Post aus Tel Aviv: Warum „King Bibi“ auch in Zukunft regieren könnte

© Shutter­stock

Der israe­lische Premier Benjamin Netanyahu, vom Volksmund „Bibi“ gerufen, hat die Wahlen vorge­zogen, um einer Anklage wegen Betrugs und Bestechung zu entgehen. Das Ende des „Bibiismus“ muss das aber nicht bedeuten – die opposi­tio­nellen Parteien bekämpfen sich vornehmlich untereinander.

Kein Gerin­gerer als Henry Kissinger brachte das politische System des jüdischen Staates einst auf den Punkt: „Israel has no foreign policy; it has only a domestic policy“ („Israel hat keine Außen‑, sondern nur Innen­po­litik“). In diesem Sinne ist der Wahlkampf, der in Israel gerade begonnen hat, zu verstehen. Israels Premier Benjamin Netanyahu, der nicht ganz zu Unrecht befürchtet, wegen möglichen Betrugs und Bestechung in mehreren Fällen vom General­staats­anwalt angeklagt zu werden, hat die Wahlen von November auf April vorge­zogen. Er will damit einer Anklage noch vor den Wahlen entgehen. „Bibi“, wie der Premier auch in den israe­li­schen Medien genannt wird, hofft, mit einem neuen Mandat die Justiz davon zu überzeugen, daß das Volk ihn will – und er somit ungeschoren davon­kommt. Darum geht es. 

Portrait von Richard C. Schneider

Richard C. Schneider ist Buchautor und Dokumen­tar­filmer. Er war Leiter der ARD-Studios in Rom und in Tel Aviv, und bis Ende 2022 Editor-at-Large beim BR/​ARD. Er schreibt heute als freier Korre­spondent für den SPIEGEL aus Israel und den Paläs­ti­nen­si­schen Gebieten..

Wie schon seit jeher ist das israe­lische politische System bestimmt von zahlreichen verschie­denen Parteien, die kommen und gehen. Ja, es gibt den Likud, die immer noch stärkste Partei mit ihrem Vorsit­zenden und Premier Netanyahu, und es gibt auch noch die sozial­de­mo­kra­tische Arbeits­partei Avoda, die jedoch, ebenso wie die Sozial­de­mo­kratie in Europa, auch in Israel schwä­chelt und mögli­cher­weise bedeu­tungslos wird. Schon bei den letzten Wahlen 2015 hat aus diesem Grund der damalige Vorsit­zende der Avoda, Isaac Herzog, ein Bündnis mit der kleinen Hatnua-Partei der einstigen Außen­mi­nis­terin Zipi Livni geschlossen. Daraus entstand die „Zionist Union“, die nach dem Likud zweit­stärkste Fraktion wurde.

Doch, wie so häufig in Israel, bekämpfen sich die Parteien in der Mitte und links von der Mitte unter­ein­ander, anstatt sich auf den gemein­samen politi­schen Gegner zu konzen­trieren. Seitdem der wenig charis­ma­tische Avi Gabbay Vorsit­zender von Avoda wurde, arbeitete Livni intensiv an einem großen Bündnis aller Kräfte, um „King Bibi“, wie ihn das US-Magazin „TIME“ in einer Cover-Story nannte, vom Thron zu stoßen. Tatsächlich wäre Livnis Bestreben sinnvoll. Die vielen opposi­tio­nellen Parteien dürften sich bei den Wahlen gegen­seitig Stimmen wegnehmen – und Netan­yahus Likud damit mögli­cher­weise den Wahlsieg bescheren. Doch Gabbay verstand Livnis Bemühung als Mißtrau­ens­votum gegen ihn. So berief er im Dezember eine Frakti­ons­sitzung zusammen mit Livni ein und düpierte die Ex-Minis­terin in der Öffent­lichkeit, indem er das Bündnis mit ihrer Partei aufkün­digte – ohne daß Livni zuvor davon wußte.

Ein Sieg Netan­hayus wäre eine Katastrophe. Eine Niederlage eine noch größere?

Das war selbst im taffen israe­li­schen Politik­ge­schäft ein brutales Novum. Diese Aufspaltung geschah parallel zur Entstehung neuer Parteien in der sogenannten Mitte. Der ehemalige Vertei­di­gungs­mi­nister Moshe Yaalon gründete die mitte-rechts angesie­delte Partei Telem, ebenso Benny Gantz, der vorletzte General­stabschef der israe­li­schen Armee. Gantz, der an der Spitze der Armee stets bedachtsam und ruhig agierte, gilt in diesem Wahlkampf als Joker. Seine Partei, die „Wider­stands­fä­higkeit für Israel“ heißt, hat aus dem Stand bei Umfragen zweistellige Zahlen erreichen können. Bei einer letzten Umfrage Anfang Januar ist Gantz Netanyahu inzwi­schen gefährlich nahege­kommen. Ihn trennen nur noch drei Prozent­punkte von „Bibi“. Doch wofür stehen Gantz und seine Partei?

Das weiß niemand. Denn Gantz spielt die Sphinx. Er sagt einfach nichts. Wie er die großen, brennenden Probleme Israels lösen will, den israe­lisch-paläs­ti­nen­si­schen Konflikt, den Kampf gegen die Hizbollah und den Iran, und die großen sozialen Probleme des Landes – keiner weiß es. Und doch scheint ihm eine große Anzahl an Israelis im Augen­blick zu vertrauen. Das liegt nicht nur daran, daß Generäle in der israe­li­schen Gesell­schaft ein hohes Ansehen genießen. Auch Rabin, Barak und Sharon waren Generäle oder gar General­stabs­chefs der Armee.
Doch mehr noch hat die Popula­rität Gantz‘ mit einem allmäh­lichen Überdruss an Netanyahu zu tun, an der Sehnsucht und Hoffnung nach Verän­derung der verkrus­teten israe­li­schen Politik. „Bibis“ mögliche Verwicklung in Korrup­ti­ons­fälle, seine zunehmend illiberale Politik, vor allem aber die wachsende Schere zwischen Arm und Reich bei extrem hohen Lebens­hal­tungs­kosten, lassen vielen Israelis nach zehn Jahren „Bibiismus“ Gantz als einzige Alter­native erscheinen.

Denn einem Gabbay oder auch dem ehema­ligen Journa­listen Yair Lapid mit seiner Yesh Atid-Partei in der Mitte des Partei­en­spek­trums werden politische Erfahrung vor allem in Fragen der Sicherheit und Vertei­digung nicht ganz zu Unrecht abgesprochen. Bevor Gantz seinen Einstieg in die Politik bekanntgab, schien Lapid der einzige, wenngleich nicht wirklich gefähr­liche, Wider­sacher Netan­yahus zu sein. Ein israe­li­scher Linker formu­lierte die Lage so: „Wenn Netanyahu wieder­ge­wählt wird, ist das eine Katastrophe. Wenn er nicht wieder­ge­wählt wird, ist das eine noch größere Katastrophe!“

„Mr. Security“ brand­markt Friedens­pläne als gefährlich

Tatsächlich ist es Netanyahu in seinen Jahren als Premier gelungen, sich als „Mr. Security“ zu verkaufen, als der einzigen Mann, der Israel durch unsichere Zeiten im Nahen Osten bringen kann. Und tatsächlich hat Israel ruhige Jahre hinter sich, relativ gesehen. Die Paläs­ti­nenser sind keine existen­tielle Bedrohung für Israel und mit Tausenden von gezielten und offen­sichtlich erfolg­reichen Angriffen in Syrien und Libanon hat die israe­lische Luftwaffe dafür gesorgt, daß die Pläne Irans, sich in unmit­tel­barer Nachbar­schaft Israels militä­risch festzu­setzen, nieder­zu­lassen, durch­kreuzt werden konnten. Zumindest bis auf Weiteres.

Und so ist noch keineswegs sicher, daß Gantz „Bibi“ besiegen wird. Die aufge­plus­terten Egos der diversen, vor allem männlichen Partei­en­führer verhindern die von Livni gefor­derte Einheits­front gegen „Bibi“ und könnten so am Ende Gantz den Sieg kosten. Doch auch „Bibi“ könnte Schwie­rig­keiten bekommen, selbst wenn er die Wahlen gewönne. Denn ebenso wie auf der Linken, so hat sich auch auf der Rechten eine Spaltung vollzogen. Naftali Bennett, Erzie­hungs­mi­nister und bishe­riger Führer der Siedler­partei HaBait HaYehudi, hat zusammen mit seiner Kollegin, der Justiz­mi­nis­terin Ayelet Shaked, die Partei verlassen und „Die Neue Rechte“ gegründet, eine Partei, die nicht nur religiöse Siedler, sondern auch säkulare Rechte bis Rechts­extreme an sich binden soll.

Ob die Rechnung der beiden aufgeht, ist ungewiß. Auch hier könnte es sein, daß die Parteien rechts der Mitte sich gegen­seitig die Stimmen wegnehmen. In Israel liegt die Hürde zum Eintritt in die Knesset bei 3,25 Prozent. Eventuell hätte also ein wieder­ge­wählter Netanyahu Mühe, eine neue rechte bis ultra­rechte Koalition zu bilden. Bennett und Shaked nehmen das Risiko aber in Kauf, sie denken schon an die Zeit nach Netanyahu und suchen neue Wähler­schaften, um einmal die Macht zu übernehmen oder – erstarkt – in den Likud zurück­zu­kehren und dort die Spitze der Partei zu übernehmen. Denn selbst bei einem erneuten Wahlsieg dürfte dies Netan­yahus letzte Kadenz sein. Eine Anklage ist sehr wahrscheinlich, auch sein Alter und der bereits erwähnte Überdruß an seiner Person deuten ein Ende der „Ära Bibi“ an.

Für links­li­berale Demokraten in Israel ist das aber kein Grund zur Freude. Denn auch die größeren Opposi­ti­ons­par­teien sind ideenlos, wenn es um die Frage der besetzten Gebiete geht. Die meisten wollen den Status quo erhalten, weil sie weder in dem alternden Paläs­ti­nen­ser­prä­si­denten Mahmud Abbas, noch in der radikal-islami­schen Hamas einen Partner für Frieden sehen. Und weil sie sich nicht mit den allzu mächtigen Siedlern anlegen wollen. Ein Bürger­krieg ist das Letzte, was Gabbay, Lapid oder Gantz wollen.

So bleibt nur die kleine Meretz-Partei, vergleichbar am ehesten mit den Grünen in Deutschland, die klare liberale Positionen und ein eindeu­tiges Bekenntnis zur Zwei-Staaten-Lösung vertritt. In der gegen­wär­tigen Knesset hat sie aller­dings gerade mal fünf Sitze. Im israe­li­schen Mainstream kann sie sich kaum behaupten. Denn eines ist Netanyahu nach nun fast zehn Jahren ununter­bro­chener Macht gelungen: Die Bevöl­kerung in ständiger Angst vor dem Untergang zu halten – und sich somit nicht nur als „Mr. Security“ unent­behrlich zu machen, sondern auch alle Friedens­pläne als gefährlich zu brand­marken. Man darf gespannt sein, ob die Israelis, Benny Gantz oder General­staats­anwalt Avichai Mandelblit „Bibis“ Pläne und Hoffnungen für den 9. April durch­kreuzen werden.

Textende

Hat Ihnen unser Beitrag gefallen? Dann spenden Sie doch einfach und bequem über unser Spendentool. Sie unter­stützen damit die publi­zis­tische Arbeit von LibMod.

Wir sind als gemein­nützig anerkannt, entspre­chend sind Spenden steuerlich absetzbar. Für eine Spenden­be­schei­nigung (nötig bei einem Betrag über 200 EUR), senden Sie Ihre Adress­daten bitte an finanzen@libmod.de

 

Verwandte Themen

Newsletter bestellen

Mit dem LibMod-Newsletter erhalten Sie regel­mäßig Neuig­keiten zu unseren Themen in Ihr Postfach.

Mit unseren Daten­schutz­be­stim­mungen
erklären Sie sich einverstanden.