75 Jahre NATO – eine kritische Zwischenbilanz

Ist die NATO im 75. Jahr ihres Bestehens vorbe­reitet, sich den vielfäl­tigen Heraus­for­de­rungen und neuen Bedro­hungen zu stellen? Ist sie auch in Zukunft in der Lage, unsere gut eine Milliarde Mitbürger zu schützen? Es wäre vielleicht verlo­ckend, diese Frage mit einem klaren Ja oder Nein zu beant­worten. Doch statt einfache Antworten zu liefern, möchte Dr. Gerlinde Niehus, Deputy Director, Defence and Security Coope­ration NATO mit ihrer Analyse zu einer kriti­schen Ausein­an­der­setzung beitragen und Zwischen­bilanz ziehen.

Für meine Analyse möchte ich folgende sechs Punkte genauer in den Fokus nehmen:

1. Die strate­gische Ausrichtung der NATO
2. Abschreckung/​ Vertei­digung
3. Ukraine
4. Russland
5. NATO Partnerschaften
6. NATO „cuisine interne“

1. Die strate­gische Ausrichtung der NATO

Insgesamt betrachtet ist die Allianz hier recht gut aufge­stellt. Wir haben – wenn auch mit einiger Verzö­gerung – in 2022 ein neues Strate­gi­sches Konzept verab­schiedet, das die große Marsch­richtung vorgibt. Eindeutig werden hier Russland und Terro­rismus als die beiden größten Bedro­hungen für unsere Sicherheit und unseren Frieden definiert: „Die Russische Föderation ist die bedeu­tendste und unmit­tel­barste Bedrohung für die Sicherheit der Bündnis­partner und für Frieden und Stabi­lität im euro-atlan­ti­schen Raum.“ Und weiter heißt es: „Terro­rismus in all seinen Formen und Ausprä­gungen ist die unmit­tel­barste asymme­trische Bedrohung für die Sicherheit unserer Bürger und für den inter­na­tio­nalen Frieden und Wohlstand.“

Neufor­mu­lierung dreier Kernaufgaben

Das Strate­gische Konzept definiert nach wie vor drei Haupt­auf­gaben für die NATO:  1.) Abschre­ckung und Vertei­digung, 2.) Krisen­prä­vention und ‑bewäl­tigung sowie 3.) koope­rative Sicherheit. Gleich­zeitig aber erfolgt eine deutliche Verschiebung der relativen Bedeutung dieser Kernauf­gaben, denn es wird eindeutig festge­halten, dass „diese sich ergänzen, um die kollektive Vertei­digung und Sicherheit aller Bündnis­partner zu gewähr­leisten.“ Zudem werden die drei Kernauf­gaben nun neu formuliert:

  • Im Bereich der Abschre­ckung und Vertei­digung geht die Allianz im Grundsatz weg von der ”Crisis Response“ und zurück zum Konzept der Vorwärts­ver­tei­digung („Forward Defence“), das die Vertei­di­gungs­stra­tegie bis Anfang der 90er Jahre prägte. Diese wurde jetzt angepasst an die neuen Heraus­for­de­rungen. Dabei ist das Thema Resilienz ein neuer und tragender Aspekt: „Wir werden darauf hinar­beiten, strate­gische Schwach­stellen und Abhän­gig­keiten zu identi­fi­zieren und zu mindern, auch in Bezug auf unsere kriti­schen Infra­struk­turen, Liefer­ketten und Gesundheitssysteme.“
  • Die frühere Kernaufgabe „Krisen­ma­nagement” wurde in „Krisen­prä­vention und ‑management” In diesem Sinne heißt es im Strate­gi­schen Konzept: „Prävention ist ein nachhal­tiger Weg, um zu Stabi­lität und Sicherheit der Verbün­deten beizu­tragen.” Darin spiegeln sich auch die Lehren aus drei Jahrzehnten Auslands­ein­sätze, unter anderem in Afgha­nistan, wider. Die Lektion, die wir gelernt haben, lautet also: Prävention ist besser (und billiger!) als Inter­vention. Inves­ti­tionen in eine solide Ausbildung und den Aufbau von Kapazi­täten mit und für die Partner sind daher von entschei­dender Bedeutung. Die Ambitionen der NATO in diesem Bereich sind gewachsen; leider folgen die Ressourcen nicht automatisch.
  • Ambitio­nierter wird auch die dritte Kernaufgabe der koope­ra­tiven Sicherheit und der Partner­schaften Dies geschieht mit spezi­fi­schen Hinweisen auf Länder, die eine Mitglied­schaft anstreben, wie die Ukraine und Georgien sowie Länder, die unter Desta­bi­li­sierung leiden, wie z.B. auf dem westlichen Balkan. Zudem wird die Zusam­men­arbeit mit gleich­ge­sinnten Partnern oder mit Regionen, die für das Bündnis von strate­gi­schem Interesse sind, inten­si­viert. Das schließt sowohl den Nahen Osten, Nordafrika und die Sahelzone mit ein, aber auch die Partner aus dem indo-pazifi­schen Raum, weil „Entwick­lungen in dieser Region die euro-atlan­tische Sicherheit direkt beein­flussen können.“

Strategie-Konzept von 2022: politisch moder­ni­sierte Form bekannter Strategie

Inter­es­san­ter­weise ist das Strate­gische Konzept von 2022 in gewisser Weise die nachge­holte politische Moder­ni­sierung der NATO Strategie: Bereits 2019 hatte sich die Mitglieder auf eine neue Militä­rische Strategie geeinigt. Deren Umsetzung begann ab 2020 in einem ersten wichtigen Schritt durch das Konzept für die Abschre­ckung und Vertei­digung des euro-atlan­ti­schen Raums (DDA). In beiden Grund­la­gen­do­ku­menten werden Russland und Terro­rismus als die größten Bedro­hungen definiert – so wie dann auch im Strate­gi­schen Konzept von 2022. Aller­dings wird es in den kommenden Jahren wohl immer deutlicher werden, dass der „China­faktor“ in allen drei Strate­gie­pa­pieren unter­re­prä­sen­tiert ist. Das wird die NATO früher oder später dazu veran­lassen, ihre strate­gische Ausrichtung neu zu justieren.

2. Abschre­ckung und Verteidigung

Die NATO wurde aus der Erkenntnis heraus geboren, dass die nordame­ri­ka­nische und die europäische Sicherheit untrennbar mitein­ander verknüpft sind; aus dem Wissen darum, dass wir nur gemeinsam, nicht vereinzelt, in der Lage sind, den stärksten Abschre­ckungs­schild zu schaffen, den die Welt je gesehen hat. Dieser Schild ist seit 75 Jahren die Grundlage für Frieden, Stabi­lität und Wohlstand in unseren Ländern.

Die Anfänge

Dies ist ein Erfolg, den nicht einmal die Gründer­väter der NATO vorher­sehen konnten. Als General Eisen­hower 1950 gebeten wurde, der erste Oberste Alliierte Befehls­haber Europas zu werden, war er bereits aus dem Militär­dienst ausge­schieden. Er war Präsident der Columbia University geworden und hatte seiner Frau versprochen, auf eine Farm in der Nähe von Gettysburg zu ziehen.

Als Präsident Truman mit dem Ansinnen an ihn herantrat, bat Eisen­hower diesen, es über einen Präsi­di­al­erlass zu erwirken – wahrscheinlich, damit er die Entscheidung zu Hause vor seiner Frau vertei­digen konnte! Eisen­hower sagte später zu einem Freund: „Sie wollen mich für die NATO, weil niemand sonst das will. Niemand glaubt, dass es funktio­nieren wird.“ Und auch der erste General­se­kretär der NATO, Lord Ismay, hat den Posten, den Churchill ihm anbot, anfangs nur wider­willig angenommen. Dieses Problem hat die NATO im 21. Jahrhundert nun ganz offen­sichtlich nicht mehr.

Zurück in eine Ära der kollek­tiven Verteidigung

In vielerlei Hinsicht hat die NATO die Jahrzehnte überlebt, weil es ihr immer gelungen ist, sich selbst neu zu erfinden und sich neuen Heraus­for­de­rungen anzupassen. Doch was heißt das für uns heute und in den kommenden Jahren, vielleicht Jahrzehnten?  Wir müssen erkennen: Wir befinden uns wieder in einer Ära der kollek­tiven Vertei­digung. Nach dem Ende des Kalten Krieges haben die NATO-Mitglieder über mehr als drei Jahrzehnte ihre kollektive Vertei­digung reduziert. Wir haben die Zahl der Truppen reduziert, deren Bereit­schaft verringert und den Charakter dieser Truppen verändert: Einst zur kollek­tiven Vertei­digung konzi­piert, mit schwerer Bewaffnung in Europa, wurden sie zu Krisen-Eingreif­truppen, die in Afgha­nistan, auf dem Balkan und anderswo Auslands­ein­sätze durchführen.

Neue militä­rische Anforderungen

Die neuen militä­ri­schen Anfor­de­rungen unter­scheiden sich dabei deutlich von den voran­ge­gan­genen: Der grund­le­gende Unter­schied zwischen Krisen­ma­nagement zum Beispiel in Afgha­nistan und kollek­tiver Vertei­digung der Mitglied­staaten besteht nun darin, dass nicht wir, sondern unsere Gegner – Russland und die Terror­gruppen – den Zeitplan bestimmen.

Seit der illegalen Annexion der Krim und dem Einmarsch Russlands in den östlichen Donbass hat sich ein grund­le­gender Wandel vollzogen. Wir mussten erkennen, dass die Möglichkeit eines Angriffs gegen uns wieder da war und es jederzeit zu einem Konflikt kommen kann. Um zu verhindern, dass ein solcher Konflikt tatsächlich ausbricht, müssen wir vorbe­reitet und wehrhaft sein!

Seitdem hat die NATO konti­nu­ierlich die größte Verstärkung unserer kollek­tiven Vertei­digung seit einer Generation vorge­nommen. Gleich­zeitig werden unsere Streit­kräfte neu ausge­richtet – von Truppen für Auslands­ein­sätze hin zu Streit­kräften für die Bündnis- und Landesverteidigung.

Eckpunkte einer neu aufge­stellten NATO

  • Die NATO hat seit 2014 zum ersten Mal multi­na­tionale Gefechts­ver­bände, kampf­be­reite Truppen, im östlichen Teil des Bündnisses statio­niert – zuerst in den balti­schen Ländern und Polen.
  • Nach der russi­schen Invasion in der Ukraine im Februar 2022 haben wir diese Gefechts­ver­bände verdoppelt durch Statio­nie­rungen in Bulgarien, Rumänien, Ungarn und der Slowakei und beschlossen, sie wenn nötig von Bataillons- auf Briga­de­größe aufzustocken.
  • Zudem wurde die Bereit­schaft der Truppen erhöht und neue Vertei­di­gungs­pläne mit viel höheren Ambitionen für Streit­kräfte und ihre Fähig­keiten vereinbart. Zur Umsetzung der Pläne versetzt die NATO deutlich mehr Solda­tinnen und Soldaten in hohe Bereit­schaft, unter­stützt durch umfang­reiche Luft- und Seestreit­kräfte. Tatsächlich haben die Bündnis­partner SACEUR (Supreme Allied Commander Europe, Alliierter Oberkom­man­die­render in Europa) so viele Truppen zur Verfügung gestellt wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Die Anfor­derung von 2022, rund 300.000 Soldaten in hoher Bereit­schaft zur Verfügung zu haben, um auf eine Krise zu reagieren, wurde 2024 deutlich übertroffen.  Derzeit hat die NATO rund 500 000 Solda­tinnen und Soldaten in hoher Bereitschaft.
  • Unsere Streit­kräfte üben in einem Ausmaß und mit einer Häufigkeit, wie es sie seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben hat, und diese Übungen werden weiter inten­si­viert. Bei der Übung „Steadfast Defender“ 2024 wurden rund 90.000 Soldaten durch Europa verlegt.

Konzept für die Abschre­ckung und Vertei­digung des euro-atlan­ti­schen Raums (DDA)

Der wichtigste Rahmen für die Umsetzung der neuen Militär­stra­tegie sind das Konzept für die Abschre­ckung und Vertei­digung des euro-atlan­ti­schen Raums von 2020 (DDA) und die damit verbun­denen Regio­nal­pläne. Die DDA gibt Leitlinien für 1.) Aktivi­täten der Abschre­ckung in Friedens­zeiten, 2.) für militä­rische Antworten einer militä­ri­schen Verstärkung in Krisen­zeiten, um Aggression zu verhindern, und 3.) für militä­rische Opera­tionen zur Vertei­digung aller Mitglieder im Falle eines Konfliktes.

Zur Ergänzung der DDA gibt es drei regionale Pläne: einen für den Norden, den Atlantik und die europäische Arktis; einen für die Mitte, der die baltische Region und Mittel­europa abdeckt; und einen für den Süden, der das Mittelmeer und das Schwarze Meer umfasst. In den Plänen wird beschrieben, wie die NATO sowohl Russland als auch terro­ris­tische Gruppen – die beiden Haupt­be­dro­hungen, die im Strate­gi­schen Konzept der NATO genannt werden – abschrecken und abwehren wollen.

Die Planung wird fortge­setzt, und die Bündnis­partner entwi­ckeln nun ein klares Bild davon, welche Rolle sie in den Plänen spielen werden. So hat SACEUR (Supreme Allied Commander Europe, Alliierter Oberkom­man­die­render in Europa) beispiels­weise den europäi­schen Landkom­mandos auf Korps-Ebene jetzt Rollen zugewiesen, wobei einige wie Polen, Finnland, Deutschland, die Nieder­lande und Spanien eine Rolle bei der Vorwärts­ver­tei­digung spielen, während andere wie Frank­reich, Italien und das Verei­nigte König­reich darauf vorbe­reitet sind, überall im Bündnis strate­gisch zu reagieren.

Bedarfe, Priori­täten, Aufgabenverteilung

Diese Struk­turen sind flexibel, aber wie im Kalten Krieg werden unsere Armeen wissen, wo, mit wem und wie sie – wenn nötig – kämpfen.  Davon hängt wiederum ab, wie sie ihre Streit­kräfte entwi­ckeln, wie sie ausbilden und mit welchen anderen Bündnis­partnern sie zusammenarbeiten.

Finnland und Schweden sind in unsere Pläne und Struk­turen integriert worden. Sie bringen geogra­fische Kohärenz und strate­gische Tiefe in den Norden des Bündnisses sowie eine hervor­ra­gende Mischung aus militä­ri­schen und zivilen Fähig­keiten. Wir haben auch wichtige Schritte unter­nommen, um zu verstehen, wo die Bündnis­partner inves­tieren müssen und wo die dringendsten Priori­täten liegen. Unsere Oberbe­fehls­haber haben den Bündnis­partnern ein detail­liertes und umfas­sendes Bild der Fähig­keiten vermittelt, die sie zur Gewähr­leistung der Abschre­ckung und zur Bekämpfung unserer Pläne benötigen.  Dieses Bedarfs­signal richtet sich danach, was die Streit­kräfte zur Abschre­ckung und – bei Bedarf – zur Vertei­digung benötigen. Es fordert außerdem die Bündnis­partner auf, sich für Innovation und Trans­for­mation zu engagieren. Dies geschieht insbe­sondere im Lichte dessen, was wir aus Russlands Krieg gegen die Ukraine lernen.

Diese Anfor­de­rungen werden in unserer Planung nach Priori­täten geordnet. Wir wissen, wo Inves­ti­tionen am dringendsten benötigt werden: Dies ist beispiels­weise der Fall bei mehr Vorräten von Munition und Ersatz­teilen, in den Bereichen Luftver­tei­digung, Langstre­cken­waffen, Logistik und Befähigung, digitale Unter­stützung für Führung und Kontrolle sowie größere Landstreit­kräfte mit allen Elementen, die für einen Kampf in großem Maßstab erfor­derlich sind. Es handelt sich also um eine grund­le­gende Umgestaltung des Bündnisses, die bereits vor gut zehn Jahren begann und die fortge­setzt werden muss, da wir auf absehbare Zeit mit einem aggres­si­veren Russland, einem globalen Wettbewerb der Großmächte und vielen anderen Bedro­hungen konfron­tiert sind.

Die NATO darf sich nicht auf ihren Lorbeeren ausruhen

Trotz dieser durchaus auch positiven Bilanz und den genannten Neuerungen bleibt viel zu tun, damit unsere Sicherheit und Freiheit gewähr­leistet bleiben: Zwar werden 2024 zum ersten Mal seit Jahrzehnten eine Mehrheit von Mitgliedern, nämlich 23, das Ziel erreichen, mindestens 2% des Brutto­so­zi­al­pro­dukts in Vertei­digung zu inves­tieren. Dazu gehört zum ersten Mal seit Jahrzehnten auch Deutschland. Auf dem NATO Gipfel 2014 in Wales, wo diese Richt­linie beschlossen wurde, waren es magere drei Staaten. Nun also sind es immerhin 23 – das heißt aber eben auch, dass neun unserer Mitglieder dieses Ziel selbst zehn Jahre nach dem Beschluss von Wales immer noch nicht erreichen! Und zwei dieser Staaten, Belgien und Kanada, verfehlen zudem das Ziel, 20% ihrer Ausgaben für Inves­ti­tionen in die Ausrüstung einzu­setzen. Im Falle Deutsch­lands ist das Einhalten des 2% Zieles über 2027 hinaus nicht gesichert. Wahlaus­gänge, etwa in den USA, können eine weitere negative Dynamik erzeugen.

Zudem muss betont werden: Die Pläne mögen gut sein, doch wie viel Zeit haben wir zu ihrer Umsetzung?  Über den entschei­denden Faktor Zeit – präziser: über den enormen Zeitdruck – sagen sie nichts aus. Während­dessen führt Putin neben dem Krieg in der Ukraine einen Schat­ten­krieg gegen uns alle – und das jeden Tag. Fachleute gehen davon aus, dass Russland nach einem Abklingen der Kämpfe in der Ukraine zwischen sechs und acht Jahren benötigt, um seine Streit­kräfte voll aufzu­bauen. Das ist sehr wenig Zeit! Um Abschre­ckung dauerhaft glaubhaft und effektiv zu gewähren, und damit einen denkbaren Angriff im Keim zu ersticken, darf sich ein solches „window of oppor­tunity“ für Moskau gar erst nicht öffnen. Russland muss sehen und verstehen, dass ein Konflikt mit der NATO jederzeit und unter allen Umständen sinnlos ist. Es besteht also weiterhin dringender Handlungs­bedarf und zwar jetzt – und nicht erst in einigen Jahren!

Diese Pläne müssen, sollen sie erfolg­reich sein, Hand in Hand gehen mit weiteren langfris­tigen Inves­ti­tionen in unsere Sicherheit.

Entschei­dende Lücken in unserer Wehrhaftigkeit

Es bleibt nach drei Jahrzehnten der Erosion unserer Wehrhaf­tigkeit viel zu tun. Zu den wichtigsten Lücken gehören:

  • Deutlich höhere Vorräte bei Munition und Ersatz­teilen. Diese wiederum hängen davon ab, dass unsere Rüstungs­in­dustrie ihre Produk­ti­ons­ka­pa­zi­täten erhöht. Auch wenn es hier Fortschritte gibt, wie z.B. auf dem Washington Gipfel mit dem Versprechen zum Ausbau der Vertei­di­gungs­in­dustrie – der Nachhol­bedarf ist weiterhin groß.
  • Echte Erfolge bei der Verbes­serung der militä­ri­schen Mobilität. Dafür müssten die Bündnis­partner ihre Abhän­gigkeit zum Beispiel bei der Infra­struktur insbe­sondere von China verringern.
  • Zentraler, entschei­dender Punkt: Wir brauchen eine verstärkte Befähigung, insbe­sondere im Bereich der Landstreitkräfte.

3. Ukraine

Der russische Krieg gegen die Ukraine war neben der kollek­tiven Vertei­digung der NATO eines der Haupt­themen auf dem Gipfel in Washington. Niemand weiß, wie lange der Krieg Russlands in der Ukraine noch dauern wird. Aber Präsident Zelensky hat recht, wenn er wie jüngst auf der Munich Security Confe­rence 2024 sagte: „Fragen Sie nicht, wie lange der Krieg in der Ukraine noch dauern wird. Fragen Sie sich, warum Putin ihn noch aufrecht­erhalten kann!“

Es wird auf dem Schlachtfeld in der Ukraine hart gekämpft. Viele in der NATO sind tief beein­druckt von der Entschlos­senheit, Beson­nenheit und dem strate­gi­schen Weitblick der Ukrainer. Auch ich persönlich teile diese Einschätzung. Nach Jahren des unermess­lichen Leids und der ständigen Zerstörung sind die Ukrai­ne­rinnen und Ukrainer in ihren Überzeu­gungen so klar und fest wie eh und je. Sie leisten nicht nur tapferen Wider­stand gegen die Angriffe, sondern refor­mieren auch ihr Land und bauen es wieder auf.

Im Falle einer Niederlage der Ukraine droht weltweit mehr Instabilität

Die Ukrainer in ihrem Recht auf Selbst­ver­tei­digung zu unter­stützen, ist nicht nur moralisch und histo­risch richtig. Es ist auch militä­risch und politisch das Richtige. Selbst wenn dies bedeutet, dass wir Risiken für unsere eigene Einsatz­be­reit­schaft eingehen oder vorüber­gehend die Fähig­keits­ziele der NATO nicht erreichen. NATO- General­se­kretär Jens Stoltenberg sagte ganz zu Recht: „Bestände können ersetzt werden. Aber Menschen­leben, die verloren gehen, sind für immer verloren.“

Wenn die Ukraine diesen Krieg verliert, wird das nicht das Ende der Insta­bi­lität sein. Es wird der Beginn von viel mehr Insta­bi­lität sein. Denn autokra­tische Führer weltweit werden eine erschre­ckende Lektion lernen: Dass rohe Gewalt nicht nur akzep­tiert, sondern sogar belohnt wird. Wir sehen schon jetzt Nachahmer wie beispiels­weise Venezuelas langle­bigen Diktator Nicolas Maduro, der droht, große Teile des benach­barten Guyanas zu annek­tieren. In vielerlei Hinsicht geht es in diesem Krieg nicht nur um Demokratie versus Diktatur. Es geht auch um Verant­wort­lichkeit versus Straf­lo­sigkeit. Und es liegt an uns allen, dafür zu sorgen, dass sich das Recht durchsetzt.

Der Gipfel in Washington 2024 hat auf der Ebene der prakti­schen Zusam­men­arbeit einige Fortschritte gebracht. Auf der Ebene der politi­schen Bezie­hungen waren die Ergeb­nisse jedoch insgesamt enttäuschend.

Positive Bilanz hinsichtlich der prakti­schen Zusammenarbeit

  • Man hat sich auf die NATO-Sicher­heits­un­ter­stützung und ‑ausbildung für die Ukraine geeinigt (NATO Security Assis­tance and Training for Ukraine /​ NSATU). Das Ziel: Diesen Beistand weniger abhängig zu machen von wechselnden Wahler­geb­nissen in den Mitglieds­ländern. Das ist geschehen vor dem Hinter­grund einer möglichen Wiederwahl von Donald Trump. Die NATO wird die Koordi­nierung und Bereit­stellung des größten Teils der inter­na­tio­nalen Sicher­heits­un­ter­stützung übernehmen. Das Kommando wird von einem Drei-Sterne-General geleitet. Mit rund 700 Mitar­beitern wird die Arbeit von einem NATO-Haupt­quartier in Wiesbaden, Deutschland, und an logis­ti­schen Knoten­punkten im östlichen Teil des Bündnisses gesteuert.
  • Die Unter­stützung soll über eine – wenn auch schwammig formu­lierte – Finan­zie­rungs­zusage länger­fristig stabi­li­siert Immerhin stellt man für das kommende Jahr eine Mindest­fi­nan­zierung von 40 Milli­arden Euro in Aussicht, gefolgt von halbjähr­lichen Berichten sowie einer Neube­wertung beim nächsten NATO-Gipfel in 2025.
  • Die Einrichtung eines gemein­samen NATO-Ukraine-Zentrums für Analyse (Joint Analysis), Ausbildung (Training) sowie Weiter­bildung (Education Centre JATEC) wurde bestätigt. Dies ist ein wichtiger Pfeiler der prakti­schen Zusam­men­arbeit, um bisherige Lehren aus Russlands Krieg gegen die Ukraine zu identifizieren.
  • Die Entscheidung des General­se­kretärs, einen hochran­gingen NATO-Vertreter – oder eine Vertre­terin – in der Ukraine zu ernennen, wurde begrüßt.
  • Eine Reihe von Mitgliedern haben endlich zusätz­liche Liefe­rungen der seit langem überfäl­ligen Luftver­tei­di­gungs­systeme (Stichwort Patriots) zugesagt.
  • Außerdem koope­rieren wir mit der Ukraine im Rahmen des 2022 neu ausge­rich­teten Compre­hensive Assis­tance Package for Ukraine (CAP) an einer Reihe umfas­sender Reform­in­itia­tiven. So arbeiten wir mit der Ukraine im Rahmen einer sogenannten „Inter­ope­ra­bility Roadmap“. Diese Roadmap ist angelehnt an den Standards der NATO-Vertei­di­gungs­planung. Im Kern geht es darum, die ukrai­nische Vertei­digung, ihre Streit­kräfte, Ausrüstung, Standards etc. inter­ope­rabel mit den NATO-Mitgliedern zu machen. Wir arbeiten mit der Ukraine auch an der umfäng­lichen Reform des Beschaf­fungs­wesens für die Verteidigung.
  • Und wir leisten seit 2022 dringende nicht militä­rische Unter­stützung, z.B. durch Treib­stoff, Uniformen, medizi­nische Hilfs­güter usw. – alles nur keine Waffen. Diese Unter­stützung wird von den Mitglied­staaten selbst geleistet.

Mängel hinsichtlich politi­scher Beziehungen

  • In Bezug auf die politi­schen Bezie­hungen bliebt es dann bei den 2024 Gipfel­be­schlüssen besonders vage. Zwar bemüht man sich nach Kräften, die verschie­denen Elemente der verstärkten Zusam­men­arbeit mit der Ukraine als eine „Brücke zur NATO-Mitglied­schaft“ darzu­stellen. Nach langen Diskus­sionen einigte man sich auf den Begriff „unumkehrbar“ als Merkmal des Weges der Ukraine hin zur vollstän­digen euroat­lan­ti­schen Integration, einschließlich der NATO-Mitglied­schaft. Gleich­zeitig fehlte es aber wieder an Mut und Entschlos­senheit. So wurde kein Beginn von Beitritts­ver­hand­lungen mit der Ukraine beschlossen. Man hätte dies durchaus mit dem Verweis auf die ja bereits begon­nenen Beitritts­ver­hand­lungen der Ukraine mit der EU begründen können. Das Ergebnis solcher Beitritts­ver­hand­lungen wäre zudem weiter offen geblieben, denn deren Beginn sagt nichts über deren Abschluss oder Dauer aus. So aber hat man erneut eine Chance vertan, ein Zeichen politi­scher Entschlos­senheit als klare Botschaft zu senden – sei es an die Ukraine oder an Putins Russland.
  • Insgesamt haben seit 2022 die USA, die EU, die NATO-Mitglied­staaten und ihre Partner die Ukraine seit dem totalen Krieg Russlands gegen das Land in noch nie dagewe­sener Weise unter­stützt. Das Ziel: Sicher­zu­stellen, dass die Ukraine ihr Recht auf terri­to­riale Integrität, Selbst­ver­tei­digung und Selbst­be­stimmung wahrnehmen kann. Leider haben aber auch eine ganze Reihe von Faktoren dazu geführt, dass unter dem Strich seit mehr als zwei Jahren diese Unter­stützung charak­te­ri­siert ist von „Too little and too late“. Die Verzö­ge­rungen bei der Unter­stützung und den Waffen­lie­fe­rungen haben schwer­wie­gende Folgen. Sie schwächen die Ukraine in ihrer Fähigkeit, sich zu vertei­digen und ihre Bewohner zu schützen. Wenn große Städte wie Charkiw oder Odessa immer noch nicht durch ausrei­chend Luftabwehr zum Beispiel durch Patriot Systeme geschützt werden können, ist die Bevöl­kerung den russi­schen Angriffen weitgehend schutzlos ausgeliefert.

Es braucht ein Ende des Zauderns

Fazit: Was wir bisher erlebt haben, ist bislang ein kollek­tives Versagen von mögli­cher­weise histo­ri­schem Ausmaß. Das gemeinsame Brutto­so­zi­al­produkt der die Ukraine unter­stüt­zenden 56 Partner übersteigt das Brutto­so­zi­al­produkt Russlands exponen­tiell – und dennoch waren diese Länder in den letzten mehr als zwei Jahren nicht willens und/​oder nicht in der Lage, die Ukraine gemeinsam so zu unter­stützen, dass sie den Kampf gegen den Aggressor gewinnen kann.

Es ist daher von strate­gi­scher Bedeutung, diesen Ansatz endlich umzukehren. Die Ukraine führt einen existen­zi­ellen Überle­bens­kampf, und: Die Ukraine verteidigt damit unsere Welt und unsere Werte – oft unter enormen Opfern. Wir müssen jede Inves­tition in die Vertei­digung der Ukraine als eine Inves­tition in die Vorwärts­ab­schre­ckung und die Vorwärts­ver­tei­digung der Alliierten sehen. Wir müssen endlich aufhören zu zaudern und der Ukraine die politische, militä­rische, wirtschaft­liche und humanitäre Hilfe leisten, die sie braucht, um sich durch­zu­setzen. Sollte Russland in der Ukraine gewinnen, wären die Kosten für alle Verbün­deten exponen­tiell höher. Wenn die Ukraine gewinnt, gewinnt sie nicht nur was sie verdient: die Zukunft als demokra­ti­sches, souve­ränes Land; es ist auch eine strate­gische Verstärkung für alle regel­ba­sierten, offenen Gesell­schaften – und der stärkste Antrieb für einen Regime­wechsel in Russland.

4. Russland

Die strate­gische Orien­tierung der NATO wird bereits im Strate­gi­schen Konzept von 2022 vorge­geben: „Die Russische Föderation ist die größte und unmit­tel­barste Bedrohung für die Sicherheit der Bündnis­partner und für Frieden und Stabi­lität im euro-atlan­ti­schen Raum.“ Und dennoch: Bis zum heutigen Tag gibt es keine neue NATO-Russlandstrategie!

Eigene neue NATO-Strategie zu Russland fehlt

Was die NATO in den letzten gut zwei Jahren in Bezug auf Russland unter­nommen hat, war besten­falls Stückwerk. Unter dem Leitmotiv „Russland besser verstehen“ wurden eine Reihe von externen Experten einge­laden und Diskus­sionen geführt mit dem erklärten Ziel, Russland besser zu verstehen. Mehr aber auch nicht! Es fanden politische Konsul­ta­tionen statt, auch mit der EU. Und Russlands Politik und Aktivi­täten wurden bewertet. Aber bisher war die NATO nicht in der Lage oder nicht willens, die Frage zu beant­worten: Welche Strategie sollten wir in den kommenden Jahren und Jahrzehnten gegen ein revan­chis­ti­sches Regime verfolgen, dessen Aggression eindeutig über die Ukraine hinausgeht? Was ist unsere kollektive Antwort auf den Putinismus, für den die Zerschlagung der Ukraine „nur“ ein Baustein im Kampf gegen Demokratien und offene Gesell­schaften ist – und damit alles, wofür die NATO steht?

Bremser einer neuen NATO-Russland-Strategie

Warum aber wird die Diskussion über eine Russland-Strategie nicht direkt angegangen? Die Standard­antwort hierzu lautet, dass ein solches Unter­fangen zu riskant sei und wahrscheinlich keine Ergeb­nisse bringen würde, schließlich seien die Bündnis­partner zu weit vonein­ander entfernt.

Zumindest aus der Gruppe der konser­va­tiven Stimmen war dies in der Regel auch immer dann das Haupt­ar­gument, wenn es der NATO darum ging, ein neues Strate­gi­sches Konzept ausar­beiten zu wollen – oder dies tun zu müssen. Doch trotz dieser kriti­schen Stimmen hat die NATO genau das im Laufe der Jahrzehnte erreicht: Sie hat sich auf neue Strate­gische Konzepte geeinigt – der Beweis dafür, dass das Argument, eine strate­gische Debatte zu vermeiden, schlichtweg falsch ist.

Vor diesem Erfah­rungs­hin­ter­grund lässt sich Optimismus schöpfen für die Ausar­beitung einer neuen Russland-Strategie, die wir dringend benötigen. Präziser: Es braucht eine Strategie der Eindämmung. Die Gipfel­er­klärung des Nordat­lan­tik­rates vom 10. Juli 2024 lässt hoffen, dass sich nun etwas in diese Richtung bewegt: „Für unser nächstes Gipfel­treffen werden wir Empfeh­lungen für den strate­gi­schen Ansatz der NATO zu Russland erarbeiten.“

Russland ist unerbittlich in seinem Streben nach Macht im Ausland, und nach Macht­erhalt im Inneren. Damit ist Putin auf einem Weg der immer größeren Zerstörung. Der Histo­riker und Russland-Kenner Karl Schlögel brachte es in einem Interview des Nachrich­ten­ma­gazins Der Spiegel im März 2024 auf den Punkt: „Putins Losung ist: Nach mir die Sintflut.“

Es geht um Demokratie

Bei Russlands Krieg gegen die Ukraine ging es nie um eine echte Sicher­heits­be­drohung, die von der Ukraine oder der NATO ausging. Das ist das Putinsche Narrativ. Doch wäre es zutreffend und ginge es Russland tatsächlich um eine Bedrohung durch die NATO, hätten die Russen ganz anders auf den Beitritt Finnlands reagiert. Dort haben sie gerade eine 900 Meilen lange Grenze zur NATO gewonnen. Haben Sie deshalb Soldaten an diese neue Grenze verlegt? Keinen einzigen!

Auch das macht deutlich: In diesem Krieg geht es um etwas Anderes. Um etwas, das viel mächtiger ist als jede Waffe der Welt: Es geht um Demokratie. Sollten die Menschen in der Ukraine echte demokra­tische Rechte haben können, dann werden sich auch die Russinnen und Russen in Putins Reich bald nach echter Demokratie sehnen.

Ausgang des Kriegs in Ukraine entscheidet über weiteres Vorgehen Russlands

Dieser Krieg Russlands in der Ukraine und die gleich­zeitige hybride Kriegs­führung Russlands gegen Demokratien weltweit, bedeutet für die NATO in vielerlei Hinsicht Neuland. Und zugleich führt dieser neue Krieg die NATO zurück zu ihren Wurzeln. Denn die Allianz muss ihre Planung einer­seits auf die Abschre­ckung und Vertei­digung gegen die russi­schen Streit­kräfte in ihrer heutigen Form ausrichten. Und zugleich müssen wir auch zukünftig in der Lage sein, einem wieder erstarkten Russland zu begegnen. Die russische Führung hat keines ihrer strate­gi­schen Ziele in der Ukraine erreicht. Doch wir sollten ihre Fähigkeit, sich neu zu formieren, nicht unter­schätzen. Wie auch immer sich der Krieg in der Ukraine entwi­ckelt – wir werden weiterhin ein Problem mit Russland haben, so viel ist sicher. Denn die russische Führung wird entweder durch ihren Erfolg gestärkt. Oder aber – und das ist die andere Option: Sie wird durch ihr Scheitern frustriert.

5. NATO-Partner­schaften

Auch hier umreißt das 2022 Strate­gische Konzept sehr zutreffend die Heraus­for­de­rungen: „Autoritäre Akteure stellen unsere Inter­essen, unsere Werte und unsere demokra­tische Lebens­weise infrage.“ An anderer Stelle heißt es dort: „Konflikte, Fragi­lität und Insta­bi­lität in Afrika und im Nahen Osten haben unmit­telbare Auswir­kungen auf unsere Sicherheit und die Sicherheit unserer Partner.“ Und außerdem: „Die von der Volks­re­publik China erklärten Ziele und ihre Politik des Zwangs stellen unsere Inter­essen, unsere Sicherheit und unsere Werte vor Herausforderungen.“

Und in der Tat sind NATO-Partner­schaften über die Jahrzehnte gewachsen – sowohl geogra­phisch als auch thema­tisch. Das ist auch die zukünftige Ausrichtung:

  • Wir verstärken unsere politische und praktische Unter­stützung für Bosnien und Herze­gowina, die Republik Moldau, und bislang auch für Georgien, um zur Stärkung ihrer Wider­stands­fä­higkeit und Vertei­di­gungs­fä­higkeit beizutragen.
  • Die NATO-Mission in Irak setzt ihre wichtige Arbeit fort, und die Bündnis­partner unter­stützen Irak, Jordanien, Maure­tanien und Tunesien weiterhin beim Aufbau von Verteidigungskapazitäten.
  • Auf dem Gipfel im Juli haben wir insbe­sondere die Zusam­men­arbeit mit den Indo-Pazifi­schen Partnern Denn Sicherheit ist nicht regional, sondern global. Was in Asien passiert, hat Bedeutung für unsere Sicherheit. So wollen wir die Zusam­men­arbeit z.B. im den Bereichen Cyber­si­cherheit, Maritime Vertei­digung, neue Techno­logien oder Desin­for­mation ausbauen.

Aber wenn man das Partner-Tableau mal einer mehr strate­gi­schen Bewertung unter­zieht, ist das Bild doch recht gemischt. Es fehlen Ressourcen, sowohl finan­ziell als auch personell. Aber vor allem mangelt es am politi­schen Willen der Mitglieder, die NATO-Partner­schaften wirklich effektiv als strate­gi­sches Instrument einzusetzen.

Politische Ebene

Zur Illus­trierung: Auf der politi­schen Ebene haben wir bislang die Leitlinien des Strate­gi­schen Konzeptes von 2022 nicht in eine aktua­li­sierte Partner­schafts-Politik umgesetzt. Die derzeit nach wie vor gültige „Partnership Policy“, auch bekannt unter dem Namen „Berlin Policy“ stammt aus dem Jahr 2011. Das waren wirklich andere Zeiten! Es fehlt damit derzeit auch der wichtige Nexus zwischen dem Strate­gi­schen Konzept und dem schon erwähnten Konzept für die Abschre­ckung und Vertei­digung des Euro-Atlan­ti­schen Raumes (DDA). Das ist ein erheb­liches Manko, weil es die strate­gische Ausrichtung der NATO schwächt.

Praktische Zusam­men­arbeit

Blicken wir konkret auf die Ebene der prakti­schen Zusam­men­arbeit: Das Engagement der NATO gegenüber dem globalen Süden ist bisher besten­falls bescheiden. Daran wird auch der neue Aktionsplan für den Globalen Süden, der auf dem Gipfel 2024 verab­schiedet wurde, nicht viel ändern. Von den 54 afrika­ni­schen Staaten arbeitet die NATO mit zwei Ländern, nämlich Tunesien und seit 2022 Maure­tanien inten­siver zusammen – und zwar haupt­sächlich über sogenannte Pakete zum Aufbau von Vertei­di­gungs­ka­pa­zi­täten (DCB). Von den derzeit 22 Mitglied­staaten der Arabi­schen Liga arbeitet die NATO über ähnliche DCB-Pakete, außer mit Maure­tanien, auch mit Irak und Jordanien zusammen.

Diese begrenzte Präsenz ist weitgehend auf die „strate­gische“ Auffassung einiger NATO-Staaten, insbe­sondere Frank­reichs, zurück­zu­führen, wonach die Europäische Union der wichtigste Akteur bei der Einbindung Afrikas und des Nahen Ostens sein sollte, während die NATO als mehr oder weniger „giftig“ angesehen wird – obwohl viele Staaten der Region stark an einer Inten­si­vierung der Zusam­men­arbeit inter­es­siert sind.

Ein wirklich effek­tives Engagement würde jedoch voraus­setzen, dass endlich auf strate­gi­scher Ebene in die Krisen­prä­vention und die koope­rative Sicherheit inves­tiert wird, und diese nicht als „Neben­tä­tigkeit“ einge­stuft werden, so wie es derzeit in der gesamten NATO der Fall ist, sowohl auf der zivilen als auch auf der militä­ri­schen Seite der Organisation.

6. NATO „cuisine interne“

Wir haben über 75 Jahre zusam­men­ge­halten und sind entschlossen, dass auch in Zukunft zu tun. Aller­dings: Der Druck im Kessel wächst.

Mangel an politi­scher Führung

Zunächst gibt es Heraus­for­de­rungen in Sachen politische Führung. Der NATO-Gipfel in Washington hatte Präsident Biden nicht so viel Rückenwind verschafft wie gehofft. Ob die Demokratin Kamala Harris im November 2024 die Wahlen gewinnt, bleibt abzuwarten. Sollte Donald Trump nächster US-Präsident werden, stehen der NATO unruhige Zeiten bevor.

In Frank­reich haben die Wähle­rinnen und Wähler gerade noch einen Durch­marsch der extremen Rechten an die Macht verhindert. Präsident Macron steht nun eine kompli­zierte Regie­rungs­bildung mit gegebe­nen­falls wechselnden Mehrheiten ins Haus. In Großbri­tannien und den Nieder­landen müssen sich neue Regie­rungen einar­beiten. In dieser Gemengelage müsste eigentlich vom deutschen Kanzler, als Vertreter der größten Volks­wirt­schaft unter den europäi­schen Verbün­deten, Führung geleistet werden. Bestellt ist die seitens der NATO eigentlich schon seit langem, aber ob Olaf Scholz liefern will und kann, ist nicht absehbar.

Hybrider Krieg und Destabilisierung

Aber es gibt noch andere Risse im Gebälk: Im Laufe der Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte, hat Russland das gesamte Spektrum hybrider Desta­bi­li­sie­rungs­in­stru­mente einge­setzt, um Demokratien, offene Gesell­schaften und die euro-atlan­tische Sicherheit zu unter­graben. Propa­ganda-Kampagnen haben die Spaltung unserer Gesell­schaften verstärkt. Und wir sehen die Auswir­kungen: Radikale Parteien, häufig im rechten Spektrum und mit Unter­stützung aus Moskau, haben Zulauf. Cyber­an­griffe, Sabotage und vieles mehr unter­graben unsere offenen Staats- und Gesellschaftsmodelle.

Resilienz stärken

Die gute Nachricht ist trotz alledem: Wir haben es selbst in der Hand, das stärkste Bündnis der Welt zu stärken! Wir müssen unsere Resilienz weiter festigen und Einfallstore für Desta­bi­li­sie­rungen schließen. Dazu gehört beispiels­weise, dass wir unsere kriti­schen Infra­struk­turen wie Wasser- und Energie­ver­sorgung krisen­sicher machen und vor denkbarer Sabotage schützen. Zur Resilienz im weiteren, politi­schen Sinne, gehört aber auch eine Stärkung der verant­wor­tungs­vollen Staats­führung. Bereits im Strate­gi­schen Konzept von 2022 Verpflichten sich die Alliierten, verant­wor­tungs­volle Staats­führung („good gover­nance“) zu fördern. Aller­dings gibt es in dieser Hinsicht unter den NATO-Mitgliedern zwar einiges Licht aber auch zahlreiche Schatten, selbst bei denen, die bislang häufig Vorbild waren.

Dies ist zwar leichter gesagt als getan, aber die NATO hat mindestens vier Möglich­keiten, good gover­nance zu stärken: Sie könnte einen eigenen Mecha­nismus für verant­wor­tungs­volle Staats­führung einrichten, indem sie im NATO-Haupt­quartier in Brüssel ein „Zentrum für demokra­tische (oder gesell­schaft­liche) Resilienz“ aufbaut – ein Vorhaben, das von der Parla­men­ta­ri­schen Versammlung der NATO bereits seit einigen Jahren gefordert wird. Eine Alter­native, die mögli­cher­weise weniger politi­siert ist, könnte die Einrichtung eines NATO-Exzel­lenz­zen­trums für verant­wor­tungs­volle Staats­führung sein. Das Bündnis könnte auch in Erwägung ziehen, bei Ländern, die gegen die grund­le­genden Werte der Allianz nachhaltig verstoßen, einige der Inves­ti­tionen und Vorteile, die Staaten aus dem NATO-Programm für Sicher­heits­in­ves­ti­tionen ziehen können, zumindest vorüber­gehend zurück­zu­halten. Schließlich können die Staaten, die sowohl der NATO als auch der EU angehören, den Druck auf Mitglieder durch eine poten­zielle Anwendung von Artikel 7, d.h. der Suspen­si­ons­klausel des EU-Vertrags, verstärken, wenn ein Mitglied­staat ernsthaft und anhaltend gegen die Grund­sätze verstößt, auf denen die EU (und die NATO) beruhen.

Insgesamt müssen wir uns vor Augen halten, dass eine Kette nur so stark ist wie ihr schwächstes Glied. Die Dinge weiterhin schleifen lassen, wird die Risse im Gebälk nur erweitern.

****

Es braucht kollektive Anstrengung, um Freiheit und Demokratie zu bewahren

Die NATO-Bündnis­partner reprä­sen­tieren 50 Prozent der weltweiten Wirtschafts­macht und 50 Prozent der weltweiten Militär­macht. Wir müssen – und wir können! – unsere Abschre­ckung erhöhen. Um damit dafür zu sorgen, dass jeder Gegner zehnmal nachdenkt, bevor er uns anzugreifen versucht. Aber dazu brauchen wir nicht nur einen gesamt­staat­lichen Ansatz, wir brauchen auch eine gesamt­ge­sell­schaft­liche Anstrengung. An dieser Stelle sei an Eisen­hower erinnert, der in seinem Brief an die Männer, die in der Normandie kämpften, schrieb: „Unsere Heimat­fronten haben uns eine überwäl­ti­gende Überle­genheit verschafft.“ Er sprach von der Zunahme der Soldaten: Zu Beginn des Krieges hatte die US-Armee weniger als 200.000 aktive Soldaten. Bis zum D‑Day aber waren rund elf Millionen Ameri­kaner auf die eine oder andere Weise an den Kriegs­an­stren­gungen beteiligt. Es waren nicht nur die Männer in Uniform, die den Krieg gewannen. Es waren auch die Männer und Frauen in den Fabriken. Es waren die Menschen, die Uniformen nähten und Konserven herstellten. Es war genau diese kollektive, gesamt­ge­sell­schaft­liche Anstrengung, die schließlich zum Ergebnis, zum Sieg, führte.

In unserer heutigen neuen Ära der kollek­tiven Vertei­digung brauchen wir wieder eine solche gesamt­ge­sell­schaft­liche, eine kollektive Anstrengung, um den Schild der Abschre­ckung zu stärken und einen Krieg zu verhindern: «Si vis pacem, para bellum.» Wenn du Frieden willst, bereite dich auf den Krieg vor. Denn die Stärkung der Abschre­ckung und die Aufsto­ckung unserer Vertei­digung sind der beste Weg, um das zu schützen, was uns allen lieb und teuer ist.

Die NATO hat die einzig­artige Fähigkeit, den Krieg zu gewinnen, bevor der Krieg beginnt – und genau damit hat sie die Befähigung, den Frieden zu sichern. Dazu aber brauchen wir Politiker und Politi­ke­rinnen, die mutige Entschei­dungen treffen und Klartext reden. Die „Zeiten­wende“ betrifft unser aller Leben. Frieden und Sicherheit gibt es nicht mehr zum Spartarif.

Wir brauchen massive Inves­ti­tionen in unsere Wehrhaf­tigkeit: Sei es in den Schutz unserer Zivil­be­völ­kerung dadurch, dass öffent­liche Gebäude, wenn nötig, (wieder) als Bunker genutzt werden können, oder durch den Aufbau einer Infra­struktur, in der beispiels­weise Brücken stark genug sind, so dass schwere Panzer über sie rollen können. Aber vor allem brauchen wir mündige Bürge­rinnen und Bürger, die sich entschlossen dem inneren Erodieren unseres Gemein­wesens entge­gen­stellen. Es braucht Menschen aus der Mitte unserer Gesell­schaft, die Radikale jeder Art in ihre Schranken weisen und leiden­schaftlich das vertei­digen, was uns ausmacht: unsere Freiheit, unsere plura­lis­tische, offene Gesell­schaft und ihre demokra­ti­schen Werte.

 

Die in diesem Beitrag zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind die der Verfas­serin und geben nicht unbedingt die der NATO oder der NATO-Verbün­deten wider.

 

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