Alles ist eins: Schwächen und Einseitigkeiten des Amnesty-Berichts zu Israel
Amnesty bezichtigt Israel der „Apartheid“ im gesamten Gebiet zwischen Mittelmeer und Jordan.
Der gerade veröffentlichte Bericht von Amnesty International UK enthält im Kern der Sache keine Überraschung. Die Menschenrechtsorganisation wirft Israel im Umgang mit den Palästinensern „Apartheid“ vor. Zwei andere Menschenrechtsorganisationen, die israelische „B’tselem“ und „Human Rights Watch“, haben schon im letzten Jahr Israel der Apartheid bezichtigt. Die Vorwürfe damals kamen auf, wurden kurz wahrgenommen und wurden wieder vergessen, zumindest in der großen Politik. Wird das nun anders sein?
Möglicherweise. Zunächst einmal, weil Amnesty eine ganz andere Reputation und einen wichtigeren Stellenwert als die erwähnten Menschenrechtsorganisationen hat, aber auch, weil die aktuelle israelische Regierung bereits vor Erscheinen des Berichts lauthals „Antisemitismus“ geschrien hat. Damit hat die Regierung Bennett dem Bericht schon mal automatisch mehr Aufmerksamkeit garantiert als wenn Israel seine „Hasbara“, seine PR-Kampagne, low-key gefahren hätte. Angesichts des drohenden Ukraine-Krieges und der Corona-Pandemie hat die Welt gerade andere Sorgen als Israel und die Palästinenser und hätte den Bericht vielleicht nicht weiter beachtet.
Die Vorwürfe von Amnesty sind massiv, erinnern aber stark an die Vorwürfe der BDS-Bewegung, die in Teilen offen antisemitisch ist: Israel betreibe eine Politik der Rassentrennung, Enteignung und Ausgrenzung gegenüber den Palästinensern. Das aber sei nichts anderes als Apartheid. Darum fordert Amnesty alle Staaten auf, insbesondere Großbritannien unter der Regierung von Boris Johnson auf, Israel mit einem Waffenembargo zu belegen.
Zunächst einmal: Viele Vorwürfe, die Amnesty macht, sind, wenn man auf das Westjordanland blickt, nicht gänzlich von der Hand zu weisen. Israel verstößt gegen Menschenrechte, es verstößt auch nach gängigem Recht gegen die Auflagen, die der Staat als Besatzungsmacht zu befolgen hätte, etwa die verbotene Besiedlung „besetzter Gebiete“. Land von Palästinensern wird enteignet, sie können selbst in bestimmten Gegenden nicht bauen, müssen Gebiete verlassen, die willkürlich zu „militärischen Sperrzonen“ deklariert werden. Die Schikanen sind seit Jahrzehnten dokumentiert. Es gibt also genug anzuprangern und Israel wird sich all dieser Vergehen eines Tages stellen müssen. Ob vor einem internationalen Gericht oder in einer innerisraelischen Auseinandersetzung, wird sich zeigen.
Als die sogenannten „postzionistischen Historiker“ in den 1980er Jahren die wahre Geschichte des Unabhängigkeitskrieges 1948 aufdecken konnten, weil die Archive endlich geöffnet wurden, war es für die israelische Gesellschaft damals ein Schock zu erfahren, dass der alte zionistische Mythos, die arabischen Staaten hätten die Bewohner von Palästina aufgefordert zu fliehen, nur die halbe Wahrheit war. Denn es gab auch Vertreibungen und Massaker, manche sprechen auch von ethnischen Säuberungsaktionen. Israel hat diesen Makel vielleicht noch nicht internalisiert. Aber die Wahrheit über diesen Krieg ist offengelegt und kann nicht mehr geleugnet werden.
Viele Israelis interessieren sich nicht für die besetzten Gebiete und bekommen nicht mit, was dort täglich geschieht. Die Siedlergewalt gegen Palästinenser hat allein 2021 um 50 Prozent gegenüber dem Vorjahr zugenommen. Militär und Regierung tun wenig, um solche Auswüchse wirkungsvoll zu unterbinden. Der Staat selbst unterstützt und fördert das Siedlungsprogramm mit all seinen Implikationen für die palästinensische Bevölkerung. Ja, Israel müsste sich viel mehr mit diesen Entwicklungen auseinandersetzen, die Scheuklappen absetzen und sich der brutalen Realität der Besatzung stellen. Das geschieht so gut wie gar nicht. Oder nicht in ausreichendem Maße.
Aber ist das Apartheid?
Das Interessante an dem Bericht von Amnesty International ist das Territorium, in dem – laut der Menschenrechtsorganisation – Apartheid ausgeübt wird. Es handelt sich um das Westjordanland und Ostjerusalem. Aber auch um Gaza und – um das Kernland Israel selbst. Mit anderen Worten: jüdische Israelis betreiben in der gesamten Region zwischen Mittelmeer und Jordan Apartheid. Es ist alles eins.
Einer der Vorwürfe von „Apartheid“ lautet auch „Fragmentierung“. Das aber bedeutet, dass ganz egal, wohin sich Israel zurückziehen würde, ganz egal auf welche Grenzen man sich einigen würde, die Tatsache, dass Israel überhaupt existiert, ist eine «Fragmentierung» Palästinas. Und die könnte nur gelöst werden, in dem sich der jüdische Staat komplett auflöst.
Die große Schwäche und die Einseitigkeit des Berichts beginnt genau da. Oder soll man sagen: die Ideologisierung der Vorwürfe? Früher bezogen sich solche Berichte auf die besetzten Gebiete. Und hatten damit stets eine wichtige Funktion, um auf Unrecht aufmerksam zu machen. Doch jetzt? Dass Gaza nach wie vor als Gebiet angesehen wird, das Israel zugeordnet wird, verwundert nicht. Nach internationalem Recht ist Israel, obwohl es sich gänzlich aus dem Küstenstreifen zurückgezogen hat, immer noch als Besatzungsmacht verantwortlich. Dass aber die „Einschränkung der Bewegungsfreiheit“, dass die „Blockadepolitik“ auch eine Reaktion auf die politischen Aktionen der islamistischen Hamas sind, wird tunlichst unterschlagen. Ebenso wie in dem Bericht der letzte Gaza-Krieg, die Raketen auf die israelische Zivilbevölkerung, nur am Rande erwähnt werden.
So unterscheidet Amnesty nirgends zwischen Unrecht und Entscheidungen, die der Sicherheitspolitik geschuldet sind. Die Lage in den besetzten Gebieten, ganz unabhängig von der zu Recht verurteilten Siedlungspolitik, ist wesentlich komplexer als der Bericht dies insinuiert. Ist das Gebiet, über das offiziell die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) herrscht, auch unter der Knute Israels? Gewiss – wenn es um das Makro geht. Israel kontrolliert und marschiert manchmal auch in die sogenannte „Area A“ ein, wenn es der Sicherheit der Staates oder dem, was man als Sicherheit des Staates deklariert, angeblich dient. Dass die PA im Westjordanland, dass die Hamas in Gaza dennoch das Sagen über die eigene Bevölkerung haben, dass Israels Handeln nicht nur, aber eben auch eine Reaktion auf palästinensische Politik und Terror ist, das interessiert nicht. Ebenso wenig, dass PA und Israel in vielen Bereichen zusammenarbeiten. Im Kampf gegen den Terrorismus. Und auch im Kampf gegen den Einfluss der Hamas im Westjordanland.
Ganz zu schweigen vom Kernland Israel. Es ist völlig überflüssig, den Leuten von Amnesty klarmachen zu wollen, dass Araber mit israelischem Pass nicht in einem Apartheid-Staat leben. Sie leben ganz sicher in einem Staat, in dem es Rassismus gegen Araber gibt, auch tägliche Benachteiligung, keine Frage. Der Staat hat eine riesige Aufgabe, all diese Ungerechtigkeiten zu beheben. Aber allein die Tatsache, dass in der aktuellen Regierung eine arabische Partei sitzt, dass am Obersten Gericht auch ein arabischer Richter Recht spricht, dass Araber in Israel Rechte und Freiheiten haben wie jüdische Israelis, Möglichkeiten also, die der Apartheidstaat Südafrika seinen schwarzen Bewohnern nie und nimmer zubilligte, sollte den Menschenrechtlern zu denken geben. Und dass Israel eine Demokratie (natürlich mit Schwächen) ist, kommt in dem Bericht auch nicht zur Geltung.
Doch darum ging es den Verfassern nicht. Denn wenn die „Fragmentierung“ der palästinensischen Bevölkerung und des Territoriums kritisiert wird, wenn davon die Rede ist, dass die jüdische Bevölkerung Privilegien auf Kosten der Palästinenser erhält, dann wird, mindestens für das Kernland Israel, den Juden das Recht auf nationale Unabhängigkeit und damit auch das Recht auf einen jüdischen Staat abgesprochen.
Der Bericht setzt die israelische Siedlungspolitik beispielsweise mit der Nichtanerkennung beduinischer Städte und Dörfer im Negev gleich. Auch hier ginge es um Enteignung. Das ist richtig. Zum Teil. Doch Amnesty missachtet, dass es hier um zwei unterschiedliche Rechtssysteme handelt: in einem Fall – das Militärrecht der Besatzungsmacht. Im anderen Fall: das Recht eines souveränen Staates, innerhalb seiner Grenzen Entscheidungen zu treffen, die Amnesty nicht gefallen mögen, die jedoch einen anderen Stellenwert haben als in besetztem Gebiet.
Der Bericht schüttet das Kind mit dem Bade aus. Berechtige Kritik an Israels Politik wird so unglaubwürdig gemacht. Der Amnesty-Bericht geht sozusagen auf die Zeit vor 1947 zurück, widerspricht dem UN-Teilungsplan jenes Jahres. Als es noch keinen Staat Israel gab. Und als es auch noch keine Zwei-Staaten-Lösung gab, zumindest als Idee und als immer noch erklärtes Friedensziel der internationalen Staatengemeinschaft.
Der Bericht wird allen Feinden Israels als willkommene Bestätigung dienen, den Hass gegen Israel weiter zu schüren. Er wird aber das tatsächlich existierende Unrecht, das Palästinenser erleiden müssen, nicht ändern. Denn eine Untersuchung, die keinen Unterschied mehr macht zwischen Gaza, dem Westjordanland und dem Kernland Israel, wird in Israel selbst nicht weiter ernst genommen. Auch nicht da, wo er wahre und wichtige Dinge anspricht.
Amnesty hofft, dass es nun zu einer Anklage Israels wegen Menschenrechtsverbrechen vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag kommen wird. Man wird wohl davon ausgehen können, dass dies nicht geschehen wird. Die Welt interessiert sich nicht mehr für diesen Konflikt, viele Staaten, selbst arabische, haben kein Interesse an einer Verurteilung Israels und sogar die Richter des Internationale Strafgerichtshofs dürften verstehen, dass die Sachlage vor Ort komplexer ist und mit „Apartheid“-Rufen allein nicht vernünftig dargestellt ist.
Für die Palästinenser selbst wird sich also auch nach diesem Bericht nicht viel verändern, das kann man mit großer Wahrscheinlichkeit vorhersagen. Dass das Image Israels aber immer weiter beschädigt wird, ist ebenso klar. Das aber interessiert die meisten Israelis sowieso nicht. Sie halten die Welt da draußen grundsätzlich für judenfeindlich. Der Bericht ist für die meisten von ihnen nur eine weitere Bestätigung dafür. So ganz unrecht scheinen sie nicht zu haben.
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