75 Jahre NATO – eine kritische Zwischenbilanz

Ist die NATO im 75. Jahr ihres Bestehens vorbe­reitet, sich den viel­fäl­tigen Heraus­for­de­rungen und neuen Bedro­hungen zu stellen? Ist sie auch in Zukunft in der Lage, unsere gut eine Milliarde Mitbürger zu schützen? Es wäre viel­leicht verlo­ckend, diese Frage mit einem klaren Ja oder Nein zu beant­worten. Doch statt einfache Antworten zu liefern, möchte Dr. Gerlinde Niehus, Deputy Director, Defence and Security Coope­ra­tion NATO mit ihrer Analyse zu einer kriti­schen Ausein­an­der­set­zung beitragen und Zwischen­bi­lanz ziehen.

Für meine Analyse möchte ich folgende sechs Punkte genauer in den Fokus nehmen:

1. Die stra­te­gi­sche Ausrich­tung der NATO
2. Abschreckung/​ Vertei­di­gung
3. Ukraine
4. Russland
5. NATO Partnerschaften
6. NATO „cuisine interne“

1. Die stra­te­gi­sche Ausrich­tung der NATO

Insgesamt betrachtet ist die Allianz hier recht gut aufge­stellt. Wir haben – wenn auch mit einiger Verzö­ge­rung – in 2022 ein neues Stra­te­gi­sches Konzept verab­schiedet, das die große Marsch­rich­tung vorgibt. Eindeutig werden hier Russland und Terro­rismus als die beiden größten Bedro­hungen für unsere Sicher­heit und unseren Frieden definiert: „Die Russische Föde­ra­tion ist die bedeu­tendste und unmit­tel­barste Bedrohung für die Sicher­heit der Bünd­nis­partner und für Frieden und Stabi­lität im euro-atlan­ti­schen Raum.“ Und weiter heißt es: „Terro­rismus in all seinen Formen und Ausprä­gungen ist die unmit­tel­barste asym­me­tri­sche Bedrohung für die Sicher­heit unserer Bürger und für den inter­na­tio­nalen Frieden und Wohlstand.“

Neufor­mu­lie­rung dreier Kernaufgaben

Das Stra­te­gi­sche Konzept definiert nach wie vor drei Haupt­auf­gaben für die NATO:  1.) Abschre­ckung und Vertei­di­gung, 2.) Krisen­prä­ven­tion und ‑bewäl­ti­gung sowie 3.) koope­ra­tive Sicher­heit. Gleich­zeitig aber erfolgt eine deutliche Verschie­bung der relativen Bedeutung dieser Kern­auf­gaben, denn es wird eindeutig fest­ge­halten, dass „diese sich ergänzen, um die kollek­tive Vertei­di­gung und Sicher­heit aller Bünd­nis­partner zu gewähr­leisten.“ Zudem werden die drei Kern­auf­gaben nun neu formuliert:

  • Im Bereich der Abschre­ckung und Vertei­di­gung geht die Allianz im Grundsatz weg von der ”Crisis Response“ und zurück zum Konzept der Vorwärts­ver­tei­di­gung („Forward Defence“), das die Vertei­di­gungs­stra­tegie bis Anfang der 90er Jahre prägte. Diese wurde jetzt angepasst an die neuen Heraus­for­de­rungen. Dabei ist das Thema Resilienz ein neuer und tragender Aspekt: „Wir werden darauf hinar­beiten, stra­te­gi­sche Schwach­stellen und Abhän­gig­keiten zu iden­ti­fi­zieren und zu mindern, auch in Bezug auf unsere kriti­schen Infra­struk­turen, Liefer­ketten und Gesundheitssysteme.“
  • Die frühere Kern­auf­gabe „Krisen­ma­nage­ment” wurde in „Krisen­prä­ven­tion und ‑manage­ment” In diesem Sinne heißt es im Stra­te­gi­schen Konzept: „Präven­tion ist ein nach­hal­tiger Weg, um zu Stabi­lität und Sicher­heit der Verbün­deten beizu­tragen.” Darin spiegeln sich auch die Lehren aus drei Jahr­zehnten Auslands­ein­sätze, unter anderem in Afgha­ni­stan, wider. Die Lektion, die wir gelernt haben, lautet also: Präven­tion ist besser (und billiger!) als Inter­ven­tion. Inves­ti­tionen in eine solide Ausbil­dung und den Aufbau von Kapa­zi­täten mit und für die Partner sind daher von entschei­dender Bedeutung. Die Ambi­tionen der NATO in diesem Bereich sind gewachsen; leider folgen die Ressourcen nicht automatisch.
  • Ambi­tio­nierter wird auch die dritte Kern­auf­gabe der koope­ra­tiven Sicher­heit und der Part­ner­schaften Dies geschieht mit spezi­fi­schen Hinweisen auf Länder, die eine Mitglied­schaft anstreben, wie die Ukraine und Georgien sowie Länder, die unter Desta­bi­li­sie­rung leiden, wie z.B. auf dem west­li­chen Balkan. Zudem wird die Zusam­men­ar­beit mit gleich­ge­sinnten Partnern oder mit Regionen, die für das Bündnis von stra­te­gi­schem Interesse sind, inten­si­viert. Das schließt sowohl den Nahen Osten, Nord­afrika und die Sahelzone mit ein, aber auch die Partner aus dem indo-pazi­fi­schen Raum, weil „Entwick­lungen in dieser Region die euro-atlan­ti­sche Sicher­heit direkt beein­flussen können.“

Strategie-Konzept von 2022: politisch moder­ni­sierte Form bekannter Strategie

Inter­es­san­ter­weise ist das Stra­te­gi­sche Konzept von 2022 in gewisser Weise die nach­ge­holte poli­ti­sche Moder­ni­sie­rung der NATO Strategie: Bereits 2019 hatte sich die Mitglieder auf eine neue Mili­tä­ri­sche Strategie geeinigt. Deren Umsetzung begann ab 2020 in einem ersten wichtigen Schritt durch das Konzept für die Abschre­ckung und Vertei­di­gung des euro-atlan­ti­schen Raums (DDA). In beiden Grund­la­gen­do­ku­menten werden Russland und Terro­rismus als die größten Bedro­hungen definiert – so wie dann auch im Stra­te­gi­schen Konzept von 2022. Aller­dings wird es in den kommenden Jahren wohl immer deut­li­cher werden, dass der „China­faktor“ in allen drei Stra­te­gie­pa­pieren unter­re­prä­sen­tiert ist. Das wird die NATO früher oder später dazu veran­lassen, ihre stra­te­gi­sche Ausrich­tung neu zu justieren.

2. Abschre­ckung und Verteidigung

Die NATO wurde aus der Erkenntnis heraus geboren, dass die nord­ame­ri­ka­ni­sche und die euro­päi­sche Sicher­heit untrennbar mitein­ander verknüpft sind; aus dem Wissen darum, dass wir nur gemeinsam, nicht verein­zelt, in der Lage sind, den stärksten Abschre­ckungs­schild zu schaffen, den die Welt je gesehen hat. Dieser Schild ist seit 75 Jahren die Grundlage für Frieden, Stabi­lität und Wohlstand in unseren Ländern.

Die Anfänge

Dies ist ein Erfolg, den nicht einmal die Grün­der­väter der NATO vorher­sehen konnten. Als General Eisen­hower 1950 gebeten wurde, der erste Oberste Alliierte Befehls­haber Europas zu werden, war er bereits aus dem Mili­tär­dienst ausge­schieden. Er war Präsident der Columbia Univer­sity geworden und hatte seiner Frau verspro­chen, auf eine Farm in der Nähe von Gettysburg zu ziehen.

Als Präsident Truman mit dem Ansinnen an ihn herantrat, bat Eisen­hower diesen, es über einen Präsi­di­al­erlass zu erwirken – wahr­schein­lich, damit er die Entschei­dung zu Hause vor seiner Frau vertei­digen konnte! Eisen­hower sagte später zu einem Freund: „Sie wollen mich für die NATO, weil niemand sonst das will. Niemand glaubt, dass es funk­tio­nieren wird.“ Und auch der erste Gene­ral­se­kretär der NATO, Lord Ismay, hat den Posten, den Churchill ihm anbot, anfangs nur wider­willig ange­nommen. Dieses Problem hat die NATO im 21. Jahr­hun­dert nun ganz offen­sicht­lich nicht mehr.

Zurück in eine Ära der kollek­tiven Verteidigung

In vielerlei Hinsicht hat die NATO die Jahr­zehnte überlebt, weil es ihr immer gelungen ist, sich selbst neu zu erfinden und sich neuen Heraus­for­de­rungen anzu­passen. Doch was heißt das für uns heute und in den kommenden Jahren, viel­leicht Jahr­zehnten?  Wir müssen erkennen: Wir befinden uns wieder in einer Ära der kollek­tiven Vertei­di­gung. Nach dem Ende des Kalten Krieges haben die NATO-Mitglieder über mehr als drei Jahr­zehnte ihre kollek­tive Vertei­di­gung reduziert. Wir haben die Zahl der Truppen reduziert, deren Bereit­schaft verrin­gert und den Charakter dieser Truppen verändert: Einst zur kollek­tiven Vertei­di­gung konzi­piert, mit schwerer Bewaff­nung in Europa, wurden sie zu Krisen-Eingreif­truppen, die in Afgha­ni­stan, auf dem Balkan und anderswo Auslands­ein­sätze durchführen.

Neue mili­tä­ri­sche Anforderungen

Die neuen mili­tä­ri­schen Anfor­de­rungen unter­scheiden sich dabei deutlich von den voran­ge­gan­genen: Der grund­le­gende Unter­schied zwischen Krisen­ma­nage­ment zum Beispiel in Afgha­ni­stan und kollek­tiver Vertei­di­gung der Mitglied­staaten besteht nun darin, dass nicht wir, sondern unsere Gegner – Russland und die Terror­gruppen – den Zeitplan bestimmen.

Seit der illegalen Annexion der Krim und dem Einmarsch Russlands in den östlichen Donbass hat sich ein grund­le­gender Wandel vollzogen. Wir mussten erkennen, dass die Möglich­keit eines Angriffs gegen uns wieder da war und es jederzeit zu einem Konflikt kommen kann. Um zu verhin­dern, dass ein solcher Konflikt tatsäch­lich ausbricht, müssen wir vorbe­reitet und wehrhaft sein!

Seitdem hat die NATO konti­nu­ier­lich die größte Verstär­kung unserer kollek­tiven Vertei­di­gung seit einer Gene­ra­tion vorge­nommen. Gleich­zeitig werden unsere Streit­kräfte neu ausge­richtet – von Truppen für Auslands­ein­sätze hin zu Streit­kräften für die Bündnis- und Landesverteidigung.

Eckpunkte einer neu aufge­stellten NATO

  • Die NATO hat seit 2014 zum ersten Mal multi­na­tio­nale Gefechts­ver­bände, kampf­be­reite Truppen, im östlichen Teil des Bünd­nisses statio­niert – zuerst in den balti­schen Ländern und Polen.
  • Nach der russi­schen Invasion in der Ukraine im Februar 2022 haben wir diese Gefechts­ver­bände verdop­pelt durch Statio­nie­rungen in Bulgarien, Rumänien, Ungarn und der Slowakei und beschlossen, sie wenn nötig von Batail­lons- auf Briga­de­größe aufzustocken.
  • Zudem wurde die Bereit­schaft der Truppen erhöht und neue Vertei­di­gungs­pläne mit viel höheren Ambi­tionen für Streit­kräfte und ihre Fähig­keiten verein­bart. Zur Umsetzung der Pläne versetzt die NATO deutlich mehr Solda­tinnen und Soldaten in hohe Bereit­schaft, unter­stützt durch umfang­reiche Luft- und Seestreit­kräfte. Tatsäch­lich haben die Bünd­nis­partner SACEUR (Supreme Allied Commander Europe, Alli­ierter Ober­kom­man­die­render in Europa) so viele Truppen zur Verfügung gestellt wie seit Jahr­zehnten nicht mehr. Die Anfor­de­rung von 2022, rund 300.000 Soldaten in hoher Bereit­schaft zur Verfügung zu haben, um auf eine Krise zu reagieren, wurde 2024 deutlich über­troffen.  Derzeit hat die NATO rund 500 000 Solda­tinnen und Soldaten in hoher Bereitschaft.
  • Unsere Streit­kräfte üben in einem Ausmaß und mit einer Häufig­keit, wie es sie seit Jahr­zehnten nicht mehr gegeben hat, und diese Übungen werden weiter inten­si­viert. Bei der Übung „Steadfast Defender“ 2024 wurden rund 90.000 Soldaten durch Europa verlegt.

Konzept für die Abschre­ckung und Vertei­di­gung des euro-atlan­ti­schen Raums (DDA)

Der wich­tigste Rahmen für die Umsetzung der neuen Mili­tär­stra­tegie sind das Konzept für die Abschre­ckung und Vertei­di­gung des euro-atlan­ti­schen Raums von 2020 (DDA) und die damit verbun­denen Regio­nal­pläne. Die DDA gibt Leit­li­nien für 1.) Akti­vi­täten der Abschre­ckung in Frie­dens­zeiten, 2.) für mili­tä­ri­sche Antworten einer mili­tä­ri­schen Verstär­kung in Krisen­zeiten, um Aggres­sion zu verhin­dern, und 3.) für mili­tä­ri­sche Opera­tionen zur Vertei­di­gung aller Mitglieder im Falle eines Konfliktes.

Zur Ergänzung der DDA gibt es drei regionale Pläne: einen für den Norden, den Atlantik und die euro­päi­sche Arktis; einen für die Mitte, der die baltische Region und Mittel­eu­ropa abdeckt; und einen für den Süden, der das Mittel­meer und das Schwarze Meer umfasst. In den Plänen wird beschrieben, wie die NATO sowohl Russland als auch terro­ris­ti­sche Gruppen – die beiden Haupt­be­dro­hungen, die im Stra­te­gi­schen Konzept der NATO genannt werden – abschre­cken und abwehren wollen.

Die Planung wird fort­ge­setzt, und die Bünd­nis­partner entwi­ckeln nun ein klares Bild davon, welche Rolle sie in den Plänen spielen werden. So hat SACEUR (Supreme Allied Commander Europe, Alli­ierter Ober­kom­man­die­render in Europa) beispiels­weise den euro­päi­schen Land­kom­mandos auf Korps-Ebene jetzt Rollen zuge­wiesen, wobei einige wie Polen, Finnland, Deutsch­land, die Nieder­lande und Spanien eine Rolle bei der Vorwärts­ver­tei­di­gung spielen, während andere wie Frank­reich, Italien und das Verei­nigte König­reich darauf vorbe­reitet sind, überall im Bündnis stra­te­gisch zu reagieren.

Bedarfe, Prio­ri­täten, Aufgabenverteilung

Diese Struk­turen sind flexibel, aber wie im Kalten Krieg werden unsere Armeen wissen, wo, mit wem und wie sie – wenn nötig – kämpfen.  Davon hängt wiederum ab, wie sie ihre Streit­kräfte entwi­ckeln, wie sie ausbilden und mit welchen anderen Bünd­nis­part­nern sie zusammenarbeiten.

Finnland und Schweden sind in unsere Pläne und Struk­turen inte­griert worden. Sie bringen geogra­fi­sche Kohärenz und stra­te­gi­sche Tiefe in den Norden des Bünd­nisses sowie eine hervor­ra­gende Mischung aus mili­tä­ri­schen und zivilen Fähig­keiten. Wir haben auch wichtige Schritte unter­nommen, um zu verstehen, wo die Bünd­nis­partner inves­tieren müssen und wo die drin­gendsten Prio­ri­täten liegen. Unsere Ober­be­fehls­haber haben den Bünd­nis­part­nern ein detail­liertes und umfas­sendes Bild der Fähig­keiten vermit­telt, die sie zur Gewähr­leis­tung der Abschre­ckung und zur Bekämp­fung unserer Pläne benötigen.  Dieses Bedarfs­si­gnal richtet sich danach, was die Streit­kräfte zur Abschre­ckung und – bei Bedarf – zur Vertei­di­gung benötigen. Es fordert außerdem die Bünd­nis­partner auf, sich für Inno­va­tion und Trans­for­ma­tion zu enga­gieren. Dies geschieht insbe­son­dere im Lichte dessen, was wir aus Russlands Krieg gegen die Ukraine lernen.

Diese Anfor­de­rungen werden in unserer Planung nach Prio­ri­täten geordnet. Wir wissen, wo Inves­ti­tionen am drin­gendsten benötigt werden: Dies ist beispiels­weise der Fall bei mehr Vorräten von Munition und Ersatz­teilen, in den Bereichen Luft­ver­tei­di­gung, Lang­stre­cken­waffen, Logistik und Befä­hi­gung, digitale Unter­stüt­zung für Führung und Kontrolle sowie größere Land­streit­kräfte mit allen Elementen, die für einen Kampf in großem Maßstab erfor­der­lich sind. Es handelt sich also um eine grund­le­gende Umge­stal­tung des Bünd­nisses, die bereits vor gut zehn Jahren begann und die fort­ge­setzt werden muss, da wir auf absehbare Zeit mit einem aggres­si­veren Russland, einem globalen Wett­be­werb der Groß­mächte und vielen anderen Bedro­hungen konfron­tiert sind.

Die NATO darf sich nicht auf ihren Lorbeeren ausruhen

Trotz dieser durchaus auch positiven Bilanz und den genannten Neue­rungen bleibt viel zu tun, damit unsere Sicher­heit und Freiheit gewähr­leistet bleiben: Zwar werden 2024 zum ersten Mal seit Jahr­zehnten eine Mehrheit von Mitglie­dern, nämlich 23, das Ziel erreichen, mindes­tens 2% des Brut­to­so­zi­al­pro­dukts in Vertei­di­gung zu inves­tieren. Dazu gehört zum ersten Mal seit Jahr­zehnten auch Deutsch­land. Auf dem NATO Gipfel 2014 in Wales, wo diese Richt­linie beschlossen wurde, waren es magere drei Staaten. Nun also sind es immerhin 23 – das heißt aber eben auch, dass neun unserer Mitglieder dieses Ziel selbst zehn Jahre nach dem Beschluss von Wales immer noch nicht erreichen! Und zwei dieser Staaten, Belgien und Kanada, verfehlen zudem das Ziel, 20% ihrer Ausgaben für Inves­ti­tionen in die Ausrüs­tung einzu­setzen. Im Falle Deutsch­lands ist das Einhalten des 2% Zieles über 2027 hinaus nicht gesichert. Wahl­aus­gänge, etwa in den USA, können eine weitere negative Dynamik erzeugen.

Zudem muss betont werden: Die Pläne mögen gut sein, doch wie viel Zeit haben wir zu ihrer Umsetzung?  Über den entschei­denden Faktor Zeit – präziser: über den enormen Zeitdruck – sagen sie nichts aus. Während­dessen führt Putin neben dem Krieg in der Ukraine einen Schat­ten­krieg gegen uns alle – und das jeden Tag. Fachleute gehen davon aus, dass Russland nach einem Abklingen der Kämpfe in der Ukraine zwischen sechs und acht Jahren benötigt, um seine Streit­kräfte voll aufzu­bauen. Das ist sehr wenig Zeit! Um Abschre­ckung dauerhaft glaubhaft und effektiv zu gewähren, und damit einen denkbaren Angriff im Keim zu ersticken, darf sich ein solches „window of oppor­tu­nity“ für Moskau gar erst nicht öffnen. Russland muss sehen und verstehen, dass ein Konflikt mit der NATO jederzeit und unter allen Umständen sinnlos ist. Es besteht also weiterhin drin­gender Hand­lungs­be­darf und zwar jetzt – und nicht erst in einigen Jahren!

Diese Pläne müssen, sollen sie erfolg­reich sein, Hand in Hand gehen mit weiteren lang­fris­tigen Inves­ti­tionen in unsere Sicherheit.

Entschei­dende Lücken in unserer Wehrhaftigkeit

Es bleibt nach drei Jahr­zehnten der Erosion unserer Wehr­haf­tig­keit viel zu tun. Zu den wich­tigsten Lücken gehören:

  • Deutlich höhere Vorräte bei Munition und Ersatz­teilen. Diese wiederum hängen davon ab, dass unsere Rüstungs­in­dus­trie ihre Produk­ti­ons­ka­pa­zi­täten erhöht. Auch wenn es hier Fort­schritte gibt, wie z.B. auf dem Washington Gipfel mit dem Verspre­chen zum Ausbau der Vertei­di­gungs­in­dus­trie – der Nach­hol­be­darf ist weiterhin groß.
  • Echte Erfolge bei der Verbes­se­rung der mili­tä­ri­schen Mobilität. Dafür müssten die Bünd­nis­partner ihre Abhän­gig­keit zum Beispiel bei der Infra­struktur insbe­son­dere von China verringern.
  • Zentraler, entschei­dender Punkt: Wir brauchen eine verstärkte Befä­hi­gung, insbe­son­dere im Bereich der Landstreitkräfte.

3. Ukraine

Der russische Krieg gegen die Ukraine war neben der kollek­tiven Vertei­di­gung der NATO eines der Haupt­themen auf dem Gipfel in Washington. Niemand weiß, wie lange der Krieg Russlands in der Ukraine noch dauern wird. Aber Präsident Zelensky hat recht, wenn er wie jüngst auf der Munich Security Confe­rence 2024 sagte: „Fragen Sie nicht, wie lange der Krieg in der Ukraine noch dauern wird. Fragen Sie sich, warum Putin ihn noch aufrecht­erhalten kann!“

Es wird auf dem Schlacht­feld in der Ukraine hart gekämpft. Viele in der NATO sind tief beein­druckt von der Entschlos­sen­heit, Beson­nen­heit und dem stra­te­gi­schen Weitblick der Ukrainer. Auch ich persön­lich teile diese Einschät­zung. Nach Jahren des uner­mess­li­chen Leids und der ständigen Zerstö­rung sind die Ukrai­ne­rinnen und Ukrainer in ihren Über­zeu­gungen so klar und fest wie eh und je. Sie leisten nicht nur tapferen Wider­stand gegen die Angriffe, sondern refor­mieren auch ihr Land und bauen es wieder auf.

Im Falle einer Nieder­lage der Ukraine droht weltweit mehr Instabilität

Die Ukrainer in ihrem Recht auf Selbst­ver­tei­di­gung zu unter­stützen, ist nicht nur moralisch und histo­risch richtig. Es ist auch mili­tä­risch und politisch das Richtige. Selbst wenn dies bedeutet, dass wir Risiken für unsere eigene Einsatz­be­reit­schaft eingehen oder vorüber­ge­hend die Fähig­keits­ziele der NATO nicht erreichen. NATO- Gene­ral­se­kretär Jens Stol­ten­berg sagte ganz zu Recht: „Bestände können ersetzt werden. Aber Menschen­leben, die verloren gehen, sind für immer verloren.“

Wenn die Ukraine diesen Krieg verliert, wird das nicht das Ende der Insta­bi­lität sein. Es wird der Beginn von viel mehr Insta­bi­lität sein. Denn auto­kra­ti­sche Führer weltweit werden eine erschre­ckende Lektion lernen: Dass rohe Gewalt nicht nur akzep­tiert, sondern sogar belohnt wird. Wir sehen schon jetzt Nachahmer wie beispiels­weise Vene­zuelas lang­le­bigen Diktator Nicolas Maduro, der droht, große Teile des benach­barten Guyanas zu annek­tieren. In vielerlei Hinsicht geht es in diesem Krieg nicht nur um Demo­kratie versus Diktatur. Es geht auch um Verant­wort­lich­keit versus Straf­lo­sig­keit. Und es liegt an uns allen, dafür zu sorgen, dass sich das Recht durchsetzt.

Der Gipfel in Washington 2024 hat auf der Ebene der prak­ti­schen Zusam­men­ar­beit einige Fort­schritte gebracht. Auf der Ebene der poli­ti­schen Bezie­hungen waren die Ergeb­nisse jedoch insgesamt enttäuschend.

Positive Bilanz hinsicht­lich der prak­ti­schen Zusammenarbeit

  • Man hat sich auf die NATO-Sicher­heits­un­ter­stüt­zung und ‑ausbil­dung für die Ukraine geeinigt (NATO Security Assis­tance and Training for Ukraine /​ NSATU). Das Ziel: Diesen Beistand weniger abhängig zu machen von wech­selnden Wahl­er­geb­nissen in den Mitglieds­län­dern. Das ist geschehen vor dem Hinter­grund einer möglichen Wieder­wahl von Donald Trump. Die NATO wird die Koor­di­nie­rung und Bereit­stel­lung des größten Teils der inter­na­tio­nalen Sicher­heits­un­ter­stüt­zung über­nehmen. Das Kommando wird von einem Drei-Sterne-General geleitet. Mit rund 700 Mitar­bei­tern wird die Arbeit von einem NATO-Haupt­quar­tier in Wiesbaden, Deutsch­land, und an logis­ti­schen Knoten­punkten im östlichen Teil des Bünd­nisses gesteuert.
  • Die Unter­stüt­zung soll über eine – wenn auch schwammig formu­lierte – Finan­zie­rungs­zu­sage länger­fristig stabi­li­siert Immerhin stellt man für das kommende Jahr eine Mindest­fi­nan­zie­rung von 40 Milli­arden Euro in Aussicht, gefolgt von halb­jähr­li­chen Berichten sowie einer Neube­wer­tung beim nächsten NATO-Gipfel in 2025.
  • Die Einrich­tung eines gemein­samen NATO-Ukraine-Zentrums für Analyse (Joint Analysis), Ausbil­dung (Training) sowie Weiter­bil­dung (Education Centre JATEC) wurde bestätigt. Dies ist ein wichtiger Pfeiler der prak­ti­schen Zusam­men­ar­beit, um bisherige Lehren aus Russlands Krieg gegen die Ukraine zu identifizieren.
  • Die Entschei­dung des Gene­ral­se­kre­tärs, einen hoch­ran­gingen NATO-Vertreter – oder eine Vertre­terin – in der Ukraine zu ernennen, wurde begrüßt.
  • Eine Reihe von Mitglie­dern haben endlich zusätz­liche Liefe­rungen der seit langem über­fäl­ligen Luft­ver­tei­di­gungs­sys­teme (Stichwort Patriots) zugesagt.
  • Außerdem koope­rieren wir mit der Ukraine im Rahmen des 2022 neu ausge­rich­teten Compre­hen­sive Assis­tance Package for Ukraine (CAP) an einer Reihe umfas­sender Reform­in­itia­tiven. So arbeiten wir mit der Ukraine im Rahmen einer soge­nannten „Inter­ope­ra­bi­lity Roadmap“. Diese Roadmap ist angelehnt an den Standards der NATO-Vertei­di­gungs­pla­nung. Im Kern geht es darum, die ukrai­ni­sche Vertei­di­gung, ihre Streit­kräfte, Ausrüs­tung, Standards etc. inter­ope­rabel mit den NATO-Mitglie­dern zu machen. Wir arbeiten mit der Ukraine auch an der umfäng­li­chen Reform des Beschaf­fungs­we­sens für die Verteidigung.
  • Und wir leisten seit 2022 dringende nicht mili­tä­ri­sche Unter­stüt­zung, z.B. durch Treib­stoff, Uniformen, medi­zi­ni­sche Hilfs­güter usw. – alles nur keine Waffen. Diese Unter­stüt­zung wird von den Mitglied­staaten selbst geleistet.

Mängel hinsicht­lich poli­ti­scher Beziehungen

  • In Bezug auf die poli­ti­schen Bezie­hungen bliebt es dann bei den 2024 Gipfel­be­schlüssen besonders vage. Zwar bemüht man sich nach Kräften, die verschie­denen Elemente der verstärkten Zusam­men­ar­beit mit der Ukraine als eine „Brücke zur NATO-Mitglied­schaft“ darzu­stellen. Nach langen Diskus­sionen einigte man sich auf den Begriff „unum­kehrbar“ als Merkmal des Weges der Ukraine hin zur voll­stän­digen euroat­lan­ti­schen Inte­gra­tion, einschließ­lich der NATO-Mitglied­schaft. Gleich­zeitig fehlte es aber wieder an Mut und Entschlos­sen­heit. So wurde kein Beginn von Beitritts­ver­hand­lungen mit der Ukraine beschlossen. Man hätte dies durchaus mit dem Verweis auf die ja bereits begon­nenen Beitritts­ver­hand­lungen der Ukraine mit der EU begründen können. Das Ergebnis solcher Beitritts­ver­hand­lungen wäre zudem weiter offen geblieben, denn deren Beginn sagt nichts über deren Abschluss oder Dauer aus. So aber hat man erneut eine Chance vertan, ein Zeichen poli­ti­scher Entschlos­sen­heit als klare Botschaft zu senden – sei es an die Ukraine oder an Putins Russland.
  • Insgesamt haben seit 2022 die USA, die EU, die NATO-Mitglied­staaten und ihre Partner die Ukraine seit dem totalen Krieg Russlands gegen das Land in noch nie dage­we­sener Weise unter­stützt. Das Ziel: Sicher­zu­stellen, dass die Ukraine ihr Recht auf terri­to­riale Inte­grität, Selbst­ver­tei­di­gung und Selbst­be­stim­mung wahr­nehmen kann. Leider haben aber auch eine ganze Reihe von Faktoren dazu geführt, dass unter dem Strich seit mehr als zwei Jahren diese Unter­stüt­zung charak­te­ri­siert ist von „Too little and too late“. Die Verzö­ge­rungen bei der Unter­stüt­zung und den Waffen­lie­fe­rungen haben schwer­wie­gende Folgen. Sie schwächen die Ukraine in ihrer Fähigkeit, sich zu vertei­digen und ihre Bewohner zu schützen. Wenn große Städte wie Charkiw oder Odessa immer noch nicht durch ausrei­chend Luft­ab­wehr zum Beispiel durch Patriot Systeme geschützt werden können, ist die Bevöl­ke­rung den russi­schen Angriffen weit­ge­hend schutzlos ausgeliefert.

Es braucht ein Ende des Zauderns

Fazit: Was wir bisher erlebt haben, ist bislang ein kollek­tives Versagen von mögli­cher­weise histo­ri­schem Ausmaß. Das gemein­same Brut­to­so­zi­al­pro­dukt der die Ukraine unter­stüt­zenden 56 Partner über­steigt das Brut­to­so­zi­al­pro­dukt Russlands expo­nen­tiell – und dennoch waren diese Länder in den letzten mehr als zwei Jahren nicht willens und/​oder nicht in der Lage, die Ukraine gemeinsam so zu unter­stützen, dass sie den Kampf gegen den Aggressor gewinnen kann.

Es ist daher von stra­te­gi­scher Bedeutung, diesen Ansatz endlich umzu­kehren. Die Ukraine führt einen exis­ten­zi­ellen Über­le­bens­kampf, und: Die Ukraine vertei­digt damit unsere Welt und unsere Werte – oft unter enormen Opfern. Wir müssen jede Inves­ti­tion in die Vertei­di­gung der Ukraine als eine Inves­ti­tion in die Vorwärts­ab­schre­ckung und die Vorwärts­ver­tei­di­gung der Alli­ierten sehen. Wir müssen endlich aufhören zu zaudern und der Ukraine die poli­ti­sche, mili­tä­ri­sche, wirt­schaft­liche und huma­ni­täre Hilfe leisten, die sie braucht, um sich durch­zu­setzen. Sollte Russland in der Ukraine gewinnen, wären die Kosten für alle Verbün­deten expo­nen­tiell höher. Wenn die Ukraine gewinnt, gewinnt sie nicht nur was sie verdient: die Zukunft als demo­kra­ti­sches, souve­ränes Land; es ist auch eine stra­te­gi­sche Verstär­kung für alle regel­ba­sierten, offenen Gesell­schaften – und der stärkste Antrieb für einen Regime­wechsel in Russland.

4. Russland

Die stra­te­gi­sche Orien­tie­rung der NATO wird bereits im Stra­te­gi­schen Konzept von 2022 vorge­geben: „Die Russische Föde­ra­tion ist die größte und unmit­tel­barste Bedrohung für die Sicher­heit der Bünd­nis­partner und für Frieden und Stabi­lität im euro-atlan­ti­schen Raum.“ Und dennoch: Bis zum heutigen Tag gibt es keine neue NATO-Russlandstrategie!

Eigene neue NATO-Strategie zu Russland fehlt

Was die NATO in den letzten gut zwei Jahren in Bezug auf Russland unter­nommen hat, war besten­falls Stückwerk. Unter dem Leitmotiv „Russland besser verstehen“ wurden eine Reihe von externen Experten einge­laden und Diskus­sionen geführt mit dem erklärten Ziel, Russland besser zu verstehen. Mehr aber auch nicht! Es fanden poli­ti­sche Konsul­ta­tionen statt, auch mit der EU. Und Russlands Politik und Akti­vi­täten wurden bewertet. Aber bisher war die NATO nicht in der Lage oder nicht willens, die Frage zu beant­worten: Welche Strategie sollten wir in den kommenden Jahren und Jahr­zehnten gegen ein revan­chis­ti­sches Regime verfolgen, dessen Aggres­sion eindeutig über die Ukraine hinaus­geht? Was ist unsere kollek­tive Antwort auf den Puti­nismus, für den die Zerschla­gung der Ukraine „nur“ ein Baustein im Kampf gegen Demo­kra­tien und offene Gesell­schaften ist – und damit alles, wofür die NATO steht?

Bremser einer neuen NATO-Russland-Strategie

Warum aber wird die Diskus­sion über eine Russland-Strategie nicht direkt ange­gangen? Die Stan­dard­ant­wort hierzu lautet, dass ein solches Unter­fangen zu riskant sei und wahr­schein­lich keine Ergeb­nisse bringen würde, schließ­lich seien die Bünd­nis­partner zu weit vonein­ander entfernt.

Zumindest aus der Gruppe der konser­va­tiven Stimmen war dies in der Regel auch immer dann das Haupt­ar­gu­ment, wenn es der NATO darum ging, ein neues Stra­te­gi­sches Konzept ausar­beiten zu wollen – oder dies tun zu müssen. Doch trotz dieser kriti­schen Stimmen hat die NATO genau das im Laufe der Jahr­zehnte erreicht: Sie hat sich auf neue Stra­te­gi­sche Konzepte geeinigt – der Beweis dafür, dass das Argument, eine stra­te­gi­sche Debatte zu vermeiden, schlichtweg falsch ist.

Vor diesem Erfah­rungs­hin­ter­grund lässt sich Opti­mismus schöpfen für die Ausar­bei­tung einer neuen Russland-Strategie, die wir dringend benötigen. Präziser: Es braucht eine Strategie der Eindäm­mung. Die Gipfel­er­klä­rung des Nord­at­lan­tik­rates vom 10. Juli 2024 lässt hoffen, dass sich nun etwas in diese Richtung bewegt: „Für unser nächstes Gipfel­treffen werden wir Empfeh­lungen für den stra­te­gi­schen Ansatz der NATO zu Russland erarbeiten.“

Russland ist uner­bitt­lich in seinem Streben nach Macht im Ausland, und nach Macht­er­halt im Inneren. Damit ist Putin auf einem Weg der immer größeren Zerstö­rung. Der Histo­riker und Russland-Kenner Karl Schlögel brachte es in einem Interview des Nach­rich­ten­ma­ga­zins Der Spiegel im März 2024 auf den Punkt: „Putins Losung ist: Nach mir die Sintflut.“

Es geht um Demokratie

Bei Russlands Krieg gegen die Ukraine ging es nie um eine echte Sicher­heits­be­dro­hung, die von der Ukraine oder der NATO ausging. Das ist das Putinsche Narrativ. Doch wäre es zutref­fend und ginge es Russland tatsäch­lich um eine Bedrohung durch die NATO, hätten die Russen ganz anders auf den Beitritt Finnlands reagiert. Dort haben sie gerade eine 900 Meilen lange Grenze zur NATO gewonnen. Haben Sie deshalb Soldaten an diese neue Grenze verlegt? Keinen einzigen!

Auch das macht deutlich: In diesem Krieg geht es um etwas Anderes. Um etwas, das viel mächtiger ist als jede Waffe der Welt: Es geht um Demo­kratie. Sollten die Menschen in der Ukraine echte demo­kra­ti­sche Rechte haben können, dann werden sich auch die Russinnen und Russen in Putins Reich bald nach echter Demo­kratie sehnen.

Ausgang des Kriegs in Ukraine entscheidet über weiteres Vorgehen Russlands

Dieser Krieg Russlands in der Ukraine und die gleich­zei­tige hybride Kriegs­füh­rung Russlands gegen Demo­kra­tien weltweit, bedeutet für die NATO in vielerlei Hinsicht Neuland. Und zugleich führt dieser neue Krieg die NATO zurück zu ihren Wurzeln. Denn die Allianz muss ihre Planung einer­seits auf die Abschre­ckung und Vertei­di­gung gegen die russi­schen Streit­kräfte in ihrer heutigen Form ausrichten. Und zugleich müssen wir auch zukünftig in der Lage sein, einem wieder erstarkten Russland zu begegnen. Die russische Führung hat keines ihrer stra­te­gi­schen Ziele in der Ukraine erreicht. Doch wir sollten ihre Fähigkeit, sich neu zu formieren, nicht unter­schätzen. Wie auch immer sich der Krieg in der Ukraine entwi­ckelt – wir werden weiterhin ein Problem mit Russland haben, so viel ist sicher. Denn die russische Führung wird entweder durch ihren Erfolg gestärkt. Oder aber – und das ist die andere Option: Sie wird durch ihr Scheitern frustriert.

5. NATO-Part­ner­schaften

Auch hier umreißt das 2022 Stra­te­gi­sche Konzept sehr zutref­fend die Heraus­for­de­rungen: „Auto­ri­täre Akteure stellen unsere Inter­essen, unsere Werte und unsere demo­kra­ti­sche Lebens­weise infrage.“ An anderer Stelle heißt es dort: „Konflikte, Fragi­lität und Insta­bi­lität in Afrika und im Nahen Osten haben unmit­tel­bare Auswir­kungen auf unsere Sicher­heit und die Sicher­heit unserer Partner.“ Und außerdem: „Die von der Volks­re­pu­blik China erklärten Ziele und ihre Politik des Zwangs stellen unsere Inter­essen, unsere Sicher­heit und unsere Werte vor Herausforderungen.“

Und in der Tat sind NATO-Part­ner­schaften über die Jahr­zehnte gewachsen – sowohl geogra­phisch als auch thema­tisch. Das ist auch die zukünf­tige Ausrichtung:

  • Wir verstärken unsere poli­ti­sche und prak­ti­sche Unter­stüt­zung für Bosnien und Herze­go­wina, die Republik Moldau, und bislang auch für Georgien, um zur Stärkung ihrer Wider­stands­fä­hig­keit und Vertei­di­gungs­fä­hig­keit beizutragen.
  • Die NATO-Mission in Irak setzt ihre wichtige Arbeit fort, und die Bünd­nis­partner unter­stützen Irak, Jordanien, Maure­ta­nien und Tunesien weiterhin beim Aufbau von Verteidigungskapazitäten.
  • Auf dem Gipfel im Juli haben wir insbe­son­dere die Zusam­men­ar­beit mit den Indo-Pazi­fi­schen Partnern Denn Sicher­heit ist nicht regional, sondern global. Was in Asien passiert, hat Bedeutung für unsere Sicher­heit. So wollen wir die Zusam­men­ar­beit z.B. im den Bereichen Cyber­si­cher­heit, Maritime Vertei­di­gung, neue Tech­no­lo­gien oder Desin­for­ma­tion ausbauen.

Aber wenn man das Partner-Tableau mal einer mehr stra­te­gi­schen Bewertung unter­zieht, ist das Bild doch recht gemischt. Es fehlen Ressourcen, sowohl finan­ziell als auch personell. Aber vor allem mangelt es am poli­ti­schen Willen der Mitglieder, die NATO-Part­ner­schaften wirklich effektiv als stra­te­gi­sches Instru­ment einzusetzen.

Poli­ti­sche Ebene

Zur Illus­trie­rung: Auf der poli­ti­schen Ebene haben wir bislang die Leit­li­nien des Stra­te­gi­schen Konzeptes von 2022 nicht in eine aktua­li­sierte Part­ner­schafts-Politik umgesetzt. Die derzeit nach wie vor gültige „Part­ner­ship Policy“, auch bekannt unter dem Namen „Berlin Policy“ stammt aus dem Jahr 2011. Das waren wirklich andere Zeiten! Es fehlt damit derzeit auch der wichtige Nexus zwischen dem Stra­te­gi­schen Konzept und dem schon erwähnten Konzept für die Abschre­ckung und Vertei­di­gung des Euro-Atlan­ti­schen Raumes (DDA). Das ist ein erheb­li­ches Manko, weil es die stra­te­gi­sche Ausrich­tung der NATO schwächt.

Prak­ti­sche Zusammenarbeit

Blicken wir konkret auf die Ebene der prak­ti­schen Zusam­men­ar­beit: Das Enga­ge­ment der NATO gegenüber dem globalen Süden ist bisher besten­falls bescheiden. Daran wird auch der neue Akti­ons­plan für den Globalen Süden, der auf dem Gipfel 2024 verab­schiedet wurde, nicht viel ändern. Von den 54 afri­ka­ni­schen Staaten arbeitet die NATO mit zwei Ländern, nämlich Tunesien und seit 2022 Maure­ta­nien inten­siver zusammen – und zwar haupt­säch­lich über soge­nannte Pakete zum Aufbau von Vertei­di­gungs­ka­pa­zi­täten (DCB). Von den derzeit 22 Mitglied­staaten der Arabi­schen Liga arbeitet die NATO über ähnliche DCB-Pakete, außer mit Maure­ta­nien, auch mit Irak und Jordanien zusammen.

Diese begrenzte Präsenz ist weit­ge­hend auf die „stra­te­gi­sche“ Auffas­sung einiger NATO-Staaten, insbe­son­dere Frank­reichs, zurück­zu­führen, wonach die Euro­päi­sche Union der wich­tigste Akteur bei der Einbin­dung Afrikas und des Nahen Ostens sein sollte, während die NATO als mehr oder weniger „giftig“ angesehen wird – obwohl viele Staaten der Region stark an einer Inten­si­vie­rung der Zusam­men­ar­beit inter­es­siert sind.

Ein wirklich effek­tives Enga­ge­ment würde jedoch voraus­setzen, dass endlich auf stra­te­gi­scher Ebene in die Krisen­prä­ven­tion und die koope­ra­tive Sicher­heit inves­tiert wird, und diese nicht als „Neben­tä­tig­keit“ einge­stuft werden, so wie es derzeit in der gesamten NATO der Fall ist, sowohl auf der zivilen als auch auf der mili­tä­ri­schen Seite der Organisation.

6. NATO „cuisine interne“

Wir haben über 75 Jahre zusam­men­ge­halten und sind entschlossen, dass auch in Zukunft zu tun. Aller­dings: Der Druck im Kessel wächst.

Mangel an poli­ti­scher Führung

Zunächst gibt es Heraus­for­de­rungen in Sachen poli­ti­sche Führung. Der NATO-Gipfel in Washington hatte Präsident Biden nicht so viel Rücken­wind verschafft wie gehofft. Ob die Demo­kratin Kamala Harris im November 2024 die Wahlen gewinnt, bleibt abzu­warten. Sollte Donald Trump nächster US-Präsident werden, stehen der NATO unruhige Zeiten bevor.

In Frank­reich haben die Wähle­rinnen und Wähler gerade noch einen Durch­marsch der extremen Rechten an die Macht verhin­dert. Präsident Macron steht nun eine kompli­zierte Regie­rungs­bil­dung mit gege­be­nen­falls wech­selnden Mehr­heiten ins Haus. In Groß­bri­tan­nien und den Nieder­landen müssen sich neue Regie­rungen einar­beiten. In dieser Gemenge­lage müsste eigent­lich vom deutschen Kanzler, als Vertreter der größten Volks­wirt­schaft unter den euro­päi­schen Verbün­deten, Führung geleistet werden. Bestellt ist die seitens der NATO eigent­lich schon seit langem, aber ob Olaf Scholz liefern will und kann, ist nicht absehbar.

Hybrider Krieg und Destabilisierung

Aber es gibt noch andere Risse im Gebälk: Im Laufe der Jahre, wenn nicht gar Jahr­zehnte, hat Russland das gesamte Spektrum hybrider Desta­bi­li­sie­rungs­in­stru­mente einge­setzt, um Demo­kra­tien, offene Gesell­schaften und die euro-atlan­ti­sche Sicher­heit zu unter­graben. Propa­ganda-Kampagnen haben die Spaltung unserer Gesell­schaften verstärkt. Und wir sehen die Auswir­kungen: Radikale Parteien, häufig im rechten Spektrum und mit Unter­stüt­zung aus Moskau, haben Zulauf. Cyber­an­griffe, Sabotage und vieles mehr unter­graben unsere offenen Staats- und Gesellschaftsmodelle.

Resilienz stärken

Die gute Nachricht ist trotz alledem: Wir haben es selbst in der Hand, das stärkste Bündnis der Welt zu stärken! Wir müssen unsere Resilienz weiter festigen und Einfalls­tore für Desta­bi­li­sie­rungen schließen. Dazu gehört beispiels­weise, dass wir unsere kriti­schen Infra­struk­turen wie Wasser- und Ener­gie­ver­sor­gung krisen­si­cher machen und vor denkbarer Sabotage schützen. Zur Resilienz im weiteren, poli­ti­schen Sinne, gehört aber auch eine Stärkung der verant­wor­tungs­vollen Staats­füh­rung. Bereits im Stra­te­gi­schen Konzept von 2022 Verpflichten sich die Alli­ierten, verant­wor­tungs­volle Staats­füh­rung („good gover­nance“) zu fördern. Aller­dings gibt es in dieser Hinsicht unter den NATO-Mitglie­dern zwar einiges Licht aber auch zahl­reiche Schatten, selbst bei denen, die bislang häufig Vorbild waren.

Dies ist zwar leichter gesagt als getan, aber die NATO hat mindes­tens vier Möglich­keiten, good gover­nance zu stärken: Sie könnte einen eigenen Mecha­nismus für verant­wor­tungs­volle Staats­füh­rung einrichten, indem sie im NATO-Haupt­quar­tier in Brüssel ein „Zentrum für demo­kra­ti­sche (oder gesell­schaft­liche) Resilienz“ aufbaut – ein Vorhaben, das von der Parla­men­ta­ri­schen Versamm­lung der NATO bereits seit einigen Jahren gefordert wird. Eine Alter­na­tive, die mögli­cher­weise weniger poli­ti­siert ist, könnte die Einrich­tung eines NATO-Exzel­lenz­zen­trums für verant­wor­tungs­volle Staats­füh­rung sein. Das Bündnis könnte auch in Erwägung ziehen, bei Ländern, die gegen die grund­le­genden Werte der Allianz nach­haltig verstoßen, einige der Inves­ti­tionen und Vorteile, die Staaten aus dem NATO-Programm für Sicher­heits­in­ves­ti­tionen ziehen können, zumindest vorüber­ge­hend zurück­zu­halten. Schließ­lich können die Staaten, die sowohl der NATO als auch der EU angehören, den Druck auf Mitglieder durch eine poten­zi­elle Anwendung von Artikel 7, d.h. der Suspen­si­ons­klausel des EU-Vertrags, verstärken, wenn ein Mitglied­staat ernsthaft und anhaltend gegen die Grund­sätze verstößt, auf denen die EU (und die NATO) beruhen.

Insgesamt müssen wir uns vor Augen halten, dass eine Kette nur so stark ist wie ihr schwächstes Glied. Die Dinge weiterhin schleifen lassen, wird die Risse im Gebälk nur erweitern.

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Es braucht kollek­tive Anstren­gung, um Freiheit und Demo­kratie zu bewahren

Die NATO-Bünd­nis­partner reprä­sen­tieren 50 Prozent der welt­weiten Wirt­schafts­macht und 50 Prozent der welt­weiten Mili­tär­macht. Wir müssen – und wir können! – unsere Abschre­ckung erhöhen. Um damit dafür zu sorgen, dass jeder Gegner zehnmal nachdenkt, bevor er uns anzu­greifen versucht. Aber dazu brauchen wir nicht nur einen gesamt­staat­li­chen Ansatz, wir brauchen auch eine gesamt­ge­sell­schaft­liche Anstren­gung. An dieser Stelle sei an Eisen­hower erinnert, der in seinem Brief an die Männer, die in der Normandie kämpften, schrieb: „Unsere Heimat­fronten haben uns eine über­wäl­ti­gende Über­le­gen­heit verschafft.“ Er sprach von der Zunahme der Soldaten: Zu Beginn des Krieges hatte die US-Armee weniger als 200.000 aktive Soldaten. Bis zum D‑Day aber waren rund elf Millionen Ameri­kaner auf die eine oder andere Weise an den Kriegs­an­stren­gungen beteiligt. Es waren nicht nur die Männer in Uniform, die den Krieg gewannen. Es waren auch die Männer und Frauen in den Fabriken. Es waren die Menschen, die Uniformen nähten und Konserven herstellten. Es war genau diese kollek­tive, gesamt­ge­sell­schaft­liche Anstren­gung, die schließ­lich zum Ergebnis, zum Sieg, führte.

In unserer heutigen neuen Ära der kollek­tiven Vertei­di­gung brauchen wir wieder eine solche gesamt­ge­sell­schaft­liche, eine kollek­tive Anstren­gung, um den Schild der Abschre­ckung zu stärken und einen Krieg zu verhin­dern: «Si vis pacem, para bellum.» Wenn du Frieden willst, bereite dich auf den Krieg vor. Denn die Stärkung der Abschre­ckung und die Aufsto­ckung unserer Vertei­di­gung sind der beste Weg, um das zu schützen, was uns allen lieb und teuer ist.

Die NATO hat die einzig­ar­tige Fähigkeit, den Krieg zu gewinnen, bevor der Krieg beginnt – und genau damit hat sie die Befä­hi­gung, den Frieden zu sichern. Dazu aber brauchen wir Politiker und Poli­ti­ke­rinnen, die mutige Entschei­dungen treffen und Klartext reden. Die „Zeiten­wende“ betrifft unser aller Leben. Frieden und Sicher­heit gibt es nicht mehr zum Spartarif.

Wir brauchen massive Inves­ti­tionen in unsere Wehr­haf­tig­keit: Sei es in den Schutz unserer Zivil­be­völ­ke­rung dadurch, dass öffent­liche Gebäude, wenn nötig, (wieder) als Bunker genutzt werden können, oder durch den Aufbau einer Infra­struktur, in der beispiels­weise Brücken stark genug sind, so dass schwere Panzer über sie rollen können. Aber vor allem brauchen wir mündige Bürge­rinnen und Bürger, die sich entschlossen dem inneren Erodieren unseres Gemein­we­sens entge­gen­stellen. Es braucht Menschen aus der Mitte unserer Gesell­schaft, die Radikale jeder Art in ihre Schranken weisen und leiden­schaft­lich das vertei­digen, was uns ausmacht: unsere Freiheit, unsere plura­lis­ti­sche, offene Gesell­schaft und ihre demo­kra­ti­schen Werte.

 

Die in diesem Beitrag zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind die der Verfas­serin und geben nicht unbedingt die der NATO oder der NATO-Verbün­deten wider.

 

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