Sind die Grünen im Umfragehoch, weil sie gut aussehen?
Die Grünen sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen, weil sie so hot sind, meint Welt-Chefredakteur Ulf Poschardt. Wirklich? Eine Gegenrede.
Also, ich bin ja durchaus bereit, auch mal was Positives über den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann zu sagen. Aber dass er hot aussieht, wie der Chefredakteur der Welt, Ulf Poschardt, meint (Paywall), würde selbst ich mich nicht trauen. Das Gleiche gilt für Cem Özdemir und Tarek Al-Wazir. Und Sven Giegold, Reinhard Bütikofer, Michael Kellner und Anton Hofreiter? Lassen wir das.
Einmal sah der Bundesvorsitzende Robert Habeck in der Tat richtig gut aus. Da saß allerdings in einer Talkshow direkt neben ihm der FDP-Chef in einem affektiert wirkenden Jäckchen. Traut sich offenbar auch in Stylefragen niemand in der FDP, dem Maximo Lindner zu sagen, dass er manche Dinge besser nicht machen sollte.
Selbstverständlich ist es auch für Politiker besser, „gut“ auszusehen als gar nicht. Grundsätzlich aber ist das Angezogensein eines Menschen ein komplexer Mix aus Körper, Geist, Stimme, Humor, Lächeln und Inhalten – in Abhängigkeit von individuellen und zeitgeistlichen Parametern. Wenn derzeit zwei- bis dreimal mehr Leute die Grünen wählen würden als vor einiger Zeit, dann liegt das definitiv daran, dass die sich von ihnen angezogen fühlen.
Solche Grüne und andere Grüne
Hier der Versuch einer Antwort: Niemand hätte von dem früheren Spitzengrünen Jürgen Trittin erwartet, dass er sensibel und einfühlsam auf die Sorgen und Nöte von normalen Menschen eingeht und bereit ist, Politik für sie zu machen, ohne dass sie sich in spitzensteuersatzzahlende Verbots- und Verzichtapostel verwandeln. Das mag eine Projektion gewesen sein, für die Trittin pars pro toto zu stehen schien. Jedenfalls war sie sehr wirkungsmächtig und sehr viel weniger geleitet von dem „linksgrünen“ Inhalt als man in der Partei glauben wollte. Kein normaler (also wenig politikinteressierter) Mensch weiß, dass es bei den Grünen solche Grüne und andere Grüne gibt.
Es ist die Tonlage, auf die Leute allergisch reagieren. Es ist die Sprache der zweiten Generation Grün, die auch heute noch mehrheitlich bei Parteitagen gesprochen wird und interessanterweise auch einen hohen Frauenanteil hat. Anti-idealtypisch ist das zu erleben, wenn der Fraktionsvorsitzende Anton Hofreiter mit laienschauspielerischem Instrumentarium kategorische Haltung gegen den bösen Rest der Welt simuliert.
Diese Sprache der Abgrenzung – entweder ihr kapiert es oder ich verdamme euch – wird aber zumindest im Moment in der breiten Öffentlichkeit nicht mehr mit den Grünen gleichgesetzt. Das wird von einigen sicher als Verlust betrachtet, doch es ist die Grundlage für politische Relevanz.
Der Gegenpol zur AfD ist in der Mitte
Es ist nicht nur der Bundesvorsitzende Habeck, der diese Sprache in einer scheinbar endlosen Reihe von Talkshows bekannt gemacht hat. Und der Sprache als Schlüssel für demokratische und in seinem Verständnis „linksliberale“ Mehrheiten versteht, wie man in seinem Spiegel-Bestseller „Wer wir sein könnten“ nachlesen kann. Speziell Vizeministerpräsident Al-Wazir in Hessen hat gezeigt, dass Grüne aus einer Regierung heraus und mit maßvoller Politik und Sprache Wahlen gewinnen können, wenn die Bürger den dafür stehenden Protagonisten vertrauen.
Die Grünen sind – Stand jetzt – der antipopulistische Gegenpol zur nationalistischen und reaktionären AfD und entsprechenden Strömungen in Union, SPD und Linkspartei. Nicht trotz, sondern wegen ihrer neuen Sprache. Der Gegenpol zur AfD – Alt- und Salonlinke müssen jetzt stark sein – ist eben nicht am gegenüberliegenden Rand, sondern in der Mitte. So ist das – selbstverständlich abschätzig gemeinte – Kompositum „Habeck-Grüne“ sowohl zum Kampfbegriff der „Aufstehen“-Linken als auch der Lindner-Liberalen geworden. Hier lautet der Vorwurf: nicht links. Dort: zu links. Gleichzeitig versuchen CSU-Strategen, den Begriff „bürgerlich“ als Gegensatz zu den Grünen zu besetzen – statt als Gegensatz zur AfD.
Es sind alles Versuche, die Grünen wieder in die Randrolle zurückzudrängen, aus der sie ausgebrochen sind, erst in den Ländern und seit einiger Zeit auch im Bund. Der historische Wendepunkt, der die Kultur drehte, war der Regionalkonflikt Stuttgart 21. Er machte aus Minderheitsrevoltierern und Achtundsechzigern Traditionspfleger und Verfassungspatrioten, die die res publica aus ihrem Zentrum verteidigen.
Wohlfühlwort „progressiv“
Noch immer sprechen grüne Politiker allerdings in jedem zweiten Tweet reflexhaft davon, wie „progressiv“ sie seien. Das gehört zum Selbstbild der Kernkundschaft. Ein Wohlfühlwort, so wie Christdemokraten von der „Bewahrung der Schöpfung“ reden – ohne zu wissen, was sie damit meinen. Aber der Zeitgeist der Bundesrepublik ist – bei allem Wissen um das Elend der Dienstleistungssklaverei – ein konservativer.
Es geht nicht um Revolution, es geht ums Bewahren.
Der Münchner Soziologe Armin Nassehi hat schon vor einiger Zeit gesagt, dass jene Partei künftig vorn sein werde, die in der Lage sei, die „konservativen Bezugsprobleme“ der Leute zu lösen. Das heißt nicht, dass diese Partei konservativ sein muss.
Das Grundproblem ist, vor allem im Osten, die Realität oder das Gefühl fehlender sozialer und kultureller Teilhabe. Die Parteivorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck adressieren das Problem zunächst „links“, mit der Ankündigung der Überwindung von Hartz IV, dann aber auch schon mit dem weitergehenden Teilhabe-Gedanken eines bedingungslosen Grundeinkommens. Die Zugehörigkeit wird weder an „das Volk“ (AfD), noch an Erwerbsarbeit (SPD) geknüpft. Sie ist ein Bürgerrecht. Das Neue scheint mir zu sein, dass Grüne inzwischen besser verstehen, dass es häufig kulturell fortschrittsskeptische Milieus sind, die soziale Teilhabeprobleme haben. Das heißt, dass sie Leute nicht mehr kategorisch verdammen, wenn sie in Fragen der Identitätspolitik nicht auf Parteitagslinie sind.
Konservativ ist der neue Gegensatz zu reaktionär
Gleichzeitig ist auch die „Ehe für alle“ eine progressiv-liberale Lösung für ein konservatives Bezugsproblem, nämlich den Wunsch nach Halt, Sicherheit und Anerkennung, den alle Leute haben, egal ob akademische Weltbürger oder mit dem Reaktionären flirtende Nationalisten.
Die werden die Grünen schwer erreichen, aber Bedingung für das Lösen politischer Probleme ist die neue Offenheit, die zumindest im Moment mitschwingt – und im Gegensatz zu früher nicht mehr so einfach als Machtopportunismus abgetan werden kann, sondern mehr und mehr als Grundlage für Politik in einer pluralisierten Gesellschaft verstanden wird. Im Idealfall gelingt ihnen der große Sprung vom pseudoradikalen Entweder-Oder zu Macrons „en meme temps“, weil die Widersprüche der Gegenwart nicht mehr hegelianisch zu synthetisieren sind, sondern unaufgelöst miteinander fruchtbar gemacht werden müssen. (Keine Ahnung, wie genau.)
Der Erfolg von Helmut Kohl, Angela Merkel und auch Gerhard Schröder beruhte ja darauf, dass man sehr unterschiedliche Teile der Gesellschaft für eine anscheinend gemeinsame Zukunft gewinnen konnte. Bei Kohl war es das europäische Projekt, was alles andere als konservativ war. Die britischen Tories dagegen sind nicht konservativ, sondern disruptiv. Das gilt auch für die national-italienische Fünf-Sterne-Bewegung.
Wenn nun Kandidaten für den CDU-Vorsitz Konservatismus simulieren und im Schielen auf die AfD die Partei ins Reaktionäre verrücken, dann könnte es sein, dass sie damit eben nicht zu seligen 40 Prozent zurückkehren, sondern ihre Wähler weiter aufspalten.
In diesem Fall wird der Bedarf noch größer für eine neue Form einer 20-Prozent-plus-Partei, die eben keine „Volkspartei“ der Gleichen oder Ähnlichen ist, sondern eine Bürgerpartei, die breite Teile der heterogenen Gesellschaft für eine Zukunft gewinnt, die eine mehrheitsfähige Balance zwischen Bewahren und dafür notwendiger Veränderung findet. Winfried Kretschmann hat dafür in seinem Buch „Worauf wir uns verlassen wollen“ den Begriff des „progressiven Konservatismus“ geprägt, um das Bedürfnis nach dem Verweilen des europäischen Augenblicks mit der Notwendigkeit des Arschhochkriegens zu koppeln.
Ich will noch gar nicht von sozialökologischer Zukunftspolitik sprechen, da ist es mit der von Ulf Poschardt behaupteten „kulturellen Hegemonie“ noch ein sehr weiter Weg.
Aber eine bundespolitisch relevante Partei des entschlossenen Europäertums und der offenen und sozialen europäischen Gesellschaft (aber nicht der offenen Grenzen) wird dringend gebraucht. Dafür kann man nicht nur, dafür muss man Hegemonie gewinnen. Die EU und die offene Gesellschaft sind Dinge, die sich – alles in allem – bewährt haben. Wir sollten sie gestalten, um sie zu bewahren. Es wäre also fatal, wenn „Linksliberale“ konservativ mit reaktionär verwechselten.
Im Gegenteil: Konservativ ist der neue Gegensatz zu reaktionär.
Hat Ihnen unser Beitrag gefallen? Dann spenden Sie doch einfach und bequem über unser Spendentool. Sie unterstützen damit die publizistische Arbeit von LibMod.
Wir sind als gemeinnützig anerkannt, entsprechend sind Spenden steuerlich absetzbar. Für eine Spendenbescheinigung (nötig bei einem Betrag über 200 EUR), senden Sie Ihre Adressdaten bitte an finanzen@libmod.de
Verwandte Themen
Newsletter bestellen
Mit dem LibMod-Newsletter erhalten Sie regelmäßig Neuigkeiten zu unseren Themen in Ihr Postfach.