Putins Krieg und Deutsch­lands Irrtum – Eine histo­rische Analyse

Foto: Imago

Russlands Diktator hatte seine Pläne lange vorbe­reitet. Doch als er im Februar 2022 seinen Soldaten den Marsch- und Schieß­befehl Richtung Ukraine gab, schienen viele überrascht und es hieß allerorts: Putin hat uns getäuscht. Zumindest in Deutschland. Der Histo­riker Gerhard Gnauck analy­siert, welches Geschichts­ver­ständnis hinter dieser Fehlein­schätzung steht und was Deutschland im Umgang mit Russland von seinen Nachbarn lernen kann.

„Putin hat offen­sichtlich alle getäuscht“, sagte einen Monat nach Kriegs­beginn die Minis­ter­prä­si­dentin von Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig – getäuscht über seine wahren Absichten, über seine verbre­che­ri­schen Pläne. Wenn man bei einem schweren Fehler, einer Fehlein­schätzung ertappt wird, ist es immer gut, die Verant­wortung dafür möglichst breit zu verteilen: Putin habe eben „alle“ getäuscht. Die SPD-Politi­kerin hätte ehrli­cher­weise gleich dazusagen sollen, was das eigent­liche Problem war: Viele, sehr viele haben sich täuschen lassen.

Deutsch­lands schiefer Blick auf Russland

Aber wirklich alle? Nein, das stimmt nicht. Doch es ist schon erstaunlich, wie weit in Deutschland, auch „ganz weit oben“, illuso­rische bzw. utopische Vorstel­lungen von Russland verbreitet waren – und vielleicht immer noch sind. An mangelnden Berüh­rungs­punkten mit dem großen Staat im Osten kann es nicht liegen. Schließlich hält sich unser Land gern zugute, über Jahrhun­derte engere Bezie­hungen mit diesem Volk, diesem Staat gepflegt zu haben als viele andere Staaten jener weltan­schaulich definierten Region, die man seit einiger Zeit „den Westen“ nennt. Aber alles Hände­schütteln hilft nix, wenn die Brille falsch auf der Nase sitzt.

Die Wahrnehmung Russlands in Deutschland war schief und ist es in manchen Köpfen immer noch. Für mich wurde das zum Beispiel deutlich, als das Auswärtige Amt mit dem polni­schen Außen­mi­nis­terium etwa um 2012 mehrfach gemeinsame Beratungen darüber abhielt, wie die Entwicklung in Russland zu bewerten sei. Danach konnte man von deutschen Diplo­maten hören: „Polen und wir haben die gleiche Analyse der Lage in Russland.“ Schon das war eine Fehlwahrnehmung.

Dagegen erklärte mir im Sommer 2014 eine Teilneh­merin dieser Beratungen, Katarzyna Pełczyńska-Nałęcz, damals Außen-Staats­se­kre­tärin, heute Minis­terin, Warschaus andere Sicht: „Polen war immer skepti­scher hinsichtlich der Frage, wie weit Russland in der Lage ist, mit Europa zu koope­rieren. Wenn wir sagten, in Russlands Politik gegenüber Georgien und der Ukraine seien militä­rische Elemente vorstellbar, sagten die Deutschen, das sei totaler Radika­lismus.“ Und weiter: „Weil das Regime in Russland heute von dieser Art ist, wird es sich nur zum Schlim­meren entwi­ckeln, und man muss es jetzt stoppen, auch wenn man dafür wirtschaftlich selbst einen Preis zahlt. Deutschland dagegen sieht auch jetzt ein ‚Feld des Dialogs‘. Es gibt aber kein Feld des Dialogs, oder es ist sehr klein. Nicht Dialog an sich ist das Ziel.“

Deutsche Vergan­gen­heits­be­wäl­tigung: Eine toxische Mischung

Warum ließen sich gerade in Deutschland viele – darunter Politiker und Wirtschafts­lenker – täuschen? Warum war das Bild von Russland weniger realis­tisch als jenes, welches die doch weiter westlich von uns lebenden Briten im Kopf hatten und haben? Das liegt unter anderem an der Geschichte. Wir sind, was wir geworden sind.

Das deutsche Verhältnis zu Russland war bis vor kurzem vor allem geprägt von einer toxischen Mischung, einem Knäuel aus Schuld­ge­fühlen, Angst, Dankbarkeit, roman­ti­scher Verklärung und vielfach auch Überschätzung des Gegen­übers. Schuld­ge­fühle: wegen des Zweiten Weltkriegs, wobei die nazis­tisch-sowje­tische Waffen­brü­der­schaft der Jahre 1939 bis 1941 ausge­klammert blieb. Angst: wegen der Atomwaffen und wegen der angeb­lichen Unbere­chen­barkeit der Moskauer Führung, wobei auch die Erinnerung an das Vorgehen der Roten Armee auf deutschem Boden mitge­spielt haben mag. Dankbarkeit: wegen Michail Gorbat­schows Großmut, nicht schießen zu lassen (zumindest nicht auf Deutsche) und den Fall der Mauer und am Ende auch die Wieder­ver­ei­nigung zuzulassen.

Roman­tische Verklärung: Den einen galt die Sowjetunion/​Russland als Land der Lese- und Musik­kultur oder gar einer beson­deren Spiri­tua­lität und „Seelen­tiefe“, den anderen als Quell „fortschritt­licher“ linker Ideen oder als „sozialer“ oder womöglich gar „fried­lie­bender“ Gegenpol zu den USA. Überschätzung: Die meisten Deutschen hatten ihre eigenen Statis­tiken nicht im Blick, sonst hätten sie gewusst, dass der vielge­priesene deutsch-russische Handel schon vor Beginn aller Sanktionen um 2014 hinter den deutsch-tsche­chi­schen zurück­ge­fallen war. Heute, nach dem großen Überfall auf die Ukraine, ist Russland in der Tabelle des deutschen Außen­handels für 2024 auf Platz 45 angelangt.

Vergessen: Hitler-Stalin-Pakt

Warum heute ausge­rechnet in Ostdeutschland, wo der „große Bruder“ doch bis 1989 ziemlich unbeliebt war, heute pro-putinis­tische Parteien große Wahler­folge feiern, bleibt dagegen schwer nachzu­voll­ziehen. Haben wir es mit einer zwischen­staat­lichen Variante des Stockholm-Syndroms zu tun, mit einer über Jahrzehnte gewach­senen Sympathie für den Unter­drücker? Eine verbreitete These lautet, Russland sei heute eben weder groß und mächtig noch ein aufge­zwun­gener „Bruder“, sondern der „kleine Prügel­knabe“ des globalen Westens; viele Ostdeutsche würden darin ihre eigene Situation gegenüber den Westdeut­schen gespiegelt sehen und sich daher aus einem diffusen antiwest­lichen Affekt mit Russland solidarisieren.

Schuld und Angst, Dankbarkeit und Überschätzung: Kommen wir nun zu jener blutigsten Konfron­tation des 20. Jahrhun­derts, dem Zweiten Weltkrieg. Scheinbar gut erforscht und bekannt, gibt es doch noch einiges über ihn zu sagen. Das betrifft, wie angedeutet, schon den Anfang des Krieges. Zwar hat das Europäische Parlament das Datum des Hitler-Stalin-Pakts, in dessen Zusatz­pro­tokoll Berlin und Moskau im August 1939 sechs europäische Länder –  Finnland, Estland, Lettland, Litauen, Polen und Rumänien (genauer, seine Provinz Bessa­rabien, dazu später noch die nördliche Bukowina) – unter sich aufteilten und den Weg in den Krieg mit dem doppelten Angriff auf Polen eröff­neten, zum Gedenktag erklärt. Doch dieser 23. August ist, unglücklich in der sommer­lichen Ferienzeit liegend, nach wie vor die große Leerstelle im Reigen der deutschen, ja sogar der europäi­schen Gedenktage. Das muss geändert werden.

Tag der Befreiung – Ringen um Begriffe des Gedenkens

Und wie blicken wir auf das Kriegsende in Europa? Hier gilt es, ein schweres Missver­ständnis aufzu­klären. In der alten Bundes­re­publik, jenem deutschen Staat, in dem frei disku­tiert werden durfte, sprachen viele über 1945 lange Zeit als „Katastrophe“. Damit griffen sie offenbar einen Buchtitel des bedeu­tenden Histo­rikers Friedrich Meinecke auf („Die deutsche Katastrophe“, 1946). Am vierzigsten Jahrestag des Kriegs­endes wandte sich Bundes­prä­sident Richard von Weizsäcker gegen diesen Begriff und sprach von einem Tag der „Befreiung“.

Dabei scheint klar zu sein, dass beide Begriffe ihre Berech­tigung haben, weil beide jeweils einen Teil der Wirklichkeit wieder­geben. Das Wort „Befreiung“, das seitdem Karriere gemacht hat, hatte außerdem eine unange­nehme Neben­wirkung: Es griff, ob der Entspan­nungs­freund von Weizsäcker das beabsichtigt hatte oder nicht, den Ostblock-Slogan von der „Befreiung vom Faschismus“ auf und sugge­rierte ein gemein­sames, west-östliches, westeu­ro­päisch-sowje­ti­sches Verständnis der Vorgänge von 1945. Und damit überhaupt ein gemein­sames Geschichtsbild.

Erinnern an Jalta

Dieses gemeinsame Verständnis hat es jedoch nicht gegeben. Es ist verblüffend: Erst 2024, fast vier Jahrzehnte nach Weizsä­ckers Rede, fast 80 Jahre nach dem Ende jenes Krieges, meldete sich in Deutschland eine Stimme zu Wort, die weithin hörbar darauf hinwies. Die daran erinnerte, dass „1945“ für viele Länder Europas eine Zone neuer Unfreiheit brachte, wofür das Stichwort „Jalta“ steht – gemeint ist die Konferenz Stalins, Roose­velts und Churchills Anfang jenes Jahres auf der Krim. „Jalta“ bedeutete neue Gewalt und Kämpfe. Lassen wir diese Stimme selbst zu Wort kommen:

„Die Kongruenz zwischen der deutschen und westlichen Sicht und der sowje­ti­schen Sicht hat dazu beigetragen, dass in Deutschland und der westlichen Öffent­lichkeit lange nicht gesehen worden ist, dass Russland tatsächlich einen neuen großen Krieg in Europa beginnen könnte, und – mehr noch – dass die Art und Weise, wie in Putins Russland an den 9. Mai 1945 erinnert wurde, dazu beitrug, diesen Krieg zu ermög­lichen. Im Westen herrschte die Überzeugung, dass die Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg, es dürfe nie wieder einen Krieg in Europa geben, auch von Russland geteilt wurde. Dabei wurde übersehen, dass solch eine Sicht bereits in der Sowjet­union nur ein Teil der Erinnerung war, der von der Darstellung des Krieges als eines trium­phalen Sieges überlagert wurde. Die Leiden der Opfer waren nicht so sehr Warnung vor einem neuen Krieg, sondern dienten vor allem dazu, die Größe des sowje­ti­schen Staates hervor­zu­heben. Insbe­sondere wurden sie dazu benutzt, Großmacht­status und sowje­tische Hegemonie im östlichen Europa zu legiti­mieren. An diese Deutung des 9. Mai 1945 knüpfte Putins Russland an.“

Das Zitat stammt aus dem Appell „Die doppelte Botschaft des 8. Mai”, den die Deutsch-Ukrai­nische Histo­rische Kommission im Namen ihrer 14 Mitglieder vor einem Jahr veröf­fent­lichte. Es bedurfte erst eines weiteren Krieges, um dieses Fehlerin­nerung aufzu­decken: des russi­schen Großan­griffs auf die Ukraine. In diesem Appell heißt es auch, dass eine nachhaltige kritische Ausein­an­der­setzung mit den sowje­ti­schen Verbrechen in Russland – hätte es sie gegeben – Putins Pläne für einen neuen Krieg im Jahre 2022 wahrscheinlich schon im Vorfeld verhindert hätte.

Rolle der Ukraine und Belarus im Zweiten Weltkrieg

Für die deutsche Seite muss gelten, dass die Erinnerung an das Leid, das Krieg, deutsche Besatzung und Holocaust über die Einwohner und die Völker der Sowjet­union gebracht haben, selbst­ver­ständlich fortdauern sollte. Aber zugleich wäre es gut, im Auge zu behalten, dass in der Sowjet­union 1939 mehr als 40 Prozent der Bevöl­kerung Nicht­russen waren, 1991 (wie schon im späten Zaren­reich) sogar etwa die Hälfte. Und dieser leicht „übersehene“ Teil der Bevöl­kerung – vor allem Ukrainer und Belarussen – war es, der am meisten gelitten hat; es waren die Gebiete der Ukraine und von Belarus, die restlos von der Wehrmacht besetzt und am schlimmsten zerstört wurden. Ähnlich wie Polen hatten diese beiden damaligen Sowjet­re­pu­bliken, zurück­haltend geschätzt, etwa ein Fünftel ihrer Bevöl­kerung durch Krieg, Besatzung und Holocaust verloren, wobei der traurige Rekord­halter offenbar Belarus war. Einge­rechnet sind jeweils die ermor­deten Juden – allein in der Ukraine waren es etwa 1,5 Millionen Menschen.

Präsident Putins Aussage aus den letzten Jahren, die Russen hätten den Krieg gegen das Dritte Reich „auch ohne die Ukrainer“ gewonnen, ist demge­genüber nicht nur ahisto­risch und natio­nal­chau­vi­nis­tisch, sie ist, wie so manche Aussagen des Diktators, ganz menschlich gesprochen einfach unver­schämt.  Da darf man ihn und seine Sympa­thi­santen, bei allem Respekt vor jedem einzelnen Opfer, daran erinnern: Nur ein sehr kleiner Teil Russlands war von der Wehrmacht besetzt.

Erheb­liche Wissens­lücken zur Historie die „kleineren Länder“

Für das deutsche Gedenken an jenen Krieg, der vor 80 Jahren Europa verwüstete, und für Bildung und histo­rische Wissens­ver­mittlung sollte das gelten, was ganz allgemein für die Bezie­hungen Deutsch­lands zum östlichen Europa gilt: Über die sogenannten „kleinen Völker“ in jener Region gibt es erheb­liche Wissens­lücken. Und es ist zu ergänzen: Über Russland lernt man am meisten, wenn man Russlands Nachbarn zuhört. Nicht nur die Ukraine, sondern alle Länder zwischen Deutschland und Russland sollten einen zentralen Platz in der bundes­deut­schen Erinne­rungs- und Bildungs­arbeit bekommen. Europäische Solida­rität sollte auch heißen: Wenn polnische Solda­ten­gräber aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs im Westen Russlands verwüstet werden, wie es Warschau kürzlich beklagt hat, sollte auch Berlin seine Stimme erheben. Deutsche und ungarische Gräber in der Nähe blieben bei den Grabschän­dungen übrigens unangetastet…

In der Weimarer Zeit wurden die Länder Ostmit­tel­eu­ropas als „Zwischen­europa“ bezeichnet: Länder zwischen den Mühlsteinen, in der Klemme zwischen Preußen und dem Zaren­reich, zwischen Drittem Reich und Sowjet­union, zwischen Deutschland und Russland – und jetzt womöglich, welch bittere Ironie, zwischen Russland und den Verei­nigten Staaten. Über das folgen­reiche Schicksal dieser Länder unter zwei totali­tären Regimen hat der US- ameri­ka­nische Histo­riker Timothy Snyder das wohl wichtigste Buch vorgelegt: „Blood­lands“. Es wurde in rund 20 Sprachen übersetzt. Doch wo ist der deutsche Dokumen­tar­filmer, wo ist der franzö­sische Schrift­steller, der das Werk Timothy Snyders weiterführt?

 

 

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