Frank­reich-Wahlen: Entschei­dend ist der Juni

Foto: Daniel Pier /​ Imago Images

Während die Präsi­dent­schafts­wahl im April alle Aufmerk­sam­keit auf sich zieht, gelten die Parla­ments­wahlen im Juni in der Regel als lang­wei­lige Pflicht­auf­gabe. Diese Wahr­neh­mung könnte sich dieses Jahr als großer Irrtum herausstellen.

Aller Augen schauen gebannt auf das Spektakel der Präsi­dent­schafts­wahl. Das Drehbuch ist aber auch unwi­der­steh­lich. Rheto­risch über­zo­gene Gesell­schafts­vi­sionen prallen aufein­ander in einer sich über Monate ziehenden Drama­turgie aus Hand­lungs­sprüngen und Cliff­hän­gern, die jeden TV-Serien-Szena­risten vor Neid erblassen lassen. Statt lang­wie­riger Koali­ti­ons­ver­hand­lungen und Bedarf an Kompro­miss­fä­hig­keit gibt es einen gnaden­losen Showdown. Und statt näch­te­langem Wahl­män­ner­zählen wie in Washington gibt’s punkt acht Uhr ein klares Ergebnis.

Dazu noch ist jetzt, auf der Ziel­ge­raden, sogar die verloren geglaubte Spannung zurück. Man vermutete Emmanuel Macron als Amts­in­haber vom geopo­li­ti­schen Kontext begüns­tigt, und muss fest­stellen, dass er verwund­barer ist als ange­nommen. Und man glaubte Marine Le Pen nach­haltig von ihrer Putin-Verehrung beschä­digt, und siehe da, das große Thema des Kauf­kraft­ver­lusts drängt ihre Schwächen in den Hintergrund.

Eine gänzlich uner­war­tete Wendung kann man dem Drehbuch in Frank­reich zwar immer zutrauen, aber Macrons Wieder­wahl in Frage zu stellen, wird Marine Le Pen doch schwer­fallen. Zu viele Stimmen müssten da innerhalb von zwei Wochen von Zemmour-Anhängern zurück­ge­holt und ander­weitig dazu­ge­wonnen werden. Wie genau sich die Stimm­ent­hal­tung – auf Rekord­höhe erwartet – auswirken wird, ist umstritten.

Gut möglich aller­dings, dass dieses Jahr das ganze Präsi­dent­schafts-Drama umsonst sein wird. Denn die wahre Macht des am 24. April gekürten Staats­ober­haupts wird in großem Maße von den Ergeb­nissen der Parla­ments­wahlen („les légis­la­tives“) am 12. und 19. Juni abhängen. Und deren Ausgang scheint 2022 besonders schwierig vorherzusagen.

Die große Ungewissheit

Neuge­wählte Präsi­denten geben in der Regel zu Protokoll, sie hätten nicht den geringsten Zweifel daran, dass die Franzosen Kohärenz zeigen und ihnen eine klare Regie­rungs­mehr­heit im Parlament verleihen werden. Eine mit größtem Selbst­ver­trauen vorge­tra­gene Über­zeu­gung, die von April bis Juni wie ein Mantra wieder­holt wird. Was genau passieren wird, sollten die Franzosen plötzlich keine Lust mehr haben, die beschwo­rene Kohärenz zu zeigen, will sich niemand wirklich vorstellen.

Es stimmt, dass diese sich selbst erfül­lende Prophe­zeiung tatsäch­lich 2002, 2007, 2012 und 2017 gut aufging. Jedem der vier betrof­fenen Präsi­denten – Jacques Chirac, Nicolas Sarkozy, François Hollande und Emmanuel Macron – gelang es, ihren Sieg im April/​Mai in eine Parla­ments­mehr­heit im Juni umzu­münzen. Aber das ist kein Natur­ge­setz: es ist nicht ersicht­lich, weshalb dies 2022 genauso funk­tio­nieren sollte.

Für Chirac, Sarkozy und Hollande kam die parla­men­ta­ri­sche Bestä­ti­gung ihres Präsi­dent­schafts-Wahl­er­folgs wenig über­ra­schend. Alle drei konnten auf die Unter­stüt­zung etablierter Partei­struk­turen zurück­greifen, die nicht nur von ihrer lang­jäh­rigen Verwur­ze­lung in den 577 Wahl­kreisen profi­tierten, sondern auch vom Mehr­heits­wahl­recht, das es kleineren Parteien fast unmöglich macht, eine signi­fi­kante Zahl von Sitzen zu ergattern.

Doch schon 2017 war der von Emmanuel Macron losge­tre­tene Erdrutsch zugunsten seiner grade erst gegrün­deten Bewegung En Marche! alles andere als vorher­sehbar. Seine Wette auf den soge­nannten „dégagisme“ – die Lust der Wähler am „Abräumen“, also an der Abstra­fung der tradi­tio­nellen Volks­par­teien – ging auf, und den neuen Gesich­tern, die er aus der Zivil­ge­sell­schaft in die Politik gelockt hatte, kam ein großes Sympathie-Kapital zugute.

So einfach wird es dieses Jahr nicht mehr werden. Selbst bei einem über­zeu­genden Wahlsieg Macrons werden es seine Truppen ungleich schwerer haben in ihren Wahl­kreisen als vor fünf Jahren. Zumal der Präsident selbst zwar seinen eigenen Wähler­stamm von etwa 25% erstaun­lich stabil halten konnte, aber über sein Mandat hinweg bei vielen Wähler­gruppen auch ein gutes Maß an Unmut angehäuft hat, das sich durchaus auf lokaler Ebene gegen seine Abge­ord­neten-Kandi­daten entladen könnte.

Sollte es Marine Le Pen tatsäch­lich gelingen, entgegen allen Voraus­sagen zur Präsi­dentin gewählt zu werden, sie stünde kaum besser da. Es ist in der Tat kaum vorstellbar, wie eine Partei, der es weder auf natio­naler noch auf regio­naler Ebene je gelungen ist, ihre unbe­streit­bare Anzie­hungs­kraft auf Millionen von Wählern in eine ange­mes­sene Zahl von Parla­ments-Sitzen umzu­wan­deln, plötzlich 289 Direkt­man­date holen soll. Selbst in einer Koalition mit der gaul­lis­ti­schen Rechten (die ihren ange­schla­genen Ruf damit endgültig zerstören würde), wäre eine Mehrheit kaum erreichbar.

Der Haupt­grund für die heute vorherr­schende Unge­wiss­heit liegt in der fort­schrei­tenden Frag­men­ta­tion des poli­ti­schen Spektrums, einer Tendenz, die man ja auch aus Deutsch­land und anderen etablierten Demo­kra­tien kennt. In solchen Konfi­gu­ra­tionen kann drohende Regie­rungs­un­fä­hig­keit durch komplexe, meist zerbrech­liche Koali­tionen über­wunden werden. Aber dazu braucht es die Fähigkeit, Kompro­misse einzu­gehen und gemein­same Posi­tionen auszu­han­deln. Soweit diese in der poli­ti­schen Kultur Frank­reichs überhaupt vorhanden ist, wird sie während des alles zuspit­zenden Präsi­dent­schafts­wahl­kampfes nach­haltig beschä­digt. Die vom Wahl­system geför­derte Pola­ri­sie­rung macht halbwegs dauer­hafte Koali­tionen fast undenkbar, und die kollek­tive Erin­ne­rung an die chro­ni­sche Insta­bi­lität der Vierten Republik (1944–58) macht sie unpopulär.

Im Frühjahr 2022 stellt sich die Frage, weshalb eine zunehmend frag­men­tierte Wähler­schaft, in der das Vertrauen in nationale Regie­rungs­or­gane unter 40% liegt und das Vertrauen in poli­ti­sche Parteien bei 21% (siehe CEVIPOF-Barometer vom Januar 2022, Slides 21–30), sich im Juni massiv und reflex­haft hinter einem Staats­ober­haupt versam­meln sollte, das im April grade mal von einem Viertel der Wahl­be­rech­tigten aktiv unter­stützt wurde.

Natürlich kann alles gut ausgehen, und Frank­reich bleibt weitere fünf Jahre lang regierbar.

Viel­leicht aber auch nicht.

Die Präsi­den­tia­li­sie­rung eines Regimes

Eines der nie in Frage gestellten Klischees über die fran­zö­si­sche Politik ist die Annahme, dass in der Fünften Republik, der Präsident/​die Präsi­dentin über eine weitaus größere Macht­fülle verfügt als die Regie­rungs­chefs vergleich­barer Demo­kra­tien. Die Macht­fülle ist in der Tat unbe­stritten. Jedoch, sie ist auf einem Karten­haus begründet.

Klar, die Verfas­sung gewährt dem Präsi­denten die Macht, den Premierminister/​die Premier­mi­nis­terin zu ernennen und nach Gutdünken zu entlassen, und sie zwingt ihn nicht einmal dazu, für den Posten des Regie­rungs­chefs auf eine Person aus der Parla­ments­mehr­heit zurück­zu­greifen. So weit die Theorie. In der Praxis ist es undenkbar, die Ergeb­nisse der Parla­ments­wahlen bei der Wahl des Premier­mi­nis­ters zu übergehen.

Natürlich hat der Präsident/​die Präsi­dentin auch die Macht, das Parlament aufzu­lösen, wenn die Mehrheit nicht nach seinem/​ihrem Geschmack ist. In einer Zeit, als das Präsi­dent­schafts­mandat auf sieben Jahre angelegt war (fran­zö­sisch: „septennat“) und nicht parallel zur Legis­la­tur­pe­riode verlief, war dies tatsäch­lich eine Option. François Mitter­rand zog sie in aller Selbst­ver­ständ­lich­keit nach seiner Wahl 1981 und wurde sofort von einer deut­li­chen Mehrheit bestätigt. Und er bediente sich ihrer sogar ein zweites Mal: nach seiner Wieder­wahl 1988 löste er die von den Gaul­listen domi­nierte Natio­nal­ver­samm­lung wie erwartet auf und erhielt dort bei den Neuwahlen wieder eine Mehrheit.

Für Jacques Chirac indessen erwies sich diese Strategie 1997 als kata­stro­phaler Fehl­schlag. Auf den Rat seines Mitstrei­ters Dominique de Villepin rief er Neuwahlen aus mit der Absicht, seine exis­tie­rende Mehrheit noch auszu­bauen. Diese Art von Kalku­la­tion kommt bei den Franzosen schlecht an, und so erntete er eine herbe Nieder­lage, die ihm fünf lange Jahre einer konflikt­rei­chen „Zusam­men­ar­beit“ mit einem sozia­lis­ti­schen Premier­mi­nister eintrug, ein wahrer Alptraum für einen Gaullisten.

Im Sommer 2022 liegt die Option der Parla­ments­auf­lö­sung nicht einmal mehr auf dem Tisch. Seit der Redu­zie­rung des Präsi­dent­schafts­man­dats, per Refe­rendum im Jahr 2000, auf fünf Jahre (fran­zö­sisch „quin­quennat“) bei simul­taner Einfüh­rung der Gleich­zei­tig­keit von Präsi­dent­schaft und Legis­la­tur­pe­riode, gilt, dass der neuge­wählte Präsident mindes­tens zwölf Monate mit der neuge­wählten Assemblée Nationale leben muss, ob ihm/​ihr das passt oder nicht.

Dazu kommt, dass das 2000er Refe­rendum ein Jahr später durch die Entschei­dung komplet­tiert wurde, den Wahl­ka­lender umzu­kehren und fest­zu­zurren, also syste­ma­tisch die Präsi­dent­schafts­wahl vor der Parla­ments­wahl zu program­mieren. Damals argu­men­tierten die Befür­worter dieser Reform, über alle Parteien hinweg, im Sinne eine „kohä­ren­teren Präsi­den­tia­li­sie­rung“ des Regimes, immer in Berufung auf das unan­tast­bare Erbe Charles de Gaulles.

Das unver­meid­liche Resultat davon war, die Bedeutung der Parla­ments­wahlen auf eine Art nach­träg­li­cher „Rati­fi­zie­rung“ der Präsi­dent­schafts­wahl zu redu­zieren. Zwar gab es kritische Stimmen zur Vernach­läs­si­gung der Legis­la­tive, insbe­son­dere im Vergleich mit anderen euro­päi­schen Demo­kra­tien, ich kann mich aber nicht an eine einzige gewich­tige Persön­lich­keit des poli­ti­schen Lebens erinnern, die aufge­zeigt hätte, dass sich die allge­meine Annahme einer quasi-natur­ge­ge­benen Parla­ments­mehr­heit für das neuge­wählte Staats­ober­haupt in Bezug auf die Regier­bar­keit der Republik als äußerst gefähr­lich würde heraus­stellen können.

Verfas­sungs-Pudding

Zwanzig Jahre später sind wir so weit: was würde im Juni 2022 passieren, wenn die Bürger sich entscheiden würden, das Ergebnis der Präsi­dent­schafts­wahl einfach zu igno­rieren oder gar bewusst an den Wahlurnen zu korrigieren?

Ohne parla­men­ta­ri­sche Mehrheit, aus der ein gehor­samer Premier­mi­nister (oder eine gehorsame Premier­mi­nis­terin) rekru­tiert werden kann, wird der Präsident/​die Präsi­dentin zwar nicht viel an symbo­li­scher und reprä­sen­ta­tiver Macht einbüßen, aber seine/​ihre exekutive Hand­lungs­fä­hig­keit wäre rasch bedenk­lich eingeengt.

Dies ist nicht etwa eine simple Hypothese, sondern eine Lehre, die aus drei histo­ri­schen Präze­denz­fällen einer doppel­köp­figen Exekutive – in Frank­reich als „coha­bi­ta­tion“ bezeichnet – gezogen werden kann. Es lohnt sich, diese drei Fall­bei­spiele kurz unter die Lupe zu nehmen.

Alle drei Koha­bi­ta­tionen entstanden vor der oben geschil­derten Verfas­sungs­re­form aus dem Jahr 2000. Unter de Gaulle und Pompidou wäre eine solche Konstel­la­tion kaum vorstellbar gewesen. Aber nach dem ersten echten Macht­wechsel durch die Wahl Mitter­rands 1981 war es nur eine Frage der Zeit, bis Präsident und Parla­ments­mehr­heit aus unter­schied­li­chen Lagern stammen würden.

Nach fünf Jahren sozia­lis­ti­scher Regierung war es dann so weit: Mitter­rand verlor seine Mehrheit 1986, und eine Rechts-Regierung wurde gebildet unter der Leitung von Jacques Chirac, der den Posten des Premier­mi­nis­ters fälsch­li­cher­weise für ein Sprung­brett für den 1988 frei­wer­denden Präsi­denten-Thron hielt.

Chirac wurde viel belächelt, sogar bemit­leidet ange­sichts der persön­li­chen Herab­set­zungen, die er in der Koha­bi­ta­tion und im Wahlkampf von Mitter­rand hinnehmen musste. Aber das ist nur die Hälfte der Geschichte.

Es stimmt zwar, dass Mitter­rand eine über den Parteien schwe­bende, leicht monar­chisch ange­hauchte Position einnahm und sich gekonnt die Pudding-Para­gra­phen der nicht umsonst „semi­prä­si­den­tiell“ genannten Verfas­sung zunutze machte.

Die Vorrechte, die dem Präsi­denten aller­dings in der Praxis ganz konkret bleiben, finden sich lediglich in außen­po­li­ti­schen Ange­le­gen­heiten, Sicher­heits- und Vertei­di­gungs­fragen, und zu einem gewissen Grad auch in der Euro­pa­po­litik. Dies sind Poli­tik­felder, in denen die symbo­li­schen und reprä­sen­ta­tiven Funk­tionen der Präsi­dent­schaft stark zum Tragen kommen. Aber in allen anderen Ressorts kann die von einer parla­men­ta­ri­schen Mehrheit gestützte Regierung im Grunde schalten und walten, wie sie will. Sie kann Gesetze verab­schieden, die der Ideologie und den Präfe­renzen des Präsi­denten frontal entgegenstehen.

Zwischen 1986 und 1988 entwer­tete die Chirac-Regierung den Franc, ernied­rigte Unter­neh­mens­steuern und schaffte die Vermö­gens­steuer ganz ab, lancierte eine ganze Welle von Priva­ti­sie­rungen (darunter den führenden TV-Sender), zog eine härtere Sicher­heits­po­litik durch und machte sich sogar an die Neuaus­mes­sung der Wahl­kreise (wenn auch nicht in ameri­ka­ni­schen gerry­man­de­ring-Verhält­nissen). Die ganze Zeit über war Mitter­rand zur Rolle des hilflosen Zuschauers verdammt. Er spielte sie mit Geduld und Geschick, gab sich als weiser Staats­mann und legte in seinen Beliebt­heits­werten zu, je mehr die Bevöl­ke­rung mit Chiracs Bulldozer-Vorgehen unzu­frieden war.

Die zweite Koha­bi­ta­tion ergab sich 1993, fünf Jahre nach Mitter­rands Wieder­wahl, am Ende der regulären Legis­la­tur­pe­riode. Wieder kam es zu einer rechten Mehrheit, diesmal ließ Chirac seinem Partei­freund Edouard Balladur den Vortritt. Die zwei darauf­fol­genden Jahre waren ein seltsamer Moment, geprägt von dem sicht­baren körper­li­chen Verfall des greisen Präsi­denten und dem aggres­siven Duell zwischen Chirac und Balladur um seine Nachfolge.

Erneut zog sich Mitter­rand in die Europa- und Außen­po­litik zurück, um sich den Span­nungen um die Währungs­union mit einem kompli­zierten, frisch wieder­ver­ei­nigten Nachbarn zu widmen. Die Sozia­listen hatten die kommenden Präsi­dent­schafts­wahlen ohnehin aufge­geben, und die Medi­en­auf­merk­sam­keit galt in erster Linie Chiracs verzwei­felter Aufhol­jagd, um endlich „meinen Job in zwei Jahren“ zu ergattern, wie ihn die populäre sati­ri­sche (und tatsäch­lich urko­mi­sche) Puppen­show Les Guignols de l’Info ständig beschwören ließ.

Die dritte Koha­bi­ta­tion zog sich dann über fünf Jahre hin, im Anschluss an Chiracs verlorene Neuwahlen 1997. Sie zeigte auf, wie sehr die Macht­ba­lance zwischen Präsident und Premier­mi­nister auch von den jewei­ligen Persön­lich­keiten abhängig ist. Der Sozialist Lionel Jospin, um dessen Ernennung Chirac nicht herumkam, stellte sich als erstaun­lich starker, integrer Regie­rungs­chef heraus, der unnach­giebig auf den legis­la­tiven Präro­ga­tiven der Regierung beharrte und seine Präsenz sogar auf EU-Ebene durch­setzte, was sich unter anderem in einer konflikt­rei­chen Vorbe­rei­tung des EU-Gipfels in Nizza im Dezember 2000 niederschlug.

Über die kompletten fünf Jahre hinweg brachte Jospins linke Regierung, in der sich starke Figuren der Sozia­listen, Kommu­nisten und Grünen zusam­men­fanden (in Frank­reich poetisch „la gauche plurielle“ genannt) ihre vom Präsi­denten höchst ungern gesehenen Gesetze auf den Weg, darunter die emble­ma­ti­sche 35-Stunden-Woche oder die gleich­ge­schlecht­liche Lebens­ge­mein­schaft (der „PACS“, der den Franzosen gar ein neues Verb – „se pacser“ – beschert hat). Die beacht­liche Kompetenz der Regierung führte auch dazu, dass Chirac im Gegensatz zu Mitter­rand vor ihm nicht einmal Vorteil aus seiner abge­ho­benen, vom Tages­ge­schäft unbe­las­teten Position ziehen konnte und bei den Folge­wahlen auf nicht einmal 20% der Stimmen im ersten Wahlkampf kam. Seine Wieder­wahl 2002 verdankte er lediglich der Tatsache, dass sein Widerpart im zweiten Wahlgang Jean-Marie Le Pen hieß.

Unzu­läng­lich vorbereitet

Alle drei Koha­bi­ta­tionen wurden in ganz unter­schied­li­cher, oft wider­sprüch­li­cher Weise inter­pre­tiert. Sie wurden angeführt als Beweis für die Stabi­lität des Systems und eine gewisse Flexi­bi­lität der Fünften Republik, die offenbar ein origi­nelles System von Gewal­ten­tei­lung ermög­liche. Aber sie wurden auch verur­teilt als eine kontra­pro­duk­tive, wenig effi­zi­ente Folge aus dem Mangel an Präzision und Anti­zi­pa­tion in der geltenden Verfassung.

Keine dieser beiden Sicht­weisen lag ganz falsch, aber beide waren natur­gemäß fest verhaftet in einer poli­ti­schen Land­schaft, in der die Macht innerhalb eines hege­mo­ni­schen Parteien-Duopols geteilt wurde. Damals gab es keine Repu­blique en Marche, die bereit und fähig war, den Rechts-Links-Antago­nismus einfach mal auf die Schutt­halde der Geschichte zu kippen. Es gab kein Rassem­blement National, das über eine popu­lis­ti­sche Protest-Attitüde hinaus in der Lage war, Regie­rungs­an­sprüche anzu­melden. Und es gab keine Klima­krise, die den Grünen eine neue Relevanz verleihen konnte (auch wenn diese sich bisher nur auf lokaler und regio­naler Ebene mani­fes­tiert). Und die Stimm­ent­hal­tung war niedrig.

Die Fünfte Republik ist nicht vorbe­reitet für eine Konstel­la­tion wie sie sich im Juni 2022 ergeben könnte. Sie ist wie eine tolle Software, die ihre Funktion zur Zufrie­den­heit aller Nutzer erfüllt, bis zu dem Tag, an dem sie plötzlich zusam­men­bricht, weil sie mit einem rundum verän­derten Betriebs­system nicht mehr kompa­tibel ist.

Aber wer weiß, viel­leicht geht ja alles gut, und Frank­reich bleibt auch nach den Juni-Wahlen regierbar.

Textende

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