung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts und ist von der gleichnamigen mystisch-religiösen Theosophie zu unterscheiden. Blavatskys esoterische „Geheimlehre“ ist von spiritistischem Denken sowie hinduistischen und buddhistischen Vorstellungen beeinflusst. Sie vermittelt eine übersinnlich erfahrbare Weltanschauung, die die Essenz aller großen Religionen und Philosophien in sich vereine. Elemente, wie die Vorstellung kosmischer „Menschenrassen“ (Wurzelrassen) wurden von anderen Strömungen wie > Anthroposophie und > Ariosophie übernommen und weiterentwickelt..