Warum sich das Zentrum für politische Schönheit auflösen sollte
Mit gezielt provozierenden Aktionen will das „Zentrum für politische Schönheit“ (ZPS) auf Missstände hinweisen und die Gesellschaft wachrütteln. Doch die Vertreter des ZPS sind ihrer Rolle als Mahner nicht gewachsen – und eines Mandats durch die Gesellschaft unwürdig. In seinem Essay begründet der Autor, weshalb sich die Organisation unverzüglich auflösen sollte.
Schon das „Sich Erinnern“ ist nicht einfach und oft riskant. Unbequemes drängt an die Oberfläche. Wahrheiten werden unausweichlich. Abgründe tun sich auf.
Noch riskanter ist der Versuch, andere zur Erinnerung zu bewegen. Abwehr und Empörung drohen als Reaktion.
Als Deutsche haben wir unsere Erfahrung mit Beidem. Eine sehr Besondere, seitdem man uns durch befreite Vernichtungslager führte und Vielen ihr „Davon haben wir doch nichts gewusst!“ im Hals stecken blieb. Vielen, aber nicht allen.
Wir haben dazu gelernt seitdem. Aber offensichtlich zu wenig. Und zu Viele leider nichts.
Zu wenig gelernt vom Blick zurück
„Auschwitz werden die Deutschen uns nie verzeihen.“ – Nicht nur, dass der Satz noch immer stimmt; es ist alles noch viel schlimmer. Wer die Hoffnung hatte, Fehler und Versäumnisse beim „Blick zurück in einen dunklen Abgrund der Geschichte und nach vorn in eine ungewisse dunkle Zukunft“ (Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner zu Recht Epoche machenden Rede zum 50. Jahrestag des Kriegsendes, am 8. Mai 1995) hätten zu kollektivem Verstehen und irreversiblem Verständnis geführt, sieht sich ein dreiviertel Jahrhundert nach Beendigung des unfassbarsten aller Verbrechen in der Geschichte der Menschheit eines Schlechteren belehrt.
Dass rechtsextreme Parteien wieder in deutsche Parlamente gewählt werden, jüdischen Mitbürgern die Kippa vom Kopf geschlagen, Geschäfte und Restaurants jüdischer Inhaber verwüstet, Rabbiner und Synagogen angegriffen und die Existenz des Staates Israels offen und öffentlich in Frage gestellt wird, ist erschreckend.
Beängstigend aber wird diese Entwicklung, wenn auch die Gegenkräfte versagen. Wenn diejenigen am eigenen Anspruch scheitern, die von sich behaupten, verstanden zu haben und für ein „Niemals wieder!“ aufstehen und einstehen zu wollen. Wenn das Richtige gewollt wird, aber im Falschesten endet.
„Sturmtruppe moralischer Schönheit“
Eine Gruppe junger Erwachsener stilisiert sich seit einigen Jahren in provokativer Polemik zum „Zentrum politischer Schönheit“, kurz: „ZPS“ und erklärt in ihren Statuten, sie seien die „radikale Form des Humanismus: eine Sturmtruppe zur Errichtung moralischer Schönheit, politischer Poesie und menschlicher Großgesinntheit“; „eine Verschmelzung der Macht der Phantasie und der Macht der Geschichte“ und dies alles basierend auf der „Grundüberzeugung, dass die Lehren des Holocaust durch die Wiederholung politischer Teilnahmslosigkeit, Flüchtlingsabwehr und Feigheit annulliert werden und dass Deutschland aus der Geschichte nicht nur lernen, sondern auch handeln muss“.
Man könnte das für krudes Geschwafel halten, stießen „Aktionen“ des „ZPS“ nicht regelmäßig mitten ins Zentrum gesellschaftlicher Probleme und politischer Debatten, träfen sie mit ihren gezielten Überschreitungen von Recht und Ethik nicht so oft einen Nerv, der Viele „dann doch irgendwie wichtig“ finden lässt, „dass es so etwas gibt und sich jemand so etwas traut“.
Jetzt hat das „ZPS“ mit einer „Aktion“ vor dem Sitz des Deutschen Bundestags in Berlin der an pietät‑, niveau- und gedankenlosen Vorfällen und Ausrutschern nicht eben armen Geschichte deutscher „Erinnerungskultur“ ein Kapitel hinzugefügt, das bis auf weiteres als Unterbietung von allem gut Gemeinten, aber desaströs Ausgeführtem gelten muss.
Bohrkerne von Leichenfeldern
Allein eine Beschreibung des „Projekts“ ist schwer möglich ohne Entsetzen und Scham. Ganz zu schweigen vom Anblick vor Ort.
Die selbsternannte „Sturmtruppe des Humanismus“ war an Orte gereist, an die während der Nazi-Diktatur Opfer der nationalsozialistischen Massenmorde gekarrt, in Gruben gekippt, eher verscharrt als begraben worden waren. Leichenfelder und Totenäcker eher als Friedhöfe. Orte, an denen geschah, was Paul Celan in seiner ‚Todesfuge‘ beschrieb: „Er ruft stecht tiefer ins Erdreich ihr einen ihr andern / singet und spielt / er greift nach dem Eisen im Gurt er schwingts / seine Augen sind blau /stecht tiefer die Spaten ihr einen ihr anderen / spielt weiter zum Tanz auf“.
Felder, von denen die Stille nach millionenfach zugefügten Demütigungen und erlittenen Qualen auf ewig zum Himmel schreit.
Böden, auf die kein Wissender und Empfindender ohne Weiteres auch nur einen bloßen Fuß setzen könnte. Die Vertreter einer jener Generationen, denen Helmut Kohl einst die „Gnade der späten Geburt“ zuschrieb, waren da unbefangener, traten mit Schaufeln und Technik an und entnahmen den Leichenfeldern und Totenäckern „Bohrkerne“, als ginge es um Analysen von kaltem Gestein. „248 Proben von 23 Orten in Deutschland, Polen und der Ukraine“ dokumentierten sie stolz.
„Knochenkohle, sedimentierte Asche und menschliche Fragmente in allen erdenklichen Körnungsgrößen“ (Pressemitteilung und inzwischen gelöschte Projektbeschreibung auf der Website des „ZPS“). Mithin verbliebene Reste jener, die wie Unrat von ihren Peinigern weggeworfen und so noch als Tote geschändet worden waren und nun ein weiteres Mal geschändet wurden. Auf der Wiese vor dem Sitz des Deutschen Bundestags in Berlin wurde einer der „Bohrkerne“, in dem „bei Laboruntersuchungen Hinweise auf menschliche Überreste“ nachgewiesen wurden, in eine gläsernen Säule gekippt und zur Schau gestellt. Wo die restlichen 247 aufbewahrt wurden, blieb unklar weil unerwähnt.
Unaufrichtige Reue. Larmoyante Hilflosigkeit
Dass über allem noch ein Banner mit einem Satz wie von Joseph Goebbels gespannt war – „Gedenken heißt Kämpfen“ – machte die Obszönität der Provokation nur komplett.
Schon zwei Tage später sahen die Urheber sich dem Sturm der Empörung nicht mehr gewachsen und zum Rückzug gezwungen. Sie traten ihn irritiert, aber erkennbar wenig überzeugt an; mit verschwurbelten Reue-Bekundungen („...bedauern aufrichtig, das wir den zentralen Wirkungsaspekt unserer Arbeit nicht im Vorfeld erkannt haben“) und geheuchelt wehklagender Hilflosigkeit: „Wohin? Wo soll der Inhalt denn hin?“.
Eben: Wohin mit Überresten Geschändeter, die einem letzten Frieden entrissen wurden? Die Ausweglosigkeit des angerichteten Unheils führte indes zu einer weiteren, besonders zynischen Pointe: Denn zur Frage des „Wohin?“ kam die aus religiöser Sicht nicht weniger wesentliche Frage des „Wie?“. Wie sollten 248 Bohrkerne mit Überresten von Geschändeten, Verbrannten, Verscharrten, jetzt ihrem letzten Frieden Entrissenen, zumindest in Würde und unter Einhaltung gebotener, religiöser Rituale wieder bestattet werden?
Vertreter der jüdischen Gemeinde wurden um Rat gefragt und schließlich Rabbiner gebeten, wegzuräumen, was ein Mahnmal sein sollte, aber ein Schandmal war. Kann deutsches Erinnerungsversagen beschämender sein?
Schandmal statt Mahnmal
Wie aber konnte es überhaupt zu solcher unfassbaren Gedankenlosigkeit kommen? Wo liegt der Grund dafür, dass so selbstbewusst auftretender Anspruch dermaßen pietätlos, unmoralisch und dumm gescheitert ist? Und wie kann es sein, dass solcherart verirrte, pseudo-politische und pseudo-künstlerische Postulate von einigen, ansonsten ernst zu nehmenden, Vertretern des Erinnerungsdiskurses und differenziert analysierenden Medien gleichsam zur Salonfähigkeit hochgeschrieben und als „Beitrag zu einer wichtigen Debatte“ gehuldigt werden?
Die Antwort verweist auf einen gefährlichen und keineswegs nur vereinzelt auftretenden Geist der Gegenwart. Er heißt: Überheblichkeit aus Distanz. Sie droht zu entstehen, wo Erinnerung nicht mehr an existenzielle Erfahrung geknüpft und Empathie ohnehin gering ausgeprägt ist. Wo der erinnerte Schmerz nicht mehr selbst erfahren oder durch Anblick derer nachempfunden wird, die ihn noch selbst erleiden oder mitleiden mussten – unmittelbar, oder mittelbar durch ihre Eltern oder Großelterngeneration.
Sterbliche Überreste werden dann zu bloßem Erinnerungsmaterial: „menschliche Fragmente in allen erdenklichen Körnungsgrößen“, deren Authentizität eben nicht mehr empfunden wird, sondern durch „Laboruntersuchungen“ abgesichert werden muss. Die Wissenschaft soll für jenes innere Erschrecken sorgen, von dem man naiverweise glaubt, es sei nötig, um Erinnerung in Reflexion und Reflexion in verändertes, geläutertes Handeln zu überführen. Für den Schock und den Adrenalinschub, die man zu brauchen glaubt, weil sich durch bloßes Lesen oder lediglich einen Anblick von Bildern dessen, was geschehen war, nein: was getan wurde, die menschlichste aller Reaktionen nicht mehr einzustellen vermag: emotionale Regung, moralisches Entsetzen, Mitgefühl.
Anmaßung und Kontrollverlust
Die Verhaltenspsychologie kennt das Phänomen der „Übersprungshandlung“, eine Art Flucht nach vorn, ausgelöst durch das Gefühl, ertappt worden, verloren zu sein. Solche Übersprungshandlungen führen bei Kindern zur Überdrehtheit, zu einem kurzzeitigen Kontrollverlust. Bei Erwachsenen zum Versuch, sich über den anderen zu erheben, um eigene Schwächen zu vermeiden.
Das ist, was hinter dem Selbstverständnis des ‚ZPS‘ steht: Anmaßung ohne Grundlage. „Das Zentrum ist eine Verschmelzung der Macht der Phantasie und der Macht der Geschichte.“ – „Wir formen den politischen Widerstand des 21. Jahrhunderts und bewaffnen die Wirklichkeit mit moralischer Phantasie und der Geschichte.“
Die Absolutheit, mit der sich hier eine einzelne Gruppe über eine ganze Gesellschaft erhebt müsste allein schon zur Rebellion der solcherart Düpierten, Degradierten und Diskriminierten führen. Stattdessen hat sich über die Jahre ein Verhältnis wie zu einem Hofnarren des 21. Jahrhunderts etabliert.
Hofnarren des 21. Jahrhunderts
Was kein unangemessener Vergleich ist, bedenkt man, wie das ZPS seine Rolle als Organisation und die seiner Vertreter angelegt hat: Man kritisiert, klagt an, provoziert aufs Obszönste, hat aber selbst kein Programm und will auch gar nichts konstruktiv beitragen, entzieht sich vielmehr jeder Übernahme von Verantwortung, und, indem man sich selbst zu Künstlern und das eigene Handeln zu Kunst erklärt, auch dem ernsthaft politischen, kritischen und selbstkritischen Diskurs.
Das „Zentrum für politische Schönheit“ hatte nie ein Mandat. Mit seinem irregeleiteten, zutiefst verwerflichen Projekt hat es nun auch jeden eventuellen Anspruch auf ein solches verwirkt.
Hätten die Verantwortlichen einen Rest an Anstand und den Respekt für jene, die es missbraucht hat, „ohne den zentralen Wirkungsaspekt“ zu bedenken, müssten sie ihre Organisation auflösen und sich selbst in Scham und Schweigen zurückziehen. Stattdessen haben sie an der Stelle, von der die herbei gebetenen Rabbiner die Glassäule mit den Überresten ihrer Vorfahren entfernt haben, eine neue, diesmal schwarz lackierte Stahlsäule einbetoniert auf der in weißer Schrift geschrieben steht: „Ich schwöre Tod durch Wort und Tat, Wahl und eigne Hand – wenn ich kann – jedem, der die Demokratie zerstört.“ – Die Anmaßung geht weiter. ***
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