Bericht aus Wien: Stimmen und Stimmung – Nach der Nationalratswahl

Wahlplakat Sebastian Kurz Beitragsbild
Foto: Wolfgang Bayer (Flickr)

Fred Luks berichtet einmal im Monat für LibMod aus der öster­rei­chi­schen Hauptstadt.

Grüß Gott aus Wien!

Folgt man Karl Kraus, ist Öster­reich eine „Versuchs­station des Weltun­ter­gangs“. Nun, man kann nicht behaupten, dass die Geschichte Herrn Kraus bisher widerlegt hätte. Ob die aktuelle Lage in diese Richtung zeigt, werden wir sehen.

Sicher ist: Es gab eine Natio­nal­ratswahl – nach einem selten brutalen Wahlkampf, in dem Dirty Campaigning und gegen­seitige Vorwürfe politi­schen Analpha­be­tentums an der Tages­ordnung waren. Die christlich-soziale Öster­rei­chische Volks­partei ist mit starken Stimmen­zu­wächsen vor den Sozial­de­mo­kraten als Siegerin ins Ziel gegangen.

Die ÖVP hat übrigens nicht als ÖVP gewonnen, sondern als „Liste Kurz“, benannt nach dem jungen Außen­mi­nister, der jetzt wohl Kanzler werden wird. Dritte wurde – mit ebenfalls hohen Zuwächsen – die rechts­po­pu­lis­tische FPÖ, gefolgt von den eher liberalen „Neos“, deren Vorsit­zender sich bereits als Beschaffer einer für Verfas­sungs­än­de­rungen notwen­digen Zweidrit­tel­mehrheit positioniert.

Fünfter wurde die „Liste Pilz“, benannt nach Peter Pilz, der die Grünen verlassen und mit dafür gesorgt hat, dass die Partei aus dem Parlament geflogen ist. Das ist die eigent­liche Sensation dieser Wahl: Die Grünen hatten bei der vorigen Wahl noch ein Rekord­ergebnis erzielt; letztes Jahr wurde ihr ehema­liger Vorsit­zender nach zwei hart umkämpften Wahlgängen Bundes­prä­sident. Und nun: Ende, aus, vorbei. Zumindest für diese Legislaturperiode.

 

Sebastian Kurz hat im Wahlkampf nicht nur auf eine offenbar verbreitete Anti-Zuwan­de­rungs­stimmung gesetzt. Neu war, wie sehr seine Person im Mittel­punkt der Kampagne stand. Mit dem Bedeu­tungs­zu­wachs von Personen, „Listen“ und „Bewegungen“ scheint Öster­reich im inter­na­tio­nalen Trend zu liegen. Mit Blick auf Emmanuel Macrons Nicht-Partei schreibt Armin Thurnher im Wiener Magazin Falter, „En Marche“ habe „neue Maßstäbe von Zurech­nungs­lo­sigkeit und Eitelkeit gesetzt.“ Er beobachtet eine Verachtung für politische Kompetenz, für das politische System und „Verachtung für Politik als Beruf“. Bemer­kenswert, dass auf diesem Trend auch Leute surfen können, die in ihrem Leben nie etwas anderes gemacht haben als Politik.

Diese Tendenzen und das schwin­dende Vertrauen in Insti­tu­tionen geben zu denken. Ein sich verbrei­tender Plebis­zit­po­pu­lismus will Entschei­dungen dadurch fällen, dass das Volk direkt befragt wird. Insti­tu­tio­nelle Abläufe mit ihren einge­bauten Abwägungs­pro­zessen und Kompro­missen, fachliche Kompetenz und parla­men­ta­rische Entschei­dungs­findung werden als elitär verhöhnt. Dem „Volks­willen“ zum Durch­bruch zu verhelfen, verspicht vor allem die FPÖ.

Was all dies am Ende bedeutet, ist noch offen. Immerhin ging die erste Reise des Kanzlers in spe nicht nach Budapest oder Warschau, sondern nach Brüssel. Sicher ist jeden­falls, dass man angesichts des Gesamt­ergeb­nisses der Natio­nal­ratswahl von einem deutlichen Rechtsruck sprechen kann. Und: Anders als in Deutschland gelten Rechts­ra­dikale in Öster­reich als poten­zielle Koali­ti­ons­partner. Wenn die wahrschein­lichste Konstel­lation – Liste Kurz und „Freiheit­liche“ – eine Regierung bildet, wird es wohl beinharte Migra­ti­ons­po­litik geben. Und – durchaus paradox, wenn man sich „für die kleinen Leute“ positio­niert, eine „neoli­berale“ Wirtschafts­po­litik . Welche Rolle Themen wie Europa, Bildung, Wissen­schaft und Umwelt spielen werden, ist unklar.

Eine andere offene Frage ist, wie sich das Wahler­gebnis auf die Stimmung im Lande auswirken wird. Die ist natürlich nicht opera­tio­na­li­sierbar wie die Stimmen­ver­teilung. Wie liberal und modern (oder illiberal und unmodern) eine Gesell­schaft ist, macht sich aber nicht nur an der Hydraulik parla­men­ta­ri­scher Prozesse und an den Stellen­be­set­zungen in Minis­terien fest, sondern auch an der gesell­schaft­lichen Atmosphäre.

Die wird sich nach der Neusor­tierung der politi­schen Kräfte­ver­hält­nisse verändern. Und dieser Wandel wird wohl, wie zahlreiche Beispiele nahelegen (in jüngster Zeit: Brexit-Votum und Trump-Wahl) zulasten von Armen und Schwachen und von Leuten gehen, die anders leben, lieben und aussehen als viele Menschen in Öster­reich sich das für „echte“ Öster­rei­che­rinnen und Öster­reicher vorstellen. Ausländer‑, frauen- und also menschen­feindlich die Stimme zu erheben, wird leichter werden. Dieje­nigen, die schon lange auf diese Gelegenheit warten, werden sie nutzen.

Offener scheint die öster­rei­chische Gesell­schaft durch die Wahl also nicht zu werden. Autoritäre Stimmen haben gewonnen – ganz sicher im Natio­nalrat und vermutlich eben auch im Alltag. Wenn man an einer liberalen Moderne inter­es­siert ist, darf man in Öster­reich eines ganz gewiss nicht tun: schweigen. Denken Sie an Herrn Kraus…

Ich halte Sie auf dem Laufenden.

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