Zur Zwangsauflösung der Menschenrechtsorganisation Memorial
Heute hat der Oberste Gerichtshof Russlands die Auflösung von Memorial International verkündet. Dazu erklären Marieluise Beck und Ralf Fücks für das Zentrum Liberale Moderne:
Mit Memorial – der ältesten Menschenrechtsorganisation Russlands – wird eine Insel des freien Denkens und eine der letzten Bastionen der demokratischen Zivilgesellschaft liquidiert. Ein solches Urteil ist undenkbar ohne politische Weisung von ganz oben. Gleichzeitig wurde die Website von OWD Info gesperrt, einer populären Plattform zur Information über Menschenrechtsverletzungen und politische Repression in Russland. Autoritäre Gleichschaltung nach innen und eine aggressive Politik nach außen gehen Hand in Hand.
Es braucht jetzt eine gründliche Bewertung der Auswirkungen des Urteils gegen Memorial auf die deutsch-russischen Beziehungen durch die Bundesregierung und die EU.
Pressekontakt
Zentrum Liberale Moderne
Nikolaus von Twickel, Redakteur
nikolaus.vontwickel@libmod.de, +49 (0)172–672‑7057
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Beigefügt finden Sie eine gemeinsame Erklärung von deutschen Nichtregierungsorganisationen zum Verbot von Memorial.
Das Oberste Gericht der Russischen Föderation hat heute die Zwangsauflösung von Memorial International wegen angeblicher Verstöße gegen das „Agentengesetz“ angeordnet. Dies ist ein schwerer Schlag für die russische Gesellschaft, die Gesellschaften seiner Nachbarstaaten und für ganz Europa. Memorial steht wie keine andere Organisation für ein offenes, menschenfreundliches, demokratisches Russland, das die Versöhnung innerhalb der eigenen Gesellschaft und mit seinen Nachbarn sucht. Seine von Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow vor drei Jahrzehnten begründete Arbeit der Auseinandersetzung mit der Repressionsgeschichte der Sowjetunion, der Rehabilitierung von Opfern und der Verteidigung der Menschenrechte heute hat Memorial weltweit viel Anerkennung und Respekt eingebracht. Auch für die deutsche Geschichtsforschung und Erinnerungspolitik hat Memorial als Initiator und Partner bei der Aufarbeitung des Schicksals Hunderttausender sog. „Ostarbeiter/innen“ die entscheidende Rolle gespielt. Die große internationale Bedeutung Memorials manifestiert sich in einer Vielzahl an Solidaritätsbekundungen aus aller Welt.
Mit dem Verbot von Memorial – dem moralischen Rückgrat der russischen Zivilgesellschaft – gibt der russische Staat ein erschütterndes Selbstzeugnis ab: Er bekämpft die Auseinandersetzung mit der eigenen Unrechtsgeschichte und möchte individuelle und kollektive Erinnerung monopolisieren. Er kriminalisiert die internationale zivilgesellschaftliche Zusammenarbeit zum Schaden des eigenen Landes. Und er verletzt die Grundwerte der Europäischen Menschenrechtskonvention, die Russland selbst unterzeichnet hat.
Viele von uns sind mit Memorial seit mehr als 30 Jahren eng verbunden. So wie wir Memorial zu unterstützen versuchen, hat Memorial uns in diesen 30 Jahren unendlich viel Unterstützung zukommen lassen – wissenschaftlich, politisch, moralisch und menschlich. Memorial ist zu einer internationalen Gemeinschaft geworden, deren Arbeit für Demokratie, Menschenrechte und ehrliche Aufarbeitung von Geschichte auf jeden Fall fortgeführt wird.
Wir verurteilen das politisch motivierte Vorgehen der russischen Justiz gegen Memorial. Das Gerichtsverfahren hat die ganze Absurdität des Gesetzes über „ausländische Agenten“ schonungslos offengelegt. Die Intention des Gesetzes ist politische Repression, seine Ausführungsbestimmungen sind so diffus, dass es vom Geschmack der jeweiligen Anklagevertretung bzw. dem von ihr jeweils gerade verfolgten Zweck abhängt, ob Einhaltung oder Verstoß festgestellt wird. Wir fordern die Aufhebung des Agentengesetzes und aller weiteren russischen Gesetze, die jede Form internationaler zivilgesellschaftlicher Zusammenarbeit mit unabhängigen russischen Partner/innen unmöglich machen sollen.
Die Bundesregierung und die Europäische Union fordern wir auf, alles in ihren Möglichkeiten Stehende zum Erhalt der Arbeit und des Archivs von Memorial und zum Schutz seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu tun.
Heinrich-Böll-Stiftung
Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde
Deutsches PEN-Zentrum
Deutsch-Russischer Austausch e.V.
Europäischer Austausch gGmbH
Zentrum Liberale Moderne
Memorial Deutschland e.V.
Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora
Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur
Amnesty International Deutschland
Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung
Lew-Kopelew-Forum