„Wir müssen unsere Freiheit entschlossen verteidigen“

Mit den 68ern protes­tierte er gegen den Vietnam­krieg, dann wurde er Maoist, schließlich landete er bei den Grünen. Ralf Fücks, Leiter des „Zentrums Liberale Moderne“, hat die Irrungen und Wirrungen der deutschen Linken zwischen Pazifismus und Krieg hautnah miterlebt. Er meint: Angesichts von Wladimir Putins Bruta­lität müssen wir unsere Freiheit entschlossen vertei­digen – auch mit militä­ri­scher Abschreckung.

Herr Fücks, was macht Putins Überfall auf die Ukraine mit den Deutschen – einem Volk, von dem immer behauptet wurde, es sei im Grunde latent pazifistisch?

Was wir jetzt erleben, ist ein kollek­tiver Schock. Eine Mischung aus Erschrecken und Aufwachen in einer neuen Realität. Weite Teile von Politik und Bevöl­kerung hatten sich einge­richtet in einer Wunschwelt, die noch aus den 1990er Jahren stammt: Es gibt keine Gegner mehr, wir sind umzingelt von Freunden, die Zeit von militä­ri­scher Bedrohung ist vorbei, wir ernten jetzt die Friedens­di­vi­dende. Wir haben über Jahre verdrängt, dass diese Welt sich verändert hat, dass wir in einem neuen System­kon­flikt stehen mit gewalt­be­reiten autori­tären Mächten, und dass in Russland eine revan­chis­tische Macht heran­ge­wachsen ist.

Sie verwenden den Begriff „revan­chis­tisch“ für das Putin-Regime in Russland?

Haben Sie einen besseren? Putin verfolgt eine revan­chis­tische Großmacht­po­litik, er will das Imperium wieder­her­stellen und die Landkarte mit Gewalt neu zeichnen. Das hat er schon 2008 mit seinem Krieg in Georgien gezeigt, 2014 mit der Annexion der Krim, dann in Syrien, wo er Kranken­häuser und Schulen bombar­dieren ließ.

Foto: Russian Ministry of Defence /​ CC-BY-SA 4.0

78 Prozent der Deutschen finden die Waffen­lie­fe­rungen richtig, ebenso viele unter­stützten das zusätz­liche 100-Milli­arden-Paket für die Bundeswehr.

Als Olaf Scholz seine Kehrt­wende im Bundestag angekündigt hat, das war, als hätte jemand den Vorhang von einer Kulisse wegge­zogen, auf einmal wurde ein ganz neues Bühnenbild sichtbar. Deutschland durch­läuft einen drama­ti­schen Lernprozess. Was mich verblüfft ist dessen Geschwin­digkeit. Ich hatte eher gedacht, wir rutschen in eine Situation wie zu Anfang der 1980er Jahre in der Ausein­an­der­setzung um die Nato-Nachrüstung. Also in eine scharfe Polari­sierung der Gesell­schaft und Proteste auf der Straße. Nichts davon. Statt­dessen wie aus dem Erdboden riesige Demons­tra­tionen, die nicht einfach nur nach „Frieden“ rufen, sondern klar Position beziehen für das Recht des ukrai­ni­schen Volkes, seine Freiheit zu verteidigen.

Woran könnte das liegen, dass es nicht so ist wie damals beim Nato-Doppelbeschluss?

Die Ukraine ist uns plötzlich nah, räumlich und auch emotional. Bei allen Problemen, die es dort gibt, der Korruption, der Macht der Oligarchen: Wir sehen, dass es ein Land im Aufbruch ist, das seine Freiheit will. Diese zurück­hal­tende Kälte, die es bei uns jahrelang gab, die moralische Indif­ferenz und die Offenheit für die russische Propa­ganda – das ist auf einmal weg, jetzt, wo Putin die Ukraine und die Menschen dort zur Schlachtbank führen will. Es ist ein zutiefst verstö­rendes Erlebnis, das dazu führt, dass viele bereit sind, alte Glaubens­sätze in Frage zu stellen.

Zum Beispiel den: „Keine Waffen­lie­fe­rungen in Konfliktgebiete!“

Mit diesem Satz stimmte doch immer schon etwas nicht. Er lief darauf hinaus, eine Neutra­lität in militä­ri­schen Konflikten zu rekla­mieren, also nicht unter­scheiden zu wollen zwischen Angreifer und Vertei­diger, zwischen denen, die ihr Recht auf Selbst­ver­tei­digung wahrnehmen und einer überle­genen Militär­macht, die sie unter­werfen will. In der Konse­quenz ist das eine Partei­nahme für den Aggressor. Ausge­rechnet in einem Krieg sollen Waffen­lie­fe­rungen tabu sein – also dann, wenn die Angegrif­fenen sie dringend brauchen? Das ist nicht zu Ende gedacht. Deutschland wollte letztlich eine große Schweiz sein, die mit allen Geschäfte macht, aber sich aus allen Konflikten heraushält. Dieses Konstrukt fällt jetzt wie ein Kartenhaus in sich zusammen.

Foto: Jim Gordon /​ Flickr /​ CC-BY-SA 2.0

Begründet wurde die Ablehnung von Waffen­lie­fe­rungen aber moralisch: Wer Waffen liefert, fördert den Krieg.

Man kann in einer solchen Situation, wie wir sie jetzt in der Ukraine erleben, seine Hände nicht in Unschuld waschen. Auch wer nichts tut, macht sich schuldig: durch unter­lassene Hilfe­leistung. Politik heißt eben auch, Unter­schei­dungen zu treffen, Partei zu ergreifen, sich zu entscheiden zwischen Gut und Böse. Nicht alle sind gleich gleicher­maßen schuld an diesem Krieg. Es gibt einem Aggressor und eine Nation, die sich zur Wehr setzt. Das ist das Neue: Dass Deutschland sich entschieden hat, in dieser Ausein­an­der­setzung Partei zu ergreifen.

Gregor Gysi hat diese Tage gesagt: „Alles, was ich immer gesagt habe, ist an dem Tag gestorben, an dem ein völker­rechts­wid­riger Krieg beginnt.“ Glauben Sie, dass es im Moment vielen so geht, gerade unter Linken und Grünen?

Ich kaufe das nicht allen ab, die jetzt beteuern: „Wir haben uns geirrt.“ Man konnte schon lange wissen, was das für ein Regime in Moskau ist. Nehmen Sie nur die Putin-Legende von der drogen­ab­hän­gigen Nazi-Clique, die sich in Kiew an die Macht geputscht habe. Goebbels würde vor Neid erblassen über diese Lügen­pro­pa­ganda. Allzu viele haben ihr allzu lange nicht widersprochen.

Sie selbst sind in der westdeut­schen Linken politisch großge­worden. Haben Sie eigentlich Wehrdienst geleistet?

Gute Frage. Als sie aufkam, war ich schon in meiner links­ra­di­kalen Phase zwischen Schule und Studium in Heidelberg. Ich habe verweigert mit der Begründung, ich wollte mich nicht an einem imperia­lis­ti­schen Krieg betei­ligen. Das wurde natürlich nicht anerkannt. Zu Recht, denn das ist ja keine Ablehnung von Gewalt aus Gewis­sens­gründen. Ich wurde dann aber nicht einge­zogen, vermutlich wegen meiner radikalen Umtriebe. Ich galt wohl ein Sicherheitsrisiko.

Foto: Bundes­archiv, Bild 146‑2004-0092 /​ Wolf, Helmut J. /​ CC-BY-SA 3.0

Sind sind dann zum „Kommu­nis­ti­schen Bund“ (KBW) gegangen, einer maois­ti­schen Split­ter­partei. Wie wurde dort über das Thema Gewalt und Militär gedacht?

Wir träumten von der gewalt­samen Revolution in Deutschland und schwärmten für den antiim­pe­ria­lis­ti­schen Befrei­ungs­kampf in der Dritten Welt. Von Pazifismus keine Rede. Für meinen Ausstieg aus dieser Sackgasse spielte die Gewalt­frage eine zentrale Rolle. Ein Wende­punkt war das Erschrecken über den Terror der RAF. Diese Genick­schuss­men­ta­lität, an einer Haustür zu klingeln, mit einem Blumen­strauß in der Hand, und dann den Hausherrn zu erschießen. Oder Hanns-Martin Schleyer kaltblütig in seinem Verließ zu ermorden. Die Konse­quenz war für mich aber nicht ein politi­scher Pazifismus im Sinne der Ablehnung alles Militä­ri­schen. Vielmehr ging es um die Selbst­ver­pflichtung auf Gewalt­freiheit in der politi­schen Ausein­an­der­setzung, das ist etwas ganz anderes. Auch das war ein Grund, zu den Grünen zu gehen.

Sie haben die westdeutsche Friedens­be­wegung Anfang der 1980er Jahre erwähnt, die Hundert­tau­sende auf die Straße brachte. Auch sie waren dabei. Wie haben Sie diese Zeit erlebt? Und wie stark hat sie das Land geprägt?

Das war eine Massen­be­wegung. Die Grünen sind in den Bundestag gekommen durch die Kombi­nation von Anti-Atomkraft-Protesten und den Protesten gegen die Statio­nierung atomarer Mittel­stre­cken­ra­keten. Diese Anti-Raketen-Bewegung war aller­dings zu großen Teilen eine Anti-Nato-Bewegung. Da sollten wir uns nichts in die Tasche lügen. Es gab zwar einen Flügel, der solida­risch mit den Dissi­denten und Bürger­rechts­be­we­gungen in Osteuropa war und für Abrüstung in West und Ost eintrat. Aber die Mehrheit stellte die ameri­ka­ni­schen Atomra­keten als die eigent­liche Gefahr dar, nicht die russi­schen. Es gab beides: Einen authen­ti­schen Pazifismus als ethisches Prinzip – und einen Pseudo-Pazifismus als Fassade für Anti-Ameri­ka­nismus und „Raus aus der Nato“-Parolen.

Foto: Sven Simon /​ Imago Images

Russland hatte ab 1979 Afgha­nistan überfallen und nach einem brutalen Krieg besetzt. Aber anders als beim Vietnam­krieg gab es keine Massen­pro­teste. Bis zum Ukraine-Krieg war Ähnliches immer wieder zu beobachten: Scharfe Kritik an den USA gepaart mit Wegschauen, was Moskau betrifft oder sogar „Russland-Verste­herei“. Woher kommt dieser selektive Moralismus?

Das Verhältnis der Deutschen zu Amerika war immer zutiefst ambivalent. Da gab es einer­seits die Faszi­nation für Amerika als Inbegriff der Moderne und das Aufsaugen aller kultu­rellen Impulse, die von da kamen: Martin Luther King und die Bürger­rechts­be­wegung, Rock’n Roll und Blues, Woodstock und Hollywood. Und gleich­zeitig eine tiefsit­zende Antipathie.

Wie ist die erklärbar?

Ich erinnere mich noch an Gespräche, die ich als Kind bei Famili­en­treffen erlebte, wo es immer wieder um den ameri­ka­ni­schen „Bomben­terror“ im zweiten Weltkrieg ging. Und dieses Narrativ hat sich fortge­pflanzt bis zu den Protesten gegen den Nato-Einsatz im Kosovo-Krieg. Da tauchten dann Plakate auf mit dem Slogan: „Dresden – Hiroshima – Hanoi – Belgrad“. Es wurde eine Konti­nuität ameri­ka­ni­scher Kriegs­ver­brechen unter­stellt. In den Protesten gegen den Vietnam­krieg gab es die Parole „USA-SA-SS“. Amerika auf einer Stufe mit dem Natio­nal­so­zia­lismus. Unglaublich, aber so war es.

Warum war die westdeutsche Linke für diese Narrative so empfänglich?

Nehmen Sie das Bonmot von Henryk M. Broder: „Die Deutschen werden den Juden den Holocaust nie verzeihen.“ Man beschuldigt Israel, wenn es sich gegen den Raketen­terror der Hamas zur Wehr setzt, bezeichnet es als „Apart­heid­staat“ und attes­tiert damit den Nachkommen der Opfer deutscher Massen­ver­brechen, dass sie auch nicht besser sind als unsere Nazi-Väter und Mütter. Diese Täter-Opfer-Umkehr gibt es auch gegenüber den USA: „Wir werden den Ameri­kanern nie verzeihen, dass sie uns befreit haben.“ Die Söhne und Töchter der Wehrmachts­ge­ne­ration sind unter der Last einer schweren deutschen Schuld aufge­wachsen. Zur psycho­lo­gi­schen Entlastung haben sie dann den deutschen Verbrechen die der USA in Vietnam und anderswo gegen­über­ge­stellt. Seht Ihr, Ihr seid auch nicht besser! Damit war man dann gleichsam quitt. Gegenüber Russland gab es diese Form der psycho­lo­gi­schen Schuld­abfuhr nicht. Vielleicht wegen der Grausamkeit des deutschen Vernich­tungs­kriegs im Osten – die Sowjet­union musste sich ja vertei­digen gegen den deutschen Angriff, nachdem Stalin zuvor mit Hitler paktiert hatte. Gegenüber Russland gibt es ein schlechtes Gewissen – nicht aber gegenüber Amerika.

Auf den Friedens­demos wurde gerufen: „Nie wieder Krieg!“, „Stell Dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin“ oder auch „Raus aus der NATO – rein ins Vergnügen!“ Wie denken sie heute darüber?

Das war alles nicht zu Ende gedacht. Es ist eine halbierte Lektion aus der deutschen Geschichte, wenn man ausblendet, dass wir durch einen erbit­terten Krieg besiegt werden mussten. Jeder Krieg ist eine Tragödie, jeder Krieg, selbst ein gerecht­fer­tigter Krieg, ist eine mensch­liche Katastrophe. Deshalb müssen wir alles tun, um Konflikte möglichst gewaltfrei zu lösen und Kriege zu verhindern. Aber wenn man „Nie wieder Krieg!“ absolut setzt, verwischt man den Unter­schied zwischen einem Angriffs­krieg, der darauf abzielt,  andere Nationen zu unter­werfen, und einem legitimen Vertei­di­gungs­krieg gegen einen Aggressor. Am Ende ist dann alles gleich. Der deutsche Überfall auf Polen oder die Hunger­blo­ckade gegen Leningrad stehen dann auf der gleichen Stufe wie die Bombar­dierung Dresdens. Die funda­mentale Differenz zwischen einem ungerechten und einem gerecht­fer­tigten Krieg zu leugnen wird zum Alibi für eine bequeme ohne-mich-Position, wenn es um Auslands­ein­sätze der Bundewehr geht. Der deutsche Natio­nal­pa­zi­fismus zeigt hier seine egois­tische Seite: die Vertei­digung von Sicherheit und Freiheit will man mitsamt den damit verbun­denen Kosten lieber anderen überlassen. Dieser Egoismus wird mit einer höheren Moral des Gewalt­ver­zichts veredelt.

Hat das, was Sie „Natio­nal­pa­zi­fismus“ nennen die deutsche Haltung bis in die Gegenwart geprägt?

Ja, aber er wurde zunehmend brüchig, auch innerhalb meiner Partei. Die Ausein­an­der­setzung um die militä­rische Inter­vention in Bosnien und im Kosovo, das war  eine richtige Zerreiß­probe für die Grünen, bis hin zur Farbbeutel-Attacke auf Joschka Fischer. Da hat sich auf dem Balkan ein ethni­scher Natio­na­lismus ausgetobt, mitten in Europa, ein genozi­daler Krieg mit Verge­wal­tigung, Folter, Vertrei­bungen und Massakern wie in Srebrenica – und wir haben uns bis zum Exzess über eine militä­rische Inter­vention zur Beendigung dieses Gemetzels gestritten.

Foto: Sven Simon /​ Imago Images

Die einen haben gesagt: Deutschland darf nie wieder einen Krieg führen, das ist die Lehre aus Auschwitz. Die anderen haben gesagt. Wir müssen diesen Krieg führen. Denn genau das ist die Lehre aus Auschwitz.

Meine Position ist: Ich will nie wieder einen Angriffs­krieg aus Deutschland, nie wieder Krieg als Mittel imperialer Politik. Aber aus der Erfahrung von Krieg und Völkermord erwächst auch die Verpflichtung, denen zur Seite zu stehen, deren Leben und Freiheit bedroht sind. Auschwitz wurde ja nicht durch gewalt­losen Wider­stand befreit, sondern durch militä­rische Gewalt.

War das Verhältnis der bundes­deut­schen Linken zum Thema Gewalt und Militär letztlich eine einzige Abfolge von schweren histo­ri­schen Irrtümern?

So weit würde ich nicht gehen. Es gab innerhalb der Linken immer unter­schied­liche Haltungen, etwa zur Frage von Waffen­lie­fe­rungen an Israel oder zur Betei­ligung an humani­tären Inter­ven­tionen wie im Kosovo. Letztlich haben sich auch die Grünen mehrheitlich entscheiden: Wir können bei einem drohenden Völkermord nicht zuschauen. Aber Ihre Frage ist nicht unberechtigt. Wenn man die Geschichte der Linken kritisch reflek­tiert, verliert man zumindest das chronisch gute Gewissen – die Überzeugung, dass man immer auf der richtigen Seite der Geschichte gestanden hat.

Glauben Sie, dass das Bild, das wir von der Bundeswehr haben, sich jetzt ändert angesichts der Bedrohung, die von Russland ausgeht?

Wir hatten uns ja weitgehend verab­schiedet vom Prinzip der Bündnis­ver­tei­digung, also von der Möglichkeit des Krieges in Europa. Das gilt auch für die Fähigkeit zu militä­ri­scher Abschre­ckung. Es herrschte die Überzeugung vor: Unsere Sicherheit wird eher über Ausland­ein­sätze in weit entfernten Weltge­genden wie am Hindu­kusch verteidigt, dafür reichen hoch profes­sio­nelle Spezi­al­kräfte aus. Jetzt hat uns der Krieg  in der Ukraine mit einer neuen Wirklichkeit konfron­tiert, mitten in Europa. Der Glaube, wir könnten uns das Problem militä­ri­scher Sicherheit räumlich vom Leibe halten und damit auch mental verdrängen, hat sich als Illusion erwiesen. Der Krieg findet vor unserer Haustür statt. Damit rückt in unserer Wahrnehmung auch die Bundeswehr wieder näher.

Ab und zu Skandale um Berater­ver­träge oder Nazi-Klüngel – ansonsten hatten wir fast vergessen, dass es diese Bundeswehr überhaupt noch gibt.

Ja, aber das ist auch eine Konse­quenz aus der Abschaffung der Wehrpflicht. Dass die Distanz wächst zwischen der Bundeswehr und einer Gesell­schaft, die in ihrer großen Mehrheit gar keine Berührung mehr hat mit ihrer Armee und mit allem Militä­ri­schen. Wir haben unsere militä­rische Sicherheit praktisch ausge­lagert an eine profes­sio­nelle Truppe von Freiwil­ligen und Berufs­sol­daten – eine Sicher­heits­agentur namens Bundeswehr. Die sollte für uns Sicherheit produ­zieren, uns ansonsten aber mit der unbequemen Realiltät von Krieg und Gewalt nicht weiter behel­ligen. Wieder ein psycho­lo­gi­scher Verdrän­gungs­me­cha­nismus. Aber der funktio­niert jetzt nicht mehr. Das merken Sie ja schon, wenn Sie abends die Bilder aus der Ukraine in der „Tages­schau“ sehen.

Wären Sie dafür, die Wehrpflicht wieder einzuführen?

Wenn man sich die Geschichte anschaut, muss man sagen: Die Wehrpflicht ist eine fortschritt­liche, republi­ka­nische Insti­tution. Als Linker muss man also eigentlich dafür sein. Ich glaube aber, dass diese Art von Volksheer für den modernen, hochtech­ni­sierten Krieg nicht mehr passt. Dafür braucht man eine hoch profes­sio­nelle, bestens ausge­bildete und bewaffnete Truppe. Aber ich bin sehr dafür, dass das öffent­liche Bild der Bundeswehr gerade­ge­rückt wird. Dass Jugend- oder Bildungs­of­fi­ziere der Bundeswehr an Schulen nicht zugelassen werden, ist ein Unding. Wir haben eine Parla­ments­armee, die Soldaten werden vom Bundestag, also in unserem Auftrag, in Einsätze geschickt. Ihnen den Respekt zu verweigern heißt: Wir nehmen uns selbst nicht ernst. Ähnliches gilt für die Forderung: „keine Rüstungs­for­schung!“ Wir sind Mitglieder eines militä­ri­schen Bündnisses und wollen keine Rüstungs­for­schung? Eine völlige Schizo­phrenie. Wir sagen ja auch nicht: Wir betreiben ein Krankenhaus, wollen aber keine medizi­nische Forschung.

Die Bundeswehr trans­por­tiert mögli­cher­weise allein durch ihre Präsenz eine Realität, die man nicht zur Kenntnis nehmen will: Ja, es gibt Krieg, es gibt Gewalt.

Das könnte sein: Man verdrängt die Bundeswehr aus der öffent­lichen Wahrnehmung, weil man hofft, damit diese unange­nehmen Themen von Gewalt und Krieg beiseite schieben zu können. Man akzep­tiert sie allen­falls als humanitäre Hilfs­or­ga­ni­sation, die Menschen rettet und Brunnen bohrt. Der Kernauftrag der Bundeswehr ist aber nicht Entwick­lungs­zu­sam­men­arbeit. Sondern unsere Sicherheit und Freiheit mittels militä­ri­scher Abschre­ckung zu garan­tieren und notfalls auch dafür zu kämpfen.

Das ukrai­nische Volk zeigt Mut, Tapferkeit, Opfer­be­reit­schaft, Heimat­liebe. Das sind alles Werte, zu denen wir aufgrund unserer Vergan­genheit zu Recht ein gebro­chenes Verhältnis haben. Gleich­zeitig bewundern viele Deutsche aber auch den ukrai­ni­schen Staats­prä­si­denten Wolodymyr Selenskyj, wenn er in olivgrüner Kampf­mo­nitur per Video vor der Weltöf­fent­lichkeit erklärt, dass er bereit sei, für seine Heimat zu sterben. Was erleben wir da? Die Umwertung aller Werte – auch auf Seiten der Linken?

Der Berliner Politologe Herfried Münkler hat den Begriff von der „posthe­roi­schen Gesell­schaft“ geprägt. Jetzt erleben wir mit Selenskyj einen Staatsmann, der zugleich zivil und kampf­bereit ist. Wir sehen, wie Väter sich auf Bahnhöfen von ihren Kindern verab­schieden, um an die Front gehen. Sie wissen nicht, ob sie einander je wieder­sehen. Davor Respekt zu empfinden, dass Menschen bereit sind, ihr Leben zu riskieren für eine größere Sache, für die Vertei­digung der Freiheit und Selbst­be­stimmung ihrer Nation – das müssen wir erst mal an uns rankommen lassen. Eine unserer Töchter ist mit einem Israeli verhei­ratet und lebt in Jerusalem. Da war immer klar, dass man bereit sein muss, im Notfall zu kämpfen, weil es sonst Israel gar nicht mehr geben würde. Wer militä­risch erpressbar ist, der ist auch politisch erpressbar. Ich glaube, dass die neue Wehrhaf­tigkeit, die jetzt von uns verlangt wird, die Entschlos­senheit auch in militä­rische Vertei­digung zu inves­tieren, dass all das am Ende sogar das beste Mittel ist, um den Krieg zu verhindern. Das ist ja gerade das Paradoxe: „Si vis pacem para bellum“ – „Wenn Du Frieden willst, bereite Dich auf Krieg vor.“

Wie verträgt sich dieses Prinzip mit einer durch und durch zivilen Gesell­schaft wie der unseren?

Ihre Frage ist berechtigt: Passt das zusammen? Ich glaube, ja. Die Distanz zu Gewalt, die Wertschätzung jedes einzelnen Menschen­lebens und auch das Erschrecken über die Bruta­lität des Krieges, das sind alles zivili­sa­to­rische Fortschritte. Die Frage ist, ob wir es schaffen, humanitäre Sensi­bi­lität mit Wehrhaf­tigkeit zu verbinden, ja, ich riskiere jetzt mal den Begriff: sogar mit der Bereit­schaft, Opfer zu bringen. Wir wollen keinen Krieg mit Russland, weil das das Risiko des Dritten Weltkriegs und der gegen­sei­tigen Vernichtung bedeutet. Aber sind wir dann wenigstens bereit, ökono­mische Sanktionen zu verhängen, die uns auch was kosten? Ein Öl- oder Gasem­bargo gegen Russland, täuschen wir uns da nicht: das wird auch uns einiges abver­langen. Ivan Krăstev, ein brillanter europäi­scher Intel­lek­tu­eller aus Bulgarien, sagt: Heutzutage wird geopo­li­tische Stärke nicht dadurch bestimmt, wie viel wirtschaft­liche Macht man besitzt, sondern dadurch, wie viel Schmerz man ertragen kann. Das würde ich mir in dieser pathe­ti­schen Form gar nicht zu eigen machen. Es geht mir nicht um martia­lische Tugenden. Aber es braucht eine neue Entschlos­senheit, unsere freiheit­liche Lebensform zu vertei­digen, für Menschen­rechte und die Geltung des Völker­rechts einzu­treten. Notfalls auch militärisch.

Das Interview führte Tilman Gerwien für den Stern. 

Dies ist ein Nachdruck des am 7. März veröf­fent­lichten Interviews.

Textende

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