75 Jahre NATO – eine kritische Zwischenbilanz
Ist die NATO im 75. Jahr ihres Bestehens vorbereitet, sich den vielfältigen Herausforderungen und neuen Bedrohungen zu stellen? Ist sie auch in Zukunft in der Lage, unsere gut eine Milliarde Mitbürger zu schützen? Es wäre vielleicht verlockend, diese Frage mit einem klaren Ja oder Nein zu beantworten. Doch statt einfache Antworten zu liefern, möchte Dr. Gerlinde Niehus, Deputy Director, Defence and Security Cooperation NATO mit ihrer Analyse zu einer kritischen Auseinandersetzung beitragen und Zwischenbilanz ziehen.
Für meine Analyse möchte ich folgende sechs Punkte genauer in den Fokus nehmen:
1. Die strategische Ausrichtung der NATO
2. Abschreckung/ Verteidigung
3. Ukraine
4. Russland
5. NATO Partnerschaften
6. NATO „cuisine interne“
1. Die strategische Ausrichtung der NATO
Insgesamt betrachtet ist die Allianz hier recht gut aufgestellt. Wir haben – wenn auch mit einiger Verzögerung – in 2022 ein neues Strategisches Konzept verabschiedet, das die große Marschrichtung vorgibt. Eindeutig werden hier Russland und Terrorismus als die beiden größten Bedrohungen für unsere Sicherheit und unseren Frieden definiert: „Die Russische Föderation ist die bedeutendste und unmittelbarste Bedrohung für die Sicherheit der Bündnispartner und für Frieden und Stabilität im euro-atlantischen Raum.“ Und weiter heißt es: „Terrorismus in all seinen Formen und Ausprägungen ist die unmittelbarste asymmetrische Bedrohung für die Sicherheit unserer Bürger und für den internationalen Frieden und Wohlstand.“
Neuformulierung dreier Kernaufgaben
Das Strategische Konzept definiert nach wie vor drei Hauptaufgaben für die NATO: 1.) Abschreckung und Verteidigung, 2.) Krisenprävention und ‑bewältigung sowie 3.) kooperative Sicherheit. Gleichzeitig aber erfolgt eine deutliche Verschiebung der relativen Bedeutung dieser Kernaufgaben, denn es wird eindeutig festgehalten, dass „diese sich ergänzen, um die kollektive Verteidigung und Sicherheit aller Bündnispartner zu gewährleisten.“ Zudem werden die drei Kernaufgaben nun neu formuliert:
- Im Bereich der Abschreckung und Verteidigung geht die Allianz im Grundsatz weg von der ”Crisis Response“ und zurück zum Konzept der Vorwärtsverteidigung („Forward Defence“), das die Verteidigungsstrategie bis Anfang der 90er Jahre prägte. Diese wurde jetzt angepasst an die neuen Herausforderungen. Dabei ist das Thema Resilienz ein neuer und tragender Aspekt: „Wir werden darauf hinarbeiten, strategische Schwachstellen und Abhängigkeiten zu identifizieren und zu mindern, auch in Bezug auf unsere kritischen Infrastrukturen, Lieferketten und Gesundheitssysteme.“
- Die frühere Kernaufgabe „Krisenmanagement” wurde in „Krisenprävention und ‑management” In diesem Sinne heißt es im Strategischen Konzept: „Prävention ist ein nachhaltiger Weg, um zu Stabilität und Sicherheit der Verbündeten beizutragen.” Darin spiegeln sich auch die Lehren aus drei Jahrzehnten Auslandseinsätze, unter anderem in Afghanistan, wider. Die Lektion, die wir gelernt haben, lautet also: Prävention ist besser (und billiger!) als Intervention. Investitionen in eine solide Ausbildung und den Aufbau von Kapazitäten mit und für die Partner sind daher von entscheidender Bedeutung. Die Ambitionen der NATO in diesem Bereich sind gewachsen; leider folgen die Ressourcen nicht automatisch.
- Ambitionierter wird auch die dritte Kernaufgabe der kooperativen Sicherheit und der Partnerschaften Dies geschieht mit spezifischen Hinweisen auf Länder, die eine Mitgliedschaft anstreben, wie die Ukraine und Georgien sowie Länder, die unter Destabilisierung leiden, wie z.B. auf dem westlichen Balkan. Zudem wird die Zusammenarbeit mit gleichgesinnten Partnern oder mit Regionen, die für das Bündnis von strategischem Interesse sind, intensiviert. Das schließt sowohl den Nahen Osten, Nordafrika und die Sahelzone mit ein, aber auch die Partner aus dem indo-pazifischen Raum, weil „Entwicklungen in dieser Region die euro-atlantische Sicherheit direkt beeinflussen können.“
Strategie-Konzept von 2022: politisch modernisierte Form bekannter Strategie
Interessanterweise ist das Strategische Konzept von 2022 in gewisser Weise die nachgeholte politische Modernisierung der NATO Strategie: Bereits 2019 hatte sich die Mitglieder auf eine neue Militärische Strategie geeinigt. Deren Umsetzung begann ab 2020 in einem ersten wichtigen Schritt durch das Konzept für die Abschreckung und Verteidigung des euro-atlantischen Raums (DDA). In beiden Grundlagendokumenten werden Russland und Terrorismus als die größten Bedrohungen definiert – so wie dann auch im Strategischen Konzept von 2022. Allerdings wird es in den kommenden Jahren wohl immer deutlicher werden, dass der „Chinafaktor“ in allen drei Strategiepapieren unterrepräsentiert ist. Das wird die NATO früher oder später dazu veranlassen, ihre strategische Ausrichtung neu zu justieren.
2. Abschreckung und Verteidigung
Die NATO wurde aus der Erkenntnis heraus geboren, dass die nordamerikanische und die europäische Sicherheit untrennbar miteinander verknüpft sind; aus dem Wissen darum, dass wir nur gemeinsam, nicht vereinzelt, in der Lage sind, den stärksten Abschreckungsschild zu schaffen, den die Welt je gesehen hat. Dieser Schild ist seit 75 Jahren die Grundlage für Frieden, Stabilität und Wohlstand in unseren Ländern.
Die Anfänge
Dies ist ein Erfolg, den nicht einmal die Gründerväter der NATO vorhersehen konnten. Als General Eisenhower 1950 gebeten wurde, der erste Oberste Alliierte Befehlshaber Europas zu werden, war er bereits aus dem Militärdienst ausgeschieden. Er war Präsident der Columbia University geworden und hatte seiner Frau versprochen, auf eine Farm in der Nähe von Gettysburg zu ziehen.
Als Präsident Truman mit dem Ansinnen an ihn herantrat, bat Eisenhower diesen, es über einen Präsidialerlass zu erwirken – wahrscheinlich, damit er die Entscheidung zu Hause vor seiner Frau verteidigen konnte! Eisenhower sagte später zu einem Freund: „Sie wollen mich für die NATO, weil niemand sonst das will. Niemand glaubt, dass es funktionieren wird.“ Und auch der erste Generalsekretär der NATO, Lord Ismay, hat den Posten, den Churchill ihm anbot, anfangs nur widerwillig angenommen. Dieses Problem hat die NATO im 21. Jahrhundert nun ganz offensichtlich nicht mehr.
Zurück in eine Ära der kollektiven Verteidigung
In vielerlei Hinsicht hat die NATO die Jahrzehnte überlebt, weil es ihr immer gelungen ist, sich selbst neu zu erfinden und sich neuen Herausforderungen anzupassen. Doch was heißt das für uns heute und in den kommenden Jahren, vielleicht Jahrzehnten? Wir müssen erkennen: Wir befinden uns wieder in einer Ära der kollektiven Verteidigung. Nach dem Ende des Kalten Krieges haben die NATO-Mitglieder über mehr als drei Jahrzehnte ihre kollektive Verteidigung reduziert. Wir haben die Zahl der Truppen reduziert, deren Bereitschaft verringert und den Charakter dieser Truppen verändert: Einst zur kollektiven Verteidigung konzipiert, mit schwerer Bewaffnung in Europa, wurden sie zu Krisen-Eingreiftruppen, die in Afghanistan, auf dem Balkan und anderswo Auslandseinsätze durchführen.
Neue militärische Anforderungen
Die neuen militärischen Anforderungen unterscheiden sich dabei deutlich von den vorangegangenen: Der grundlegende Unterschied zwischen Krisenmanagement zum Beispiel in Afghanistan und kollektiver Verteidigung der Mitgliedstaaten besteht nun darin, dass nicht wir, sondern unsere Gegner – Russland und die Terrorgruppen – den Zeitplan bestimmen.
Seit der illegalen Annexion der Krim und dem Einmarsch Russlands in den östlichen Donbass hat sich ein grundlegender Wandel vollzogen. Wir mussten erkennen, dass die Möglichkeit eines Angriffs gegen uns wieder da war und es jederzeit zu einem Konflikt kommen kann. Um zu verhindern, dass ein solcher Konflikt tatsächlich ausbricht, müssen wir vorbereitet und wehrhaft sein!
Seitdem hat die NATO kontinuierlich die größte Verstärkung unserer kollektiven Verteidigung seit einer Generation vorgenommen. Gleichzeitig werden unsere Streitkräfte neu ausgerichtet – von Truppen für Auslandseinsätze hin zu Streitkräften für die Bündnis- und Landesverteidigung.
Eckpunkte einer neu aufgestellten NATO
- Die NATO hat seit 2014 zum ersten Mal multinationale Gefechtsverbände, kampfbereite Truppen, im östlichen Teil des Bündnisses stationiert – zuerst in den baltischen Ländern und Polen.
- Nach der russischen Invasion in der Ukraine im Februar 2022 haben wir diese Gefechtsverbände verdoppelt durch Stationierungen in Bulgarien, Rumänien, Ungarn und der Slowakei und beschlossen, sie wenn nötig von Bataillons- auf Brigadegröße aufzustocken.
- Zudem wurde die Bereitschaft der Truppen erhöht und neue Verteidigungspläne mit viel höheren Ambitionen für Streitkräfte und ihre Fähigkeiten vereinbart. Zur Umsetzung der Pläne versetzt die NATO deutlich mehr Soldatinnen und Soldaten in hohe Bereitschaft, unterstützt durch umfangreiche Luft- und Seestreitkräfte. Tatsächlich haben die Bündnispartner SACEUR (Supreme Allied Commander Europe, Alliierter Oberkommandierender in Europa) so viele Truppen zur Verfügung gestellt wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Die Anforderung von 2022, rund 300.000 Soldaten in hoher Bereitschaft zur Verfügung zu haben, um auf eine Krise zu reagieren, wurde 2024 deutlich übertroffen. Derzeit hat die NATO rund 500 000 Soldatinnen und Soldaten in hoher Bereitschaft.
- Unsere Streitkräfte üben in einem Ausmaß und mit einer Häufigkeit, wie es sie seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben hat, und diese Übungen werden weiter intensiviert. Bei der Übung „Steadfast Defender“ 2024 wurden rund 90.000 Soldaten durch Europa verlegt.
Konzept für die Abschreckung und Verteidigung des euro-atlantischen Raums (DDA)
Der wichtigste Rahmen für die Umsetzung der neuen Militärstrategie sind das Konzept für die Abschreckung und Verteidigung des euro-atlantischen Raums von 2020 (DDA) und die damit verbundenen Regionalpläne. Die DDA gibt Leitlinien für 1.) Aktivitäten der Abschreckung in Friedenszeiten, 2.) für militärische Antworten einer militärischen Verstärkung in Krisenzeiten, um Aggression zu verhindern, und 3.) für militärische Operationen zur Verteidigung aller Mitglieder im Falle eines Konfliktes.
Zur Ergänzung der DDA gibt es drei regionale Pläne: einen für den Norden, den Atlantik und die europäische Arktis; einen für die Mitte, der die baltische Region und Mitteleuropa abdeckt; und einen für den Süden, der das Mittelmeer und das Schwarze Meer umfasst. In den Plänen wird beschrieben, wie die NATO sowohl Russland als auch terroristische Gruppen – die beiden Hauptbedrohungen, die im Strategischen Konzept der NATO genannt werden – abschrecken und abwehren wollen.
Die Planung wird fortgesetzt, und die Bündnispartner entwickeln nun ein klares Bild davon, welche Rolle sie in den Plänen spielen werden. So hat SACEUR (Supreme Allied Commander Europe, Alliierter Oberkommandierender in Europa) beispielsweise den europäischen Landkommandos auf Korps-Ebene jetzt Rollen zugewiesen, wobei einige wie Polen, Finnland, Deutschland, die Niederlande und Spanien eine Rolle bei der Vorwärtsverteidigung spielen, während andere wie Frankreich, Italien und das Vereinigte Königreich darauf vorbereitet sind, überall im Bündnis strategisch zu reagieren.
Bedarfe, Prioritäten, Aufgabenverteilung
Diese Strukturen sind flexibel, aber wie im Kalten Krieg werden unsere Armeen wissen, wo, mit wem und wie sie – wenn nötig – kämpfen. Davon hängt wiederum ab, wie sie ihre Streitkräfte entwickeln, wie sie ausbilden und mit welchen anderen Bündnispartnern sie zusammenarbeiten.
Finnland und Schweden sind in unsere Pläne und Strukturen integriert worden. Sie bringen geografische Kohärenz und strategische Tiefe in den Norden des Bündnisses sowie eine hervorragende Mischung aus militärischen und zivilen Fähigkeiten. Wir haben auch wichtige Schritte unternommen, um zu verstehen, wo die Bündnispartner investieren müssen und wo die dringendsten Prioritäten liegen. Unsere Oberbefehlshaber haben den Bündnispartnern ein detailliertes und umfassendes Bild der Fähigkeiten vermittelt, die sie zur Gewährleistung der Abschreckung und zur Bekämpfung unserer Pläne benötigen. Dieses Bedarfssignal richtet sich danach, was die Streitkräfte zur Abschreckung und – bei Bedarf – zur Verteidigung benötigen. Es fordert außerdem die Bündnispartner auf, sich für Innovation und Transformation zu engagieren. Dies geschieht insbesondere im Lichte dessen, was wir aus Russlands Krieg gegen die Ukraine lernen.
Diese Anforderungen werden in unserer Planung nach Prioritäten geordnet. Wir wissen, wo Investitionen am dringendsten benötigt werden: Dies ist beispielsweise der Fall bei mehr Vorräten von Munition und Ersatzteilen, in den Bereichen Luftverteidigung, Langstreckenwaffen, Logistik und Befähigung, digitale Unterstützung für Führung und Kontrolle sowie größere Landstreitkräfte mit allen Elementen, die für einen Kampf in großem Maßstab erforderlich sind. Es handelt sich also um eine grundlegende Umgestaltung des Bündnisses, die bereits vor gut zehn Jahren begann und die fortgesetzt werden muss, da wir auf absehbare Zeit mit einem aggressiveren Russland, einem globalen Wettbewerb der Großmächte und vielen anderen Bedrohungen konfrontiert sind.
Die NATO darf sich nicht auf ihren Lorbeeren ausruhen
Trotz dieser durchaus auch positiven Bilanz und den genannten Neuerungen bleibt viel zu tun, damit unsere Sicherheit und Freiheit gewährleistet bleiben: Zwar werden 2024 zum ersten Mal seit Jahrzehnten eine Mehrheit von Mitgliedern, nämlich 23, das Ziel erreichen, mindestens 2% des Bruttosozialprodukts in Verteidigung zu investieren. Dazu gehört zum ersten Mal seit Jahrzehnten auch Deutschland. Auf dem NATO Gipfel 2014 in Wales, wo diese Richtlinie beschlossen wurde, waren es magere drei Staaten. Nun also sind es immerhin 23 – das heißt aber eben auch, dass neun unserer Mitglieder dieses Ziel selbst zehn Jahre nach dem Beschluss von Wales immer noch nicht erreichen! Und zwei dieser Staaten, Belgien und Kanada, verfehlen zudem das Ziel, 20% ihrer Ausgaben für Investitionen in die Ausrüstung einzusetzen. Im Falle Deutschlands ist das Einhalten des 2% Zieles über 2027 hinaus nicht gesichert. Wahlausgänge, etwa in den USA, können eine weitere negative Dynamik erzeugen.
Zudem muss betont werden: Die Pläne mögen gut sein, doch wie viel Zeit haben wir zu ihrer Umsetzung? Über den entscheidenden Faktor Zeit – präziser: über den enormen Zeitdruck – sagen sie nichts aus. Währenddessen führt Putin neben dem Krieg in der Ukraine einen Schattenkrieg gegen uns alle – und das jeden Tag. Fachleute gehen davon aus, dass Russland nach einem Abklingen der Kämpfe in der Ukraine zwischen sechs und acht Jahren benötigt, um seine Streitkräfte voll aufzubauen. Das ist sehr wenig Zeit! Um Abschreckung dauerhaft glaubhaft und effektiv zu gewähren, und damit einen denkbaren Angriff im Keim zu ersticken, darf sich ein solches „window of opportunity“ für Moskau gar erst nicht öffnen. Russland muss sehen und verstehen, dass ein Konflikt mit der NATO jederzeit und unter allen Umständen sinnlos ist. Es besteht also weiterhin dringender Handlungsbedarf und zwar jetzt – und nicht erst in einigen Jahren!
Diese Pläne müssen, sollen sie erfolgreich sein, Hand in Hand gehen mit weiteren langfristigen Investitionen in unsere Sicherheit.
Entscheidende Lücken in unserer Wehrhaftigkeit
Es bleibt nach drei Jahrzehnten der Erosion unserer Wehrhaftigkeit viel zu tun. Zu den wichtigsten Lücken gehören:
- Deutlich höhere Vorräte bei Munition und Ersatzteilen. Diese wiederum hängen davon ab, dass unsere Rüstungsindustrie ihre Produktionskapazitäten erhöht. Auch wenn es hier Fortschritte gibt, wie z.B. auf dem Washington Gipfel mit dem Versprechen zum Ausbau der Verteidigungsindustrie – der Nachholbedarf ist weiterhin groß.
- Echte Erfolge bei der Verbesserung der militärischen Mobilität. Dafür müssten die Bündnispartner ihre Abhängigkeit zum Beispiel bei der Infrastruktur insbesondere von China verringern.
- Zentraler, entscheidender Punkt: Wir brauchen eine verstärkte Befähigung, insbesondere im Bereich der Landstreitkräfte.
3. Ukraine
Der russische Krieg gegen die Ukraine war neben der kollektiven Verteidigung der NATO eines der Hauptthemen auf dem Gipfel in Washington. Niemand weiß, wie lange der Krieg Russlands in der Ukraine noch dauern wird. Aber Präsident Zelensky hat recht, wenn er wie jüngst auf der Munich Security Conference 2024 sagte: „Fragen Sie nicht, wie lange der Krieg in der Ukraine noch dauern wird. Fragen Sie sich, warum Putin ihn noch aufrechterhalten kann!“
Es wird auf dem Schlachtfeld in der Ukraine hart gekämpft. Viele in der NATO sind tief beeindruckt von der Entschlossenheit, Besonnenheit und dem strategischen Weitblick der Ukrainer. Auch ich persönlich teile diese Einschätzung. Nach Jahren des unermesslichen Leids und der ständigen Zerstörung sind die Ukrainerinnen und Ukrainer in ihren Überzeugungen so klar und fest wie eh und je. Sie leisten nicht nur tapferen Widerstand gegen die Angriffe, sondern reformieren auch ihr Land und bauen es wieder auf.
Im Falle einer Niederlage der Ukraine droht weltweit mehr Instabilität
Die Ukrainer in ihrem Recht auf Selbstverteidigung zu unterstützen, ist nicht nur moralisch und historisch richtig. Es ist auch militärisch und politisch das Richtige. Selbst wenn dies bedeutet, dass wir Risiken für unsere eigene Einsatzbereitschaft eingehen oder vorübergehend die Fähigkeitsziele der NATO nicht erreichen. NATO- Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte ganz zu Recht: „Bestände können ersetzt werden. Aber Menschenleben, die verloren gehen, sind für immer verloren.“
Wenn die Ukraine diesen Krieg verliert, wird das nicht das Ende der Instabilität sein. Es wird der Beginn von viel mehr Instabilität sein. Denn autokratische Führer weltweit werden eine erschreckende Lektion lernen: Dass rohe Gewalt nicht nur akzeptiert, sondern sogar belohnt wird. Wir sehen schon jetzt Nachahmer wie beispielsweise Venezuelas langlebigen Diktator Nicolas Maduro, der droht, große Teile des benachbarten Guyanas zu annektieren. In vielerlei Hinsicht geht es in diesem Krieg nicht nur um Demokratie versus Diktatur. Es geht auch um Verantwortlichkeit versus Straflosigkeit. Und es liegt an uns allen, dafür zu sorgen, dass sich das Recht durchsetzt.
Der Gipfel in Washington 2024 hat auf der Ebene der praktischen Zusammenarbeit einige Fortschritte gebracht. Auf der Ebene der politischen Beziehungen waren die Ergebnisse jedoch insgesamt enttäuschend.
Positive Bilanz hinsichtlich der praktischen Zusammenarbeit
- Man hat sich auf die NATO-Sicherheitsunterstützung und ‑ausbildung für die Ukraine geeinigt (NATO Security Assistance and Training for Ukraine / NSATU). Das Ziel: Diesen Beistand weniger abhängig zu machen von wechselnden Wahlergebnissen in den Mitgliedsländern. Das ist geschehen vor dem Hintergrund einer möglichen Wiederwahl von Donald Trump. Die NATO wird die Koordinierung und Bereitstellung des größten Teils der internationalen Sicherheitsunterstützung übernehmen. Das Kommando wird von einem Drei-Sterne-General geleitet. Mit rund 700 Mitarbeitern wird die Arbeit von einem NATO-Hauptquartier in Wiesbaden, Deutschland, und an logistischen Knotenpunkten im östlichen Teil des Bündnisses gesteuert.
- Die Unterstützung soll über eine – wenn auch schwammig formulierte – Finanzierungszusage längerfristig stabilisiert Immerhin stellt man für das kommende Jahr eine Mindestfinanzierung von 40 Milliarden Euro in Aussicht, gefolgt von halbjährlichen Berichten sowie einer Neubewertung beim nächsten NATO-Gipfel in 2025.
- Die Einrichtung eines gemeinsamen NATO-Ukraine-Zentrums für Analyse (Joint Analysis), Ausbildung (Training) sowie Weiterbildung (Education Centre JATEC) wurde bestätigt. Dies ist ein wichtiger Pfeiler der praktischen Zusammenarbeit, um bisherige Lehren aus Russlands Krieg gegen die Ukraine zu identifizieren.
- Die Entscheidung des Generalsekretärs, einen hochrangingen NATO-Vertreter – oder eine Vertreterin – in der Ukraine zu ernennen, wurde begrüßt.
- Eine Reihe von Mitgliedern haben endlich zusätzliche Lieferungen der seit langem überfälligen Luftverteidigungssysteme (Stichwort Patriots) zugesagt.
- Außerdem kooperieren wir mit der Ukraine im Rahmen des 2022 neu ausgerichteten Comprehensive Assistance Package for Ukraine (CAP) an einer Reihe umfassender Reforminitiativen. So arbeiten wir mit der Ukraine im Rahmen einer sogenannten „Interoperability Roadmap“. Diese Roadmap ist angelehnt an den Standards der NATO-Verteidigungsplanung. Im Kern geht es darum, die ukrainische Verteidigung, ihre Streitkräfte, Ausrüstung, Standards etc. interoperabel mit den NATO-Mitgliedern zu machen. Wir arbeiten mit der Ukraine auch an der umfänglichen Reform des Beschaffungswesens für die Verteidigung.
- Und wir leisten seit 2022 dringende nicht militärische Unterstützung, z.B. durch Treibstoff, Uniformen, medizinische Hilfsgüter usw. – alles nur keine Waffen. Diese Unterstützung wird von den Mitgliedstaaten selbst geleistet.
Mängel hinsichtlich politischer Beziehungen
- In Bezug auf die politischen Beziehungen bliebt es dann bei den 2024 Gipfelbeschlüssen besonders vage. Zwar bemüht man sich nach Kräften, die verschiedenen Elemente der verstärkten Zusammenarbeit mit der Ukraine als eine „Brücke zur NATO-Mitgliedschaft“ darzustellen. Nach langen Diskussionen einigte man sich auf den Begriff „unumkehrbar“ als Merkmal des Weges der Ukraine hin zur vollständigen euroatlantischen Integration, einschließlich der NATO-Mitgliedschaft. Gleichzeitig fehlte es aber wieder an Mut und Entschlossenheit. So wurde kein Beginn von Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine beschlossen. Man hätte dies durchaus mit dem Verweis auf die ja bereits begonnenen Beitrittsverhandlungen der Ukraine mit der EU begründen können. Das Ergebnis solcher Beitrittsverhandlungen wäre zudem weiter offen geblieben, denn deren Beginn sagt nichts über deren Abschluss oder Dauer aus. So aber hat man erneut eine Chance vertan, ein Zeichen politischer Entschlossenheit als klare Botschaft zu senden – sei es an die Ukraine oder an Putins Russland.
- Insgesamt haben seit 2022 die USA, die EU, die NATO-Mitgliedstaaten und ihre Partner die Ukraine seit dem totalen Krieg Russlands gegen das Land in noch nie dagewesener Weise unterstützt. Das Ziel: Sicherzustellen, dass die Ukraine ihr Recht auf territoriale Integrität, Selbstverteidigung und Selbstbestimmung wahrnehmen kann. Leider haben aber auch eine ganze Reihe von Faktoren dazu geführt, dass unter dem Strich seit mehr als zwei Jahren diese Unterstützung charakterisiert ist von „Too little and too late“. Die Verzögerungen bei der Unterstützung und den Waffenlieferungen haben schwerwiegende Folgen. Sie schwächen die Ukraine in ihrer Fähigkeit, sich zu verteidigen und ihre Bewohner zu schützen. Wenn große Städte wie Charkiw oder Odessa immer noch nicht durch ausreichend Luftabwehr zum Beispiel durch Patriot Systeme geschützt werden können, ist die Bevölkerung den russischen Angriffen weitgehend schutzlos ausgeliefert.
Es braucht ein Ende des Zauderns
Fazit: Was wir bisher erlebt haben, ist bislang ein kollektives Versagen von möglicherweise historischem Ausmaß. Das gemeinsame Bruttosozialprodukt der die Ukraine unterstützenden 56 Partner übersteigt das Bruttosozialprodukt Russlands exponentiell – und dennoch waren diese Länder in den letzten mehr als zwei Jahren nicht willens und/oder nicht in der Lage, die Ukraine gemeinsam so zu unterstützen, dass sie den Kampf gegen den Aggressor gewinnen kann.
Es ist daher von strategischer Bedeutung, diesen Ansatz endlich umzukehren. Die Ukraine führt einen existenziellen Überlebenskampf, und: Die Ukraine verteidigt damit unsere Welt und unsere Werte – oft unter enormen Opfern. Wir müssen jede Investition in die Verteidigung der Ukraine als eine Investition in die Vorwärtsabschreckung und die Vorwärtsverteidigung der Alliierten sehen. Wir müssen endlich aufhören zu zaudern und der Ukraine die politische, militärische, wirtschaftliche und humanitäre Hilfe leisten, die sie braucht, um sich durchzusetzen. Sollte Russland in der Ukraine gewinnen, wären die Kosten für alle Verbündeten exponentiell höher. Wenn die Ukraine gewinnt, gewinnt sie nicht nur was sie verdient: die Zukunft als demokratisches, souveränes Land; es ist auch eine strategische Verstärkung für alle regelbasierten, offenen Gesellschaften – und der stärkste Antrieb für einen Regimewechsel in Russland.
4. Russland
Die strategische Orientierung der NATO wird bereits im Strategischen Konzept von 2022 vorgegeben: „Die Russische Föderation ist die größte und unmittelbarste Bedrohung für die Sicherheit der Bündnispartner und für Frieden und Stabilität im euro-atlantischen Raum.“ Und dennoch: Bis zum heutigen Tag gibt es keine neue NATO-Russlandstrategie!
Eigene neue NATO-Strategie zu Russland fehlt
Was die NATO in den letzten gut zwei Jahren in Bezug auf Russland unternommen hat, war bestenfalls Stückwerk. Unter dem Leitmotiv „Russland besser verstehen“ wurden eine Reihe von externen Experten eingeladen und Diskussionen geführt mit dem erklärten Ziel, Russland besser zu verstehen. Mehr aber auch nicht! Es fanden politische Konsultationen statt, auch mit der EU. Und Russlands Politik und Aktivitäten wurden bewertet. Aber bisher war die NATO nicht in der Lage oder nicht willens, die Frage zu beantworten: Welche Strategie sollten wir in den kommenden Jahren und Jahrzehnten gegen ein revanchistisches Regime verfolgen, dessen Aggression eindeutig über die Ukraine hinausgeht? Was ist unsere kollektive Antwort auf den Putinismus, für den die Zerschlagung der Ukraine „nur“ ein Baustein im Kampf gegen Demokratien und offene Gesellschaften ist – und damit alles, wofür die NATO steht?
Bremser einer neuen NATO-Russland-Strategie
Warum aber wird die Diskussion über eine Russland-Strategie nicht direkt angegangen? Die Standardantwort hierzu lautet, dass ein solches Unterfangen zu riskant sei und wahrscheinlich keine Ergebnisse bringen würde, schließlich seien die Bündnispartner zu weit voneinander entfernt.
Zumindest aus der Gruppe der konservativen Stimmen war dies in der Regel auch immer dann das Hauptargument, wenn es der NATO darum ging, ein neues Strategisches Konzept ausarbeiten zu wollen – oder dies tun zu müssen. Doch trotz dieser kritischen Stimmen hat die NATO genau das im Laufe der Jahrzehnte erreicht: Sie hat sich auf neue Strategische Konzepte geeinigt – der Beweis dafür, dass das Argument, eine strategische Debatte zu vermeiden, schlichtweg falsch ist.
Vor diesem Erfahrungshintergrund lässt sich Optimismus schöpfen für die Ausarbeitung einer neuen Russland-Strategie, die wir dringend benötigen. Präziser: Es braucht eine Strategie der Eindämmung. Die Gipfelerklärung des Nordatlantikrates vom 10. Juli 2024 lässt hoffen, dass sich nun etwas in diese Richtung bewegt: „Für unser nächstes Gipfeltreffen werden wir Empfehlungen für den strategischen Ansatz der NATO zu Russland erarbeiten.“
Russland ist unerbittlich in seinem Streben nach Macht im Ausland, und nach Machterhalt im Inneren. Damit ist Putin auf einem Weg der immer größeren Zerstörung. Der Historiker und Russland-Kenner Karl Schlögel brachte es in einem Interview des Nachrichtenmagazins Der Spiegel im März 2024 auf den Punkt: „Putins Losung ist: Nach mir die Sintflut.“
Es geht um Demokratie
Bei Russlands Krieg gegen die Ukraine ging es nie um eine echte Sicherheitsbedrohung, die von der Ukraine oder der NATO ausging. Das ist das Putinsche Narrativ. Doch wäre es zutreffend und ginge es Russland tatsächlich um eine Bedrohung durch die NATO, hätten die Russen ganz anders auf den Beitritt Finnlands reagiert. Dort haben sie gerade eine 900 Meilen lange Grenze zur NATO gewonnen. Haben Sie deshalb Soldaten an diese neue Grenze verlegt? Keinen einzigen!
Auch das macht deutlich: In diesem Krieg geht es um etwas Anderes. Um etwas, das viel mächtiger ist als jede Waffe der Welt: Es geht um Demokratie. Sollten die Menschen in der Ukraine echte demokratische Rechte haben können, dann werden sich auch die Russinnen und Russen in Putins Reich bald nach echter Demokratie sehnen.
Ausgang des Kriegs in Ukraine entscheidet über weiteres Vorgehen Russlands
Dieser Krieg Russlands in der Ukraine und die gleichzeitige hybride Kriegsführung Russlands gegen Demokratien weltweit, bedeutet für die NATO in vielerlei Hinsicht Neuland. Und zugleich führt dieser neue Krieg die NATO zurück zu ihren Wurzeln. Denn die Allianz muss ihre Planung einerseits auf die Abschreckung und Verteidigung gegen die russischen Streitkräfte in ihrer heutigen Form ausrichten. Und zugleich müssen wir auch zukünftig in der Lage sein, einem wieder erstarkten Russland zu begegnen. Die russische Führung hat keines ihrer strategischen Ziele in der Ukraine erreicht. Doch wir sollten ihre Fähigkeit, sich neu zu formieren, nicht unterschätzen. Wie auch immer sich der Krieg in der Ukraine entwickelt – wir werden weiterhin ein Problem mit Russland haben, so viel ist sicher. Denn die russische Führung wird entweder durch ihren Erfolg gestärkt. Oder aber – und das ist die andere Option: Sie wird durch ihr Scheitern frustriert.
5. NATO-Partnerschaften
Auch hier umreißt das 2022 Strategische Konzept sehr zutreffend die Herausforderungen: „Autoritäre Akteure stellen unsere Interessen, unsere Werte und unsere demokratische Lebensweise infrage.“ An anderer Stelle heißt es dort: „Konflikte, Fragilität und Instabilität in Afrika und im Nahen Osten haben unmittelbare Auswirkungen auf unsere Sicherheit und die Sicherheit unserer Partner.“ Und außerdem: „Die von der Volksrepublik China erklärten Ziele und ihre Politik des Zwangs stellen unsere Interessen, unsere Sicherheit und unsere Werte vor Herausforderungen.“
Und in der Tat sind NATO-Partnerschaften über die Jahrzehnte gewachsen – sowohl geographisch als auch thematisch. Das ist auch die zukünftige Ausrichtung:
- Wir verstärken unsere politische und praktische Unterstützung für Bosnien und Herzegowina, die Republik Moldau, und bislang auch für Georgien, um zur Stärkung ihrer Widerstandsfähigkeit und Verteidigungsfähigkeit beizutragen.
- Die NATO-Mission in Irak setzt ihre wichtige Arbeit fort, und die Bündnispartner unterstützen Irak, Jordanien, Mauretanien und Tunesien weiterhin beim Aufbau von Verteidigungskapazitäten.
- Auf dem Gipfel im Juli haben wir insbesondere die Zusammenarbeit mit den Indo-Pazifischen Partnern Denn Sicherheit ist nicht regional, sondern global. Was in Asien passiert, hat Bedeutung für unsere Sicherheit. So wollen wir die Zusammenarbeit z.B. im den Bereichen Cybersicherheit, Maritime Verteidigung, neue Technologien oder Desinformation ausbauen.
Aber wenn man das Partner-Tableau mal einer mehr strategischen Bewertung unterzieht, ist das Bild doch recht gemischt. Es fehlen Ressourcen, sowohl finanziell als auch personell. Aber vor allem mangelt es am politischen Willen der Mitglieder, die NATO-Partnerschaften wirklich effektiv als strategisches Instrument einzusetzen.
Politische Ebene
Zur Illustrierung: Auf der politischen Ebene haben wir bislang die Leitlinien des Strategischen Konzeptes von 2022 nicht in eine aktualisierte Partnerschafts-Politik umgesetzt. Die derzeit nach wie vor gültige „Partnership Policy“, auch bekannt unter dem Namen „Berlin Policy“ stammt aus dem Jahr 2011. Das waren wirklich andere Zeiten! Es fehlt damit derzeit auch der wichtige Nexus zwischen dem Strategischen Konzept und dem schon erwähnten Konzept für die Abschreckung und Verteidigung des Euro-Atlantischen Raumes (DDA). Das ist ein erhebliches Manko, weil es die strategische Ausrichtung der NATO schwächt.
Praktische Zusammenarbeit
Blicken wir konkret auf die Ebene der praktischen Zusammenarbeit: Das Engagement der NATO gegenüber dem globalen Süden ist bisher bestenfalls bescheiden. Daran wird auch der neue Aktionsplan für den Globalen Süden, der auf dem Gipfel 2024 verabschiedet wurde, nicht viel ändern. Von den 54 afrikanischen Staaten arbeitet die NATO mit zwei Ländern, nämlich Tunesien und seit 2022 Mauretanien intensiver zusammen – und zwar hauptsächlich über sogenannte Pakete zum Aufbau von Verteidigungskapazitäten (DCB). Von den derzeit 22 Mitgliedstaaten der Arabischen Liga arbeitet die NATO über ähnliche DCB-Pakete, außer mit Mauretanien, auch mit Irak und Jordanien zusammen.
Diese begrenzte Präsenz ist weitgehend auf die „strategische“ Auffassung einiger NATO-Staaten, insbesondere Frankreichs, zurückzuführen, wonach die Europäische Union der wichtigste Akteur bei der Einbindung Afrikas und des Nahen Ostens sein sollte, während die NATO als mehr oder weniger „giftig“ angesehen wird – obwohl viele Staaten der Region stark an einer Intensivierung der Zusammenarbeit interessiert sind.
Ein wirklich effektives Engagement würde jedoch voraussetzen, dass endlich auf strategischer Ebene in die Krisenprävention und die kooperative Sicherheit investiert wird, und diese nicht als „Nebentätigkeit“ eingestuft werden, so wie es derzeit in der gesamten NATO der Fall ist, sowohl auf der zivilen als auch auf der militärischen Seite der Organisation.
6. NATO „cuisine interne“
Wir haben über 75 Jahre zusammengehalten und sind entschlossen, dass auch in Zukunft zu tun. Allerdings: Der Druck im Kessel wächst.
Mangel an politischer Führung
Zunächst gibt es Herausforderungen in Sachen politische Führung. Der NATO-Gipfel in Washington hatte Präsident Biden nicht so viel Rückenwind verschafft wie gehofft. Ob die Demokratin Kamala Harris im November 2024 die Wahlen gewinnt, bleibt abzuwarten. Sollte Donald Trump nächster US-Präsident werden, stehen der NATO unruhige Zeiten bevor.
In Frankreich haben die Wählerinnen und Wähler gerade noch einen Durchmarsch der extremen Rechten an die Macht verhindert. Präsident Macron steht nun eine komplizierte Regierungsbildung mit gegebenenfalls wechselnden Mehrheiten ins Haus. In Großbritannien und den Niederlanden müssen sich neue Regierungen einarbeiten. In dieser Gemengelage müsste eigentlich vom deutschen Kanzler, als Vertreter der größten Volkswirtschaft unter den europäischen Verbündeten, Führung geleistet werden. Bestellt ist die seitens der NATO eigentlich schon seit langem, aber ob Olaf Scholz liefern will und kann, ist nicht absehbar.
Hybrider Krieg und Destabilisierung
Aber es gibt noch andere Risse im Gebälk: Im Laufe der Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte, hat Russland das gesamte Spektrum hybrider Destabilisierungsinstrumente eingesetzt, um Demokratien, offene Gesellschaften und die euro-atlantische Sicherheit zu untergraben. Propaganda-Kampagnen haben die Spaltung unserer Gesellschaften verstärkt. Und wir sehen die Auswirkungen: Radikale Parteien, häufig im rechten Spektrum und mit Unterstützung aus Moskau, haben Zulauf. Cyberangriffe, Sabotage und vieles mehr untergraben unsere offenen Staats- und Gesellschaftsmodelle.
Resilienz stärken
Die gute Nachricht ist trotz alledem: Wir haben es selbst in der Hand, das stärkste Bündnis der Welt zu stärken! Wir müssen unsere Resilienz weiter festigen und Einfallstore für Destabilisierungen schließen. Dazu gehört beispielsweise, dass wir unsere kritischen Infrastrukturen wie Wasser- und Energieversorgung krisensicher machen und vor denkbarer Sabotage schützen. Zur Resilienz im weiteren, politischen Sinne, gehört aber auch eine Stärkung der verantwortungsvollen Staatsführung. Bereits im Strategischen Konzept von 2022 Verpflichten sich die Alliierten, verantwortungsvolle Staatsführung („good governance“) zu fördern. Allerdings gibt es in dieser Hinsicht unter den NATO-Mitgliedern zwar einiges Licht aber auch zahlreiche Schatten, selbst bei denen, die bislang häufig Vorbild waren.
Dies ist zwar leichter gesagt als getan, aber die NATO hat mindestens vier Möglichkeiten, good governance zu stärken: Sie könnte einen eigenen Mechanismus für verantwortungsvolle Staatsführung einrichten, indem sie im NATO-Hauptquartier in Brüssel ein „Zentrum für demokratische (oder gesellschaftliche) Resilienz“ aufbaut – ein Vorhaben, das von der Parlamentarischen Versammlung der NATO bereits seit einigen Jahren gefordert wird. Eine Alternative, die möglicherweise weniger politisiert ist, könnte die Einrichtung eines NATO-Exzellenzzentrums für verantwortungsvolle Staatsführung sein. Das Bündnis könnte auch in Erwägung ziehen, bei Ländern, die gegen die grundlegenden Werte der Allianz nachhaltig verstoßen, einige der Investitionen und Vorteile, die Staaten aus dem NATO-Programm für Sicherheitsinvestitionen ziehen können, zumindest vorübergehend zurückzuhalten. Schließlich können die Staaten, die sowohl der NATO als auch der EU angehören, den Druck auf Mitglieder durch eine potenzielle Anwendung von Artikel 7, d.h. der Suspensionsklausel des EU-Vertrags, verstärken, wenn ein Mitgliedstaat ernsthaft und anhaltend gegen die Grundsätze verstößt, auf denen die EU (und die NATO) beruhen.
Insgesamt müssen wir uns vor Augen halten, dass eine Kette nur so stark ist wie ihr schwächstes Glied. Die Dinge weiterhin schleifen lassen, wird die Risse im Gebälk nur erweitern.
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Es braucht kollektive Anstrengung, um Freiheit und Demokratie zu bewahren
Die NATO-Bündnispartner repräsentieren 50 Prozent der weltweiten Wirtschaftsmacht und 50 Prozent der weltweiten Militärmacht. Wir müssen – und wir können! – unsere Abschreckung erhöhen. Um damit dafür zu sorgen, dass jeder Gegner zehnmal nachdenkt, bevor er uns anzugreifen versucht. Aber dazu brauchen wir nicht nur einen gesamtstaatlichen Ansatz, wir brauchen auch eine gesamtgesellschaftliche Anstrengung. An dieser Stelle sei an Eisenhower erinnert, der in seinem Brief an die Männer, die in der Normandie kämpften, schrieb: „Unsere Heimatfronten haben uns eine überwältigende Überlegenheit verschafft.“ Er sprach von der Zunahme der Soldaten: Zu Beginn des Krieges hatte die US-Armee weniger als 200.000 aktive Soldaten. Bis zum D‑Day aber waren rund elf Millionen Amerikaner auf die eine oder andere Weise an den Kriegsanstrengungen beteiligt. Es waren nicht nur die Männer in Uniform, die den Krieg gewannen. Es waren auch die Männer und Frauen in den Fabriken. Es waren die Menschen, die Uniformen nähten und Konserven herstellten. Es war genau diese kollektive, gesamtgesellschaftliche Anstrengung, die schließlich zum Ergebnis, zum Sieg, führte.
In unserer heutigen neuen Ära der kollektiven Verteidigung brauchen wir wieder eine solche gesamtgesellschaftliche, eine kollektive Anstrengung, um den Schild der Abschreckung zu stärken und einen Krieg zu verhindern: «Si vis pacem, para bellum.» Wenn du Frieden willst, bereite dich auf den Krieg vor. Denn die Stärkung der Abschreckung und die Aufstockung unserer Verteidigung sind der beste Weg, um das zu schützen, was uns allen lieb und teuer ist.
Die NATO hat die einzigartige Fähigkeit, den Krieg zu gewinnen, bevor der Krieg beginnt – und genau damit hat sie die Befähigung, den Frieden zu sichern. Dazu aber brauchen wir Politiker und Politikerinnen, die mutige Entscheidungen treffen und Klartext reden. Die „Zeitenwende“ betrifft unser aller Leben. Frieden und Sicherheit gibt es nicht mehr zum Spartarif.
Wir brauchen massive Investitionen in unsere Wehrhaftigkeit: Sei es in den Schutz unserer Zivilbevölkerung dadurch, dass öffentliche Gebäude, wenn nötig, (wieder) als Bunker genutzt werden können, oder durch den Aufbau einer Infrastruktur, in der beispielsweise Brücken stark genug sind, so dass schwere Panzer über sie rollen können. Aber vor allem brauchen wir mündige Bürgerinnen und Bürger, die sich entschlossen dem inneren Erodieren unseres Gemeinwesens entgegenstellen. Es braucht Menschen aus der Mitte unserer Gesellschaft, die Radikale jeder Art in ihre Schranken weisen und leidenschaftlich das verteidigen, was uns ausmacht: unsere Freiheit, unsere pluralistische, offene Gesellschaft und ihre demokratischen Werte.
Die in diesem Beitrag zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind die der Verfasserin und geben nicht unbedingt die der NATO oder der NATO-Verbündeten wider.
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