Die Welt als Witz – ein Psychogramm des Boris Johnson
Mit Boris Johnson – aber auch Matteo Salvini und Donald Trump – hat der homo ludens die Bühne der Politik betreten: So unterschiedlich diese Männer auch sind, sie eint der spielerische Umgang mit Sachzwang, Risiko, ja selbst mit Wirklichkeit und Wahrheit. In einem Portrait Johnsons nähert sich unser Autor Thomas Kielinger, Verfasser einer vielbeachteten Churchill-Biografie, dem Phänomen. Er zeichnet den britischen Premierminister als begabten Exzentriker, der die Welt als einen Witz versteht.
Das Rätsel Boris Johnson und wie er in der britischen Politk so hoch steigen konnte, beschäftigt mich seit zehn Jahren, als er mit einem Buch über Winston Churchill hervortrat und damit sein Image über Nacht auf eine historische Stufe zu heben vesuchte. Ich hatte selber gerade ein Churchill-Biografie beendet; mein Interesse an Johnson war herausgefordert. Den Versuch eines psychologischen Porträts des heutigen britischen Premierminsters, der wie auf einem Hochseil über den Brexit-Schlund hinwegzukommen versucht, soll daher mit einer Anekdote über den frühen Churchill beginnen – eine sprechende Episode auch zum Verständnis von Boris Johnson.
Im Sommer 1906 fand es sich, dass die Tochter des damaligen Premierministers Herbert Asquith, Violet, auf einer Dinnerparty neben Winston Churchill zu sitzen kam, der gerade die erste Sprosse seiner politischen Leiter erklommen hatte, als Unterstaatssekretär für die Kolonien in Herbert Asquith‘ liberaler Regierung. Violet fand den jungen Politiker „in gedanklicher Abstraktion versunken“, wie sie in ihren Erinnerungen schrieb. Als er während des Dinners endlich der jungen Dame neben sich gewahr wurde, fragte er sogleich ziemlich abrupt nach ihrem Alter. „19“, gab sie zurück, worauf er, „fast verzweifelt“, antwortete: „Und ich bin schon 32. Freilich jünger als jeder hier, der etwas bedeutet“, setzte er nach.
Das aber wurde der Startschuss zu einem Sturzbach der Worte. „Fluch der Zeit! Fluch unserer Sterblichkeit! Wie grausam kurz ist doch die uns zugemessene Spanne für alles, was wir in sie hineinpressen müssen!“ Weitere Verwünschungen über das kurze Leben, angesichts der immensen Leistungen, zu denen der Mensch fähig sei, folgten. Doch das Thema hätten Dichter, Propheten und Philosophen aller Zeiten schon so ausgiebig erörtert, dass es schwer sei, dem noch etwas Neues und Aufregendes hinzuzufügen. „Aber mir gegenüber gelang es ihm“, schreibt Violet, „in einem Schwall großartiger Sprache, ebenso mühelos wie schier unerschöpflich.“ Seine abschließenden Sätze werde sie nie vergessen: „Wir sind doch alle Würmer. Aber ich glaube, ich bin ein Glühwurm.“
Churchills Name als Sprungbrett
Für einen Glühwurm, für eine Ausnahmeerscheinung muss sich auch Boris Johnson von früh auf gehalten haben, denn er besaß schon früh den Ruf eines begabten Exzentrikers, auch eines politischen Glücksritters, dabei entschlossen, zum Querdenker der britischen Gegenwart aufzusteigen. Im September 2004 lud er mich zu einer Redaktionskonferenz des „Spectator“ ein, des Wochenmagazins, das er damals leitete. Die Zeitschrift war aber nur ein Ausschnitt seiner Tätigkeiten, war er doch zugleich Kolumnist des „Daily Telegraph“, Tory-Abgeordneter für den Wahlkreis Henley-on-Thames und in Michael Howards Schattenkabinett Sprecher für Kultur. „Ein Tausendsassa – ein künftiger Premier vielleicht?“, so schrieb ich über ihn nach unserem ersten Treffen.
Das zumindest hat Boris Johnson mit Churchill gemeinsam: dass man im britischen politischen Parlando an seinem Namen schon früh nicht vorbei kam. Dabei half ihm auch seine Passion für die englische Sprache, die er auf der Zunge führt wie eine Dauerschau seltener Funde. Auch das hat ihn schon früh als Ausnahme unter seinen Zeitgenossen markiert, ähnlich wie Curchill. Dabei darf man nicht übertreiben: literarisch kommt Johnson an Curchill nicht heran, aber es genügt die Anmutung einer Ähnlichkeit, um ihn interessant zu machen.
„Der Churchill Faktor“ – so nennt Johnson die Lebensbeschreibung seines berühmten Vorgängers. Es ist sein Hohes Lied auf den Glühwurm Churchill, auf die Glanzpunkte eines illustren Lebens. Kritiker durchschauten den Ansatz des Buches von 2014 sofort und bescheinigten ihm, es hätte besser „Der Boris Faktor“ heißen sollen. Spiegelt sich nicht der Autor in der Nacherzählung einer legendären Figur selber, als ein Mensch mit ähnlichem Anspruch, in die Geschichte einzugehen? Johnson widersprach zwar solchen Vermutungen; er wollte sich nicht dem Verdacht der Hybris aussetzen, der schamlosen Selbsterhöhung. Aber es half nicht, sein Ehrgeiz schien durch. Er war damals Bürgermeister der 8‑Millionen-Metropole London, ich sah den Glühwurm in ihm, der es der Welt zeigen wollte. Mit Churchills Namen als Sprungbrett.
Das Leben als Einsatz mit großem Risiko
Ich hatte mich zur Vorbereitung für meine Begegnung mit ihm in den Räumen des „Spectator“, damals, 2004, zehn Jahre vor seinem Churchill-Buch, ein wenig in die Anfänge von Johnsons Biografie eingelesen und war einem Semesterbericht seines Hausmasters in Eton, Martin Hammond, begegnet, und wie er den 17-jährigen Schüler ob seiner „unverschämt ungenierten Art“ rügte: „Ich glaube wirklich“, so steht da zu lesen, „Boris hält uns alle für kleinkariert, dass wir ihn nicht für eine Ausnahme halten, für einen, der befreit bleiben sollte von dem Netz der Pflichten, in die jedermann sonst eingebunden ist.“
In Boris Johnson stand und steht ein Exemplar des homo britannicus vor, der sein Leben als Einsatz mit hohem Risiko begreift, der seine Freiheit und seine privilegierte Stellung bis zum Äußersten ausreizt, genau kalkulierend, dass ihm dafür gerade auf der Insel immer wieder mildernde Umstände gewährt werden würden. Die Engländer, eine Theaternation, lieben den Unterhalter, den ironischen Quertreiber, eine Rolle, die Boris Johnson blendend beherrscht. Wie köstlich hat er die Leser des „Daily Telegraph“ in den neunziger Jahren zu unterhalten gewusst mit seinen satirischen Berichten über die Auswüchse der Brüsseler Bürokratie, immer übertreibend, meist an der ganzen Wahrheit bewusst vorbeigeschrieben. Sein Gaukler-Image war aber nur eine Tarnung: Sie sollte verbergen, dass das Enfant terrible Alexander Boris de Pfeffel Johnson durchaus ernste politische Absichten verfolgte. Dabei deutete sein Spiel mit lauter politischen Unkorrektheiten eigentlich nicht auf eine politische Karriere.
Ich versuchte ihn in unserem Gespräch mit den Widersprüchen seiner Art zu reizen – als typische Erscheinung eines britischen Intellektuellen. „Britischer Intellektueller? Ein Oxymoron!“, gluckste er fröhlich hervor. Eine klassische Replik: Johnson sah sich gleichsam ertappt wie bei zu viel Seriosität, so setzte er das Understatement ein, das kulturelle Hoheitszeichen des gebildeten Briten. Dabei hatte Michael Portillo, einst Minister im Kabinett von John Major, ihn bereits gewarnt, er werde sich bald „zwischen der Politik oder der Komödie“ entscheiden müssen. Darauf von mir angesprochen, zuckte der geistreiche Unterhalter die Achseln. „Vielleicht komme ich absolut nirgendwohin, politisch. Nein, sehr weit werde ich nicht kommen. Aber es wäre falsch, wenn ich mir den Maulkorb umhängen, mich zum Neutrum stempeln ließe.“
Die Welt ein komplizierter Witz
Das Leben, eine Tarnung. „Sehr weit werde ich nicht kommen.“ Das hieß im Klartext: Ihr werdet noch was erleben! Er verabschiedete sich von mir wie Peter Falk in der Krimi-Serie „Colombo“, der sich immer dumm stellte, während er seinen Pappenheimern längst um Erkenntnislängen voraus war.
Kurze Zeit nach unserer Begegnung erschien Johnsons Roman „Zweiundsiebzig Jungfrauen“, im Untertitel „Eine Komödie der Irrungen“. Ein Thriller um den Unterhausabgeordneten Roger Barlow, der wie der Autor täglich zu seiner Arbeit radelt und wie dieser leicht zerzaust seinen politischen Kompass sucht, oft, wenn auch Familienvater, in wechselnden Amouren verstrickt. Ein aufallendes Selbstporträt des Autors Johnson. Barlow gerät in einen Überfall islamistischer Terroristen, just als im Parlament eine große Redeveranstaltung mit dem amerikanischen Präsidenten anhebt. Der Plot steigert sich zu einer Persiflage auf alles und jedes – auf die Terroristen und ihre Sehnsucht nach den 72 Jungfrauen, von denen sie im Jenseits bedient zu werden hoffen; aber auch auf die Institutionen des Staates und der Politik, die der Bedrohung nicht gewachsen scheinen. Bis Barlow in letzter Minute Britannien davor bewahrt, eine globale Peinlichkeit zu werden. . .
Bewahrt der Politiker Boris Johnson in diesen Tagen sein Land in Brüssel davor, eine britische Zumutung für die EU und die ganze Welt zu werden – indem er seine Karten bis zum Äußesten ausreizt, nur um in letzter Minute einzulenken? An dieser Stelle muss jeder Vergleich des heutigen Premiers mit seinem historischen Vorbild Winston Churchill in die Irre führen. 2019 ist keine annähernd so dunkle Stunde für die Insel wie sie es 1940 war. Johnson befindet sich im diplomatischen Ringen mit den befreundeten 27 Nationen der Europäischen Union, er hat nicht wie Churchill ein von der braunen Flut überwältigtes Europa vor sich, mit dem der Kriegspremier eben nicht verhandelte, verhandeln wollte. Das war eine wahre „do or die“ Situation, eine existentielle Frage, die Johnson mit seinen Sprachkünsten heute zwar evoziert, aber keineswegs durchzustehen hat, mag er sich selbst auch im Spiegel als Heros sehen, der mannhaft für sein Land kämpft.
Und noch etwas anderes stimmt nicht mit dem Vergleich: 1940 stand das gesamte Land hinter Churchill, bereit, das Risiko des Überlebens im Ringen mit Hitler-Deutschland mit ihrem Premier zu tragen. 2019 dagegen ist Großbritannien tief gespalten, die Hälfte der Gesellschaft fühlt sich vom Brexit nicht angesprochen, schon im Referendumsjahr 2016 nicht, möchte inzwischen am Liebsten in der EU bleiben. Der Heros, der Johnson sein möchte, ist er nur für einen Teil der Gesellschaft; der andere verachtet ihn. Das stutzt seine Flügel, und man wird den Eindruck nicht los, er könnte wie Ikarus abstürzen, geblendet von der Sonne seiner Phantasie, dem Leadership-Traum, dem „Churchill Faktor“.
Vielleicht weiß Boris Johnson in seinem Innern von der grausamen Unberechenbarkeit des Schicksals. Er reagiert darauf mit eigener Unberechenbarkeit. An einer Stelle des Romans „Zweiundsiebzig Jungfrauen“ macht sich die Assistentin der Hauptfigur Barlow verräterisch Gedanken über ihren Chef, dass eigentlich hinter seinem frohgemuten Auftreten keine Werte oder Glaubensinhalte zu finden seien. „Für einen Mann wie Barlow“, sinniert sie, „erschien die ganze Welt eigentlich wie ein komplizierter Witz. Man konnte nach allem greifen, alles diskutieren. Religion, Gesetze, Prinzipien, Gebräuche – das waren bestenfalls Stützen am Wegrand, die unsere strauchelnden Schritte auffangen.“
Die Welt ein komplizierter Witz – das ist kein Churchill mehr, kein Abbild des prinzipienfesten John Bull von 1940. Dafür aber gehört der Satz ganz und gar zur Relevanz des Aufsteigers Boris Johnson: Es wäre durchaus ein komplizierter Witz, wenn ausgerechnet dieser politisch Unkorrekte und Egomane, wenn ein Glühwürmchen wie er an die Macht kommen musste, um den Gordischen Knoten Brexit zu zerhauen, die Insel aus ihrer bürgerkriegsähnlichen Verkrampfung zu befreien.
Wait and see.
Thomas Kielingers jüngste Biografie geht der Entstehung des englischen Nationalismus nach, in „Die Königin. Elisabeth I. und der Kampf um England“ (C. H. Beck, München )
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