NARRATIV-CHECK

Was hinter radika­li­sie­renden Botschaften steckt.

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NARRATIV-CHECK

Was hinter radikalisierenden
Botschaften steckt.

Was Esoterik Macht
Einführung
Gefühlte Wahrheit – Esoterik zwischen Überwissen, Verschwö­rungs­glaube und extrem rechtem Denken

von Matthias Pöhlmann

Esote­ri­sches Denken ist seit dem 19. und 20. Jahrhundert zu beobachten und hat weltan­schau­liche Systeme wie die Theosophie oder die Anthro­posophie hervor­ge­bracht. Seit den 1980er Jahren ist die Esoterik immer populärer geworden. Besonders weit verbreitet ist heute die Konsum-esoterik mit einem breiten Markt und einer Vielfalt esote­ri­scher Ideen und Praktiken, die sich meist auf indivi­duelle und gesell­schaft­liche Krisen­lagen beziehen. Der esote­rische Anspruch auf ein höheres Wissen wendet sich unter anderem gegen die Ratio­na­lität der Wissen­schaften. Insbe­sondere seit den Corona-Protesten haben sich deutliche Überschnei­dungen mit Verschwörungs­ideologien gezeigt – und Anschluss­mög­lich­keiten an antise­mi­ti­sches, rassis­ti­sches und antide­mo­kra­ti­sches Denken. Die rechte Esoterik als Randbe­reich alter­na­tiver Spiri­tua­lität ist hier eine der Triebkräfte.

Engel­karten, Kontakte zu höheren Wesen­heiten, Geist­heilung und immer wieder Einblicke in höheres Wissen: Heutige Esoterik ist vor allem eine Esoterik des Konsums. Im Angebot sind immer wieder die schönen weich­ge­zeich­neten Bilder und Versprechen von ganzheit­lichen spiri­tu­ellen Erleb­nissen, umfas­sendem Heilwerden und intui­tiven Erleuchtungserfahrungen.

Heutige Esoterik als Alltags­phä­nomen und Krisensymptom

Esoterik ist inzwi­schen ein Milli­ar­den­markt mit Anbietern, Nutzer­innen und einer unüber­schau­baren Zahl von Offerten, Methoden und Devotio­nalien wie Kraft­steinen, Räucherwerk oder Essenzen. Besondere Umschlag­plätze und Werbe­foren der esote­ri­schen Vielfalt sind Esoterik­messen. Schlag­worte in einschlä­gigen Programm­heften lassen keinen Zweifel an einem umfas­senden Angebot für jede Lebenslage: geistiges Heilen durch feinstoff­liche Chirurgie, Bewusst­seins­er­wei­terung, innerer Frieden, Kontakte zur geistigen Welt, Befreiung aus karmi­schen Verstri­ckungen, Natur­heil­wissen und Versprechen für ein ganzheit­liches, gelin­gendes Leben. Inzwi­schen lässt sich dieser Trend auch in digitalen Formaten beobachten. Auf Tiktok etwa insze­nieren sich Teenager und junge Frauen unter dem millio­nenfach geklickten Hashtag #WitchTok als Hexen mit magischen Fähig­keiten und verbreiten einen massen­tauglichen Self-Care-Trend.

Um es vorweg­zu­nehmen: Nicht jedes esote­rische Angebot oder dessen Nutzung führt zu Verschwö­rungs­ideo­logien oder in rechts­extrem-ideolo­gi­sches Terrain. Zugleich ist neben vielem Harmlosen auch Proble­ma­ti­sches zu finden. Ein Blick auf den Bücher­tisch einer Esote­rik­messe zeigt: Inmitten esote­ri­scher Literatur findet sich auch die umstrittene > Anastasia-Buchreihe oder Titel des antise­mi­ti­schen Bestseller­autors Jan Udo Holey alias Jan van Helsing. Wie kommt es dazu? Moderne Esoterik ist offen für Verschwö­rungs­theorien und mit ihnen verbundene Feind­bilder. Und sie wendet sich häufig auch gegen evidenz­ba­sierte Medizin, Wissen­schaft, Medien und Politik.

Heutige Esoterik scheint auf gesamt­ge­sell­schaft­liche Trends wie Plura­li­sie­rungs- und Indivi­dua­li­sie­rungs­pro­zesse zu reagieren bezie­hungs­weise ihnen zu entsprechen, so dass von einer „Esote­ri­sierung der Gesell­schaft“ gesprochen werden kann. Es geht um Heilung, neue Pädagogik, Erfolg, neues Überwissen. Von der Konsu­me­so­terik unter­scheidet sich die Syste­me­so­terik, die sich unter dem Aspekt der „Verwis­sen­schaft­li­chung“ esote­ri­scher Weltan­schau­ungs­ent­würfe im 19. und frühen 20. Jahrhundert heraus­zu­bilden begann.

Syste­me­so­terik im 19. und 20. Jahrhundert: von Theosophie zu Ariosophie

Die moderne Esoterik ist ein Kind des 19. Jahrhun­derts, als sich in Europa ein tiefgrei­fender gesell­schaft­licher, wirtschaft­licher und wissen­schaft­licher Wandel vollzog. Neue natur­wis­sen­schaft­liche und techno­lo­gische Entde­ckungen erwei­terten den Wissens­be­stand erheblich, führten aber auch zu einem wachsenden Unbehagen: Die aufklä­re­rische Religi­ons­kritik, der Darwi­nismus und die Natur­wissenschaft als neue Weltdeu­tungs­in­stanzen sowie die Verän­derung des Menschen­bildes durch die Psycho­logie führten zu einer Entfremdung von der christ­lichen Religion und ihren Kirchen. Angesichts des wachsenden Orien­tie­rungs­be­darfs verhießen Begeg­nungen mit anderen Kulturen und Religionen Horizont­er­wei­terung und neuen Sinn.

Diese Sehnsucht nach einer Wieder­ver­zau­berung der Welt konkre­tisierte sich im Aufleben einer esote­ri­schen Religio­sität, die von Mysti­schem, Magischem und Irratio­nalem geprägt war. Die Konzen­tration auf den inneren Erfah­rungsraum des Menschen eröffnete neue Möglich­keiten für Sinn- und Weltdeutung angesichts vielfäl­tiger Krisen­lagen. Als Gegen­re­aktion zum vorherr­schenden Indivi­dua­lismus rückten nunmehr das Natür­liche, Vitale, Organische und Gemeinschafts­erleben ins Zentrum spiri­tu­eller Sinnsuche. Neue weltan­schau­liche Strömungen auf esote­ri­scher Grundlage wie die anglo-indische Theo-
sophie entstanden in dieser Zeit.

Aus einem Spiri­tis­ten­zirkel in New York entstand 1875 die > Theo­sophische Gesell­schaft. Deren maßgeb­liche Initia­torin Helena Petrovna Blavatsky (1831–1891) vermischte spiri­tis­tische Grund­überzeugungen, wie Jenseits­kon­takte und den Beweis eines Lebens nach dem Tod, unter anderem mit hindu­is­ti­schen und buddhis­ti­schen Einflüssen. In ihrer theoso­phi­schen „Geheim­lehre“ wollte sie den spiri­tis­ti­schen Erschei­nungen und dem Wahrheits­gehalt aller Reli­gionen auf den Grund gehen. Dadurch begreift sich die esote­rische Theosophie als dritter Weg neben herkömm­lichen Wissen­schaften und Religionen. Nachhaltige Wirkungen entfaltete diese anglo-indische Theosophie für verschiedene esote­rische Richtungen sowie für neure­li­giöse Bewegungen, u.a. für die > Anthro­po­sophie Rudolf Steiners bis hin zu der im 19. Jahrhundert aufkom­menden > Ariosophie, einem Rassismus in esote­ri­schem Gewand.

Deren Vordenker, Guido von List und Jörg Lanz von Liebenfels ersetzten den von der Theoso­phi­schen Gesell­schaft vertre­tenen Gedanken einer univer­salen Bruder­schaft durch ein rassis­ti­sches Glaubens­system. Demnach gelten nur Menschen nördlicher indoger­ma­ni­scher Herkunft, sogenannte Arier, als Menschen, die zu geistigem Fortschritt in der Lage seien. Zahlreiche völkisch-religiöse Gruppen der Zwischen­kriegszeit griffen diesen Gedanken auf. Diese dezidiert > neuheid­nische, christen­tumsfeindliche Richtung betonte eine „artgemäße Religion“ und vertrat verschwö­rungs­ideo­lo­gi­sches wie auch antise­mi­ti­sches Gedan­kengut. Die Hinwendung zu einer neuen „Natür­lichkeit“ speiste sich aus lebens­re­for­me­ri­schen Ideen: natur­gemäße Lebens- und Heilweise mit Vegeta­rismus, Freikör­per­kultur und dem Verzicht auf Sucht­mittel. Hieran anknüpfend gewann eine rassis­tische Blut-und-Boden-Ideologie zunehmend an Bedeutung. Das „artgemäße“ Blut, die „arische Rasse“, wurde nach esote­ri­schem Erkennt­nis­an­spruch zum entschei­denden Kriterium für das eigene Überle­gen­heits­gefühl gegenüber angeblich minder­wer­tigen Menschen.

Die rassis­ti­schen Esote­riker erhofften sich im Natio­nal­so­zia­lismus eine stärkere Anerkennung, die der totale Weltan­schau­ungs­staat den „völki­schen Sektierern“ jedoch versagte.

Misstrauen und Konspiritualität

Im Zuge einer Wieder­ver­zau­berung der Welt, wie sie die „New Age“-Bewegung Ende der 1970er und in ihrem Gefolge die moderne Esoterik in den 1980er Jahren herbei­sehnte, suchten Anhänger neue Erkennt­nisse in angeblich unbelas­teten indigenen Tradi­tionen – etwa im Schama­nismus außer­europäischer Kulturen, bei Offen­ba­rungen und Mittei­lungen von Personen und Wesen­heiten aus der geistigen Welt. Die Hinwendung zur Intuition, zur spiri­tu­ellen Innenwelt des Menschen, spielt in der Esoterik eine zentrale Rolle, nachdem die Vernunft als Leitstern der Aufklärung für viele fragwürdig bis obsolet geworden war. Letztlich geht es in der modernen Esoterik um einen beson­deren Erkennt­nis­an­spruch auf absolutes Wissen, das sich nur ausge­wählten, sensi­tiven Menschen erschließt oder erschlossen hat. Auf diese Weise adelt sie die poten­zi­ellen Kunden zu Auser­wählten und Erwachten. Und sie grenzt sich vom wissen­schaft­lichen Erkennt­nis­an­spruch des sogenannten Mainstreams ab. Ein prägendes Element dieser Entwicklung ist die > Konspi­ri­tua­lität, eine Verschwö­rungs­e­so­terik, die von starkem Misstrauen geprägt ist. Für viele Esote­riker ist die innere Wahrheit, die im eigenen Bewusstsein liegt, der einzige Kompass. Sie leben in einer gefühlten Wahrheit und kümmern sich nicht mehr um das, was Medien, Politik, Gesell­schaft oder andere Instanzen vermitteln.

So nahmen an den Corona-Protesten und Querdenken-Demons­tra­­tionen 2020 bis 2022 neben Impfgegnern, Homöo­pathie- und Natur­heil­kun­defans, Reichs­bürgern und Rechts­extremen auch esote­rik­affine Personen teil. Rückbli­ckend lassen sich zwischen den Szenen – vor allem im radika­li­sierten Teil der Bewegung – weltan­schau­liche Brücken identi­fi­zieren, ähnliche Muster, Grund­an­nahmen und Weltdeu­tungen. So ergibt sich eine von Verschwö­rungs­er­zäh­lungen und esote­ri­schen Weltbildern geprägte Misch­szene. Chiffren wie „NWO“ (New World Order), „Great Reset“, „Globa­listen“, Bezüge auf > QAnon, aber auch Themen wie Impfgeg­ner­schaft, die Ablehnung der evidenz­ba­sierten Medizin sowie der Rückgriff auf sogenannte > alter­native Heil­methoden bilden einende Narrative und Muster. Inmitten dieser bunten Misstrau­ens­ge­mein­schaft zeigen sich neben Wissenschafts­skepsis oder Impfkritik auch reichs­bür­ge­rideo­lo­gi­sches und rechts­extremes Gedankengut.

Seither ist noch deutlicher geworden, dass Esoterik auch ein Protest­phänomen darstellt und zum weltan­schau­lichen Scharnier für Verschwö­rungs­ideo­logien und Feind­bilder werden kann. Besonders esote­rik­affine Personen wenden sich gegen die Ratio­na­lität der Wissen­schaften und teilen mit anderen Protes­tie­renden ein grund­legendes Misstrauen gegenüber der Mehrheits­ge­sell­schaft und ihren Insti­tu­tionen. Esoterik als Protest­phä­nomen und Krisen­symptom will daher eigene Alter­na­tiven bieten: alter­na­tives Heilwissen, eine Pädagogik der neuen Zeit, alter­native Medien, intuitive Wege der Lebens­be­ratung und Weltdeutung.

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Rechte Esoterik

Seit Mitte der 1990er Jahren erlebte eine spezi­fische Form rechter Esoterik besonders über Bücher, Social Media und Video­platt­formen kräftigen Aufwind. Deren Anhänger insze­nieren sich über die Verbreitung von Feind­bildern und Schwarz-Weiß-Denken als aufge­wachte, spiri­tuell Überwis­sende – immer in Abgrenzung zum verhassten „Mainstream“. Vor allem Social Media und Video­portale bilden die digitalen Echo­kammern rechter Esoterik, in denen sich gleiche Ansichten gegen­seitig verstärken, was wiederum Verschwö­rungs­er­zäh­lungen anfacht. Mit der Bezeichnung „rechte Esoterik“ soll in Anlehnung an den Begriff „Neue Rechte“ ein infor­melles Netzwerk von Personen, Bewegungen und Gruppen bezeichnet werden, in dem esote­rik­affine, antili­berale und verschwö­rungs­ideo­lo­gische Kräfte zusam­men­wirken. Sie bedienen sich esote­ri­scher Ideen, um antili­be­rales und antide­mo­kra­ti­sches Gedan­kengut zu verbreiten.

Es gibt hierzu­lande eine Vielzahl recht­se­so­te­ri­scher, „alter­na­tiver“ Medien und Verlage, die dieses Gedan­kengut intensiv verbreiten. Die Anbieter treten als esote­rische Überwisser auf. Sie berufen sich auf höhere Erkenntnis oder angeblich von Wissen­schaft und „Mainstream“ unter­drückte, obskure Quellen. Mit ihrem vorgeblich auf übersinn­lichem Wege gewon­nenen höheren Erkennt­nis­modell wenden sie sich gegen die Vernunft und gegen wissen­schafts­ba­sierte Theorien insgesamt. Sehr häufig ist von „Erwachen“ die Rede, ein Begriff, der auch in rechten Bewegungen wie QAnon eine wichtige Rolle spielt. Von einer höheren Warte aus glauben erleuchtete Wissende, die Dinge grund­legend anders einschätzen zu können. „Erwachte“ fühlen sich der Gesell­schaft, der Gemein­schaft, der Religion und dem Staat enthoben – und damit grund­sätzlich als unbestechlich und nicht manipulierbar.

Rechte Esoterik wendet sich gegen die herkömm­liche Geschichts­deutung als Form einer angeblich aufge­zwun­genen Weltdeutung, gegen die als „Lügen­presse“ diskre­di­tierten Medien, denen unter­stellt wird, Erfül­lungs­ge­hilfen der Mächtigen zu sein, und gegen etablierte politische Parteien als Verkör­perung des abgelehnten „Mainstreams“. Auch deshalb sind rechte Esote­riker vielfach auf „alter­na­tiven“ Video­platt­formen oder Telegram unterwegs – um einer angeblich drohenden Zensur zu entgehen. Oftmals wird damit geworben, die eigenen Meldungen seien unzen­siert und andere würden eben diese Infor­ma­tionen verschweigen. So hat sich inzwi­schen eine digita­li­sierte, „alter­nativ-mediale“, rechts­esoterische Paral­lelwelt gebildet. Video­platt­formen wie bewusst.tv (Jo Conrad) oder dieunbestechlichen.com (Jan Udo Holey) erweisen sich als effiziente digitale Echokammern, die Verschwö­rungs­theorien und den Hass auf das System massiv befeuern. Hier zeigt sich auch, dass es vor allem in den Randbe­reichen der Esoterik eine große Offenheit für illibe­rales und antiplu­ra­lis­ti­sches Gedan­kengut gibt. Jenseits des Digitalen sind dafür die Bücher der umstrit­tenen völkisch-esote­ri­schen Anastasia-Bewegung ein Beispiel: Sie schließen an Ideen der Esoterik, Ökologie, neuen Lebens­formen und des neuen Lernens an und verbreiten gleich­zeitig rassis­tische, antise­mi­tische, frauen­feind­liche Einstellungen.

Die oftmals als unpoli­tisch empfundene Esoterik-Szene weist bei genauerem Hinsehen erkennbare braune Flecken auf. Bislang wird dieser Teil der Szene unter­schätzt. Die fließenden Übergänge von rechter Esoterik zur Reichs­bürger-Bewegung wurden zum Beispiel im Dezember 2022 offen­sichtlich, als die reichs­bür­ge­rideo­lo­gische, rechts­extreme Terror­zelle „Vereinte Patrioten“ um Heinrich XIII., Prinz Reuß in einer bundes­weiten Polizei-Razzia aufflog. Eine der führenden Personen, die ehemalige Richterin und ehemalige AfD-Bundes­tags­­­ab­ge­ordnete Birgit Malsack-Winkemann vertritt esote­ri­sches und QAnon-Gedan­kengut. Die Terror­gruppe hatte für ihre, nach dem Staats­streich geplante „Schat­ten­re­gierung“ sogar einen Beauf­tragten für Spiri­tua­lität und Natur­heil­kunde sowie für „Trans­kom­mu­ni­kation“ vorge­sehen. Die perso­nelle Vernetzung innerhalb der rechts-esote­ri­schen Szene ist von außen oft schwer zu durch­schauen, doch aus inhalt­lichen Überschnei­dungen ergeben sich oftmals vielfältige antide­mo­kra­tische Allianzen.

An diesem Beispiel wird in erschre­ckender Weise deutlich, wie recht­se­so­te­ri­sches Gedan­kengut zum ideolo­gi­schen Motor für Hass, Gewalt und antide­mo­kra­tische Gesinnung werden kann. Rechte Esoterik und ihre Protago­nisten liefern das weltan­schau­liche Reservoir für antise­mi­tische, verschwö­rungs­ideo­lo­gische und menschen­ver­ach­tende Einstel­lungen. Die oftmals skurril anmutende und unbedarft wirkende esote­rische Fassade führt dazu, dass die Szene häufig unter­schätzt wird – trotz des im Kern höchst proble­ma­ti­schen Gedan­ken­gutes. Gerade angesichts vielfäl­tiger gesell­schaft­licher und politi­scher Krisen­lagen braucht es in Zukunft mehr Aufklärung über diese Szene.

Matthias Pöhlmann, Dr. theol., Kirchenrat, ist Beauf­tragter für Sekten- und Weltan­schau­ungs­fragen der Evange­lisch-Luthe­ri­schen Kirche in Bayern sowie Lehrbe­auf­tragter für Religi­ons­wis­sen­schaft und Religions­geschichte an der Ludwig-Maximi­lians-Univer­sität sowie an der Univer­sität der Bundeswehr München. Er veröf­fent­lichte zu Religions- und Weltan­schau­ungs­fragen, zuletzt 2021: „Rechte Esoterik. Wenn sich alter­na­tives Denken und Extre­mismus gefährlich vermischen“.

GLOSSAR

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Alter­native Heilme­thoden (auch Alternativmedizin)

Als „alter­native Heilme­thoden“ gelten Behand­lungs­an­sätze jenseits der Schul­me­dizin. Die Bandbreite ist groß und reicht von Homöo­pathie über Bach-Blüten­the­rapie bis zu anthro­po­so­phi­scher Heilkunde. Die Wirksamkeit der Anwen­dungen ist meist weder wissen­schaftlich noch pharma­ko­lo­gisch belegt. Die Natur gilt oft als Ursprung des mensch­lichen Organismus und steht im Zentrum eines „ganzheit­lichen“ Ansatzes, der von der Einheit von Körper, Geist und Seele ausgeht. So sollen bestimmte Ansätze einen als gestört identi­fi­zierten Energie­fluss des Körpers wieder­her­stellen und zur Heilung beitragen. Viele „alter­native Heilme­thoden“ sind umstritten – wegen direkter gesundheit­licher Risiken, dem eventu­ellen Versäumen notwen­diger Therapien, genereller Skepsis gegenüber medizi­ni­scher Diagnostik oder Versatz­stücken aus verschwörungsideo­logischen oder > antimo­dernen Ideologien.

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Anastasia – die Buchreihe

Die zehnbändige fiktive Roman­reihe „Anastasia – Die klingenden Zedern Russlands“ des russi­schen Autors Wladimir Nikola­je­witsch Megre ist zwischen 1996 und 2010 erschienen. Sie handelt von der jungen Frau Anastasia, die abseits der Zivili­sation in der russi­schen Taiga allein im Wald lebt, in ideal­ty­pi­scher geistiger Verbindung mit Natur, Tieren und Kosmos. Das urbane Leben wird mit diesem Ideal des natur­nahen, spiri­tu­ellen Daseins kontras­tiert. Ebenso finden sich regressive Anlei­tungen zum Geschlech­ter­ver­hältnis, Gesundheit oder Kinder­er­ziehung. „Anastasia“ verbreitet nicht nur einen reaktio­nären Lebens- und Gesell­schafts­entwurf, sondern auch antise­mi­tische, rassis­tische und frauen­feind­liche Ansätze, die an rechts­extreme Ideologien anschließen. 

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Anthro­po­sophie

bezeichnet eine von Rudolf Steiner (1861–1925) begründete esote­rische Weltan­schauung mit wissen­schaft­lichem Selbst­ver­ständnis. Basierend auf Schriften und Vorträgen Steiners, wird eine ganzheit­liche und übersinn­liche Deutung des Kosmos, der Menschheit und der Mensch­heits­ent­wicklung beschrieben. Obwohl Steiner anfangs eng mit der > Theoso­phi­schen Gesell­schaft verbunden war, kam es 1913 zur Abspaltung und Gründung der Anthropo­sophischen Gesell­schaft. Bis heute finden anthro­po­so­phische Prinzipien in Praxis­feldern wie Pädagogik (> Waldorf­schulen), Landwirt­schaft, Medizin und Archi­tektur Anwendung. Ab den 2000er Jahren gab es immer wieder Debatten um Rassismus und Antise­mi­tismus in Steiners Werk.

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Ariosophie

ist eine im 19. Jahrhundert aufkom­mende geistige Strömung, in der sich esote­risch-okkulte Vorstel­lungen der > Theoso­phi­schen Gesell­schaft mit völkisch-rassis­ti­schen und antise­mi­ti­schen Gesin­nungen vermischten. Die Ariosophie findet okkulte Begrün­dungen für die Ungleich­wer­tigkeit von Menschen und beschwört die Wieder­erwe­ckung einer mysti­schen „arischen Helden­rasse“ durch eugenische Praktiken. Besondere Bedeutung erhalten germa­nische Runen­schriften, in denen laut Ariosophie ein uraltes Geheim­wissen verborgen sei, welches sich „Arier“ durch Körper­hal­tungen in Runenform aneignen könnten.

 

Konspi­ri­tua­lität (auch Conspi­ri­tuality, Verschwörungsspiritualität)

bezeichnet eine Verschmelzung von Verschwö­rungs­men­ta­lität und Esoterik. Verbin­dendes Element ist der Glaube daran, dass alles mitein­ander in Verbindung stehe. Die Weltsicht ist geprägt durch den Dualismus von Gut und Böse, Licht und Schatten sowie die Überzeugung, dass eine im Geheimen agierende Gruppe versuche, die Welt zu kontrol­lieren. Konspi­ri­tua­lität ermög­licht die Politi­sierung von Esoterik und ist ein Verbin­dungs­glied zu Antise­mi­tismus und Rechts­extre­mismus. Die Grund­skepsis gegenüber „offizi­ellen“ Darstel­lungen wird häufig mithilfe von Fehlin­for­ma­tionen und dem Rückgriff auf „alter­native“ Wissens­quellen untermauert.

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Neuhei­dentum (auch Neopaganismus)

ist ein Sammel­be­griff für verschiedene Bewegungen, die sich ab dem 19. Jahrhundert meist auf vorchrist­liche Natur­re­li­gionen zurück­be­sinnen und diese teilweise neu inter­pre­tieren. Zentral dabei sind die Wahrung, Förderung und Verbreitung nicht-christ­lichen Glaubens und Brauchtums, häufig begleitet von esote­risch-okkulten Praktiken wie Runen-Orakeln, Natur­magie oder Astro­logie. Neuheid­nische Gemein­schaften können politisch liberal einge­stellt sein und sich für progressive Themen wie Feminismus oder Umwelt­schutz einsetzen. Jedoch zeichnen sich bestimmte Bewegungen wie die „Artge­mein­schaft“ immer wieder durch ihre > antimo­derne bis rechts­extreme Orien­tierung und manifesten Rassismus und Antise­mi­tismus aus.

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QAnon

ist eine Verschwö­rungs­theorie mit rechts­extremem Hinter­grund, die in den USA entstanden ist. Der anonyme Nutzer „Q“ veröf­fent­lichte 2017 angeblich exklusive Infor­ma­tionen, wonach Donald Trump den „tiefen Staat“ einer geheimen Elite bekämpfen würde. Mit der Behauptung vom Blutkult eines weltum­span­nenden Geheim­bundes nutzt QAnon rechts­extreme und antise­mi­tische Versatz­stücke. Auch im deutsch­spra­chigen Raum ist die Verschwö­rungs­er­zählung verbreitet. Blogs oder Messenger-Kanäle unter­schied­licher Reich­weite nehmen auf sie Bezug. Insbe­sondere über Elemente der > Konspi­ri­tua­lität wird syste­ma­tisch an rechte Esoterik angeknüpft. So bezogen sich der antise­mi­tische Verschwö­rungs­ideologe Jan Udo Holey (alias Jan van Helsing) oder auch der rechte Esote­riker Jo Conrad auf Q‑Erzählungen.

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Theoso­phische Gesellschaft

Die Theoso­phische Gesell­schaft wurde 1875 von Helena P. Blavatsky (1831–1891) mitbe­gründet. Ihre okkulte anglo-indische Theosophie gilt als einfluss­reichste neuzeit­liche Esote­rik­be­wegung des 19. und frühen 20. Jahrhun­derts und ist von der gleich­na­migen mystisch-religiösen Theosophie zu unter­scheiden. Blava­tskys esote­rische „Geheim­lehre“ ist von spiri­tis­ti­schem Denken sowie hindu­is­ti­schen und buddhis­ti­schen Vorstel­lungen beein­flusst. Sie vermittelt eine übersinnlich erfahrbare Weltan­schauung, die die Essenz aller großen Religionen und Philo­so­phien in sich vereine. Elemente, wie die Vorstellung kosmi­scher „Menschen­rassen“ (Wurzel­rassen) wurden von anderen Strömungen wie > Anthro­po­sophie und > Ariosophie übernommen und weiterentwickelt.

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