Input Paper „Sollte der EU-Kandidatenstatus für Moldau ein realistisches Ziel werden?“
Im Rahmen unseres Projektes „Östliche Partnerschaft Plus“ veröffentlichen wir eine Reihe von Input Papers zum Thema: Perspektiven und Wege zum EU-Kandidatenstatus für die Ukraine, Georgien und die Republik Moldau.
Für die Republik Moldau analysiert Oktawian Milewski die politische Lage und formuliert seine Handlungsempfehlungen an die EntscheidungsträgerInnen in Berlin und Brüssel, warum die EU ein geopolitischer Akteur werden sollte und dem Trio im Juni einen EU-Kandidatenstatus verleihen sollte.
Die aktuelle politische und gesellschaftliche Lage
Moldau ist von dem Krieg in der Ukraine in wirtschaftlicher, menschlicher und gesellschaftlicher Hinsicht stark betroffen. Das Land muss nun plötzlich mit einem beispiellosen Zustrom von Menschen aus der Ukraine zurechtkommen. Es handelt sich um 450.000 Menschen, von denen gegenwärtig 95.000 in Moldau wohnen. Für ein Land mit begrenzten wirtschaftlichen und administrativen Ressourcen hat Moldau diese Herausforderung bislang recht gut bewältigt. Allerdings hat diese Aufgabe der komplexen Gemengelage, mit der Moldau schon vor dem 24. Februar zu kämpfen hatte, Etliches hinzugefügt. Es hat die Arithmetik des Landes in Bezug auf seine Beziehungen zur Europäischen Union komplizierter gemacht.
Die zusätzliche Komplexität durch den Krieg in der Ukraine hat eine Wahrnehmung dafür geschaffen, dass die erhöhte Fragilität des Staates von der mangelnden Fähigkeit herrührt, die vielen Punkte auf der Agenda administrativ und finanziell zu bewältigen. Jetzt kommt die Krise mit den Flüchtenden hinzu. Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen der russischen Invasion in der Ukraine kommen zu der bereits bestehenden Krise in den Bereichen Energie und Gesundheit sowie letztlich auch in den Bereichen Wirtschaft, Finanzen, Arbeit und Militär hinzu. Moldau hat die Auswirkungen seiner ererbten Abhängigkeit von den Beziehungen zur EU zu spüren bekommen, was einer Frage von Scheitern und Überleben gleichkommt. Die schnelle Hilfe aus dem EU-Haushalt und die direkte Hilfe zur Bewältigung der Flüchtlingskrise haben es der Regierung erlaubt, auch diese humanitäre Krise durchzustehen.
Da sich die Aufmerksamkeit der Behörden auf Sicherheitsfragen durch den Krieg in der Ukraine verschob, haben sich die Reformen in der Justiz und die Identifizierung der finanziellen und menschlichen Ressourcen für die Reformen im Energiebereich noch stärker verzögert. Im Grunde gab es in den Monaten März und April bei Chișinăus Anstrengungen, so energisch wie möglich gegen die Korruption vorzugehen, eine Flaute. Hinzu kommt, dass die öffentliche Wahrnehmung durch eine Fülle vermeintlicher Gefahren in Bezug auf die Lage in Transnistrien und der autonomen Region Gagausien verzerrt wurde. Diese Fragen verstärkten die ohnehin bestehende Sorge in der moldauischen Gesellschaft über den Krieg in der Ukraine.
In den ersten neun Regierungsmonaten erreichte das Tandem Gavrilița/Sandu und die neue Generation, die in Moldau an die Macht gekommen war, einige Erfolge, das Land tatsächlich aus der Isolation zu holen und Systemreformen auf den Weg zu zu bringen. Bei Reporter ohne Grenzen rangiert Moldau 2022 auf dem Index zur Medienfreiheit auf Platz 40 (nach Platz 89 im Jahr 2021) und schnitt damit deutlich besser ab als Länder wie Rumänien (Platz 56), Polen (Platz 66) oder Ungarn (Platz 85). Moldau hat auch bei der Korruptionsbekämpfung vielversprechende Ansätze gezeigt, auch wenn zum Zeitpunkt, da dieser Beitrag verfasst wurde (Mai 2022), die Hoffnung verfrüht wäre, dass das Land vor Ende 2022 eine merkliche Verbesserung spüren wird. Laut Transparency International rangiert Moldau immer noch auf Platz 105 des Index zur Korruptionswahrnehmung (nach Platz 107 im Vorjahr).
Insgesamt wäre aber gewagt zu behaupten, Moldau habe den Punkt erreicht, an dem die Reformen des Systems bereits unumkehrbar sind. Es ist jedoch offensichtlich, dass das Land gegenwärtig von einer wirklich proeuropäischen und fortschrittlichsten Generation seit der Unabhängigkeit regiert wird.
Struktur des Prozesses zur Erlangung des Kandidatenstatus
Bis zum 24. Februar hatte Chișinău einen Kandidatenstatus als ein mittel- bis langfristiges Ziel betrachtet, also für eine Zeit in 3 bis 5 Jahren. Man hoffte, dass Moldau bis 2024/25, dem Ende der Amtszeiten des Präsidenten bzw. der Regierung den Status eines Beitrittskandidaten beantragen würde. Der Bearbeitungsprozess würde nach diesem Schritt mindestens ein Jahr oder länger dauern, wenn man frühere Erfahrungen der Westbalkan-Staaten berücksichtigt, die für Chișinău bis zum24. Februar als Orientierungspunkte galten. Also können wir getrost annehmen, dass man innerlich darauf eingestellt war, bis 2026 einen Kandidatenstatus zu erlangen. Ausgehend von dieser Kalkulation hatte Chișinău seine Reformstrategien,die den Weg zu einem Kandidatenstatus bereiten sollten, abgewogen und ausgerichtet,.
Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine hat diese Bezugspunkte vollkommen obsolet werden lassen und die Karten neu gemischt. Als die Ukraine am 28. Februar den Kandidatenstatus beantragte, kam es zu einem mentalen „Abriss aller Bühnen“, und zwar sowohl auf Seiten des Trios, als auch auf europäischer Seite. Angesichts der wegweisenden ukrainischen Entscheidung Ende Februar nahm Moldau den Integrationsprozess mit der EU nun ganz anders wahr und folgte der Ukraine am 3. März nur drei Tage später () mit dem formellen Antrag bei der EU auf einen Kandidatenstatus. Chișinău hat also umgehend reagiert und ist gleichsam auf den fahrenden Zug aufgesprungen, indem er die Gelegenheit nutzte, die sich durch den überraschenden Schritt der Ukraine bot.
Die Antwort in dem doppelten Fragenkatalog zum Kandidatenstatusvermittelte eine ungefähre Vorstellung von der Fähigkeit des Landes, die formalen Schritte zu diesem Prozess zu absolvieren. Chișinău mobilisierte nicht nur die verfügbare Bürokratie der Zentralregierung, die für die Beantwortung der beiden Fragebögen zuständig war, sondern erhielt auch beträchtliche Unterstützung durch Akteure der Zivilgesellschaften in Moldau und Rumänien. Eine Reihe zivilgesellschaftlicher Organisationen aus Rumänien sowie die Büros von rumänischen Europa-Abgeordneten in Brüssel halfen ebenfalls beim Ausfüllen der Fragebögen. Dies ist bezeichnend dafür, wie wichtig externe Unterstützung für Moldau ist, aber auch dafür, wie spärlich die menschlichen Ressourcen in Chișinău gesät sind.
Gegenwärtig wartet Moldau auf das Gipfeltreffen des Europäischen Rates im Juni, bei dem eine Entscheidung über die Kandidatur Moldaus fallen soll, wobei der Beschluss einstimmig fallen muss. Die Führung des Landes, insbesondere die Präsidentin und die Ministerpräsidentin, unternehmen eine politische Charme-Offensive gegenüber interessierten europäischen Regierungskanzleien, um die Chancen von Moldau auf einen Kandidatenstatus zu verbessern. Hier reicht schon ein Blick auf die Agenda der Arbeitsbesuche der moldauischen Führung.
Herausforderungen und die Rolle der Zivilgesellschaft
Für Chișinău besteht die größte Herausforderung gegenwärtig darin, eine ausreichend ruhige und berechenbare gesellschaftliche und politische Umgebung zu schaffen, um Reformen durchzuführen, die auf Rechtstaatlichkeit und Korruptionsbekämpfung abzielen. Diese zentralen Reformen haben sich wegen der sich überlagernden Krisen hingezogen, mit denen die Regierung Gavrilița seit den ersten Monaten nach Beginn ihrer Amtszeit im August 2021 zu kämpfen hatte.
Das Tandem Gavrilița/Sandu hat keine größeren Regierungsfehler gemacht, und es hat auch keine Krisen durch ein schlechtes staatliches Handeln, durch Korruption oder ähnliches gegeben. Die moldauische Exekutive musste aber eine Kaskade von Krisen bekämpfen, zu der die von Russland ausgelöste Energiekrise, die Corona-Pandemie und die sich daraus ergebenden wirtschaftlichen Turbulenzen gehörten. Die moldauische Wirtschaft ist 2021 zwar um fast 13 % gewachsen, doch könnte das Wirtschaftswachstum 2022 nur noch bei 0,3 % liegen. Die hohen Kosten für Energieträger haben eine Kettenreaktion aus sehr hohen Lebenshaltungskosten und der gegenwärtig höchsten Inflationsrate in Europa ausgelöst (27 % im Mai 2022). Das hat zu einem Rückgang der Popularität und Begeisterung für die Reformen geführt. Es sorgte auch für den Verlust der sozio-ökonomischen Gewinne, die die Regierung in den ersten Monaten ihrer Amtszeit mit ihrer Rentenreform erreicht hatte. Diese Effekte wurden durch die erwähnte Kettenreaktion zunichte gemacht. Vor diesem Hintergrund vertiefte die Krise durch den Angriffskrieg auf die Ukraine, die sich über die anderen Krisen legte, das Gefühl der Angst in der moldauischen Gesellschaft.
Die Zivilgesellschaft ist bereits ein sehr wichtiger stabilisierender Faktor, weil sie den Staat mit Expertise und der wichtigen Kraft versorgt, die für eine Beibehaltung eines reformfreundlichen Klimas notwendig ist. Die Zivilgesellschaft ist darüber hinaus eine Rekrutierungsquelle gewesen, um in der neuen Exekutive eine Reihe wichtiger Positionen neu zu besetzen. Allerdings sind hier die Kapazitäten begrenzt. Es besteht also eine starke Notwendigkeit, neue menschliche Ressourcen aus der moldauischen Diaspora zu rekrutieren. Das ist jedoch ein langfristiger Prozess, der zudem ein sehr motivierendes Belohnungssystem erfordert. Dwnn ohne ausreichende finanzielle Ressourcen und äußere Anreize durch internationale Partner ist ein solcher Durchbruch nicht möglich.
Bedeutung des Kandidatenstatus
Die Zuerkennung eines Kandidatenstatus für Moldau wird in Chișinău gleichsam als Licht am Ende des Tunnels wahrgenommen. Es könnte wahrlich ein strategischer Game Changer werden, mit einer beträchtlichen Mobilisierungswirkung für die Eliten, die öffentliche Verwaltung, die breite Bevölkerung und die moldauische Diaspora, von der 700.000 Moldauer:innen wohl bereits in der EU wohnen (bei einer Bevölkerung in Moldau von 2,7 Millionen). Neben der Schaffung eines echten strategischen Ziels für das Land (es wäre in dieser Hinsicht eine beispiellose Maßnahme) würde es auch die Attraktivität des Landes hinsichtlich der Entwicklungsfähigkeit beträchtlich erhöhen. Ein Kandidatenstatus würde das Land für die Diaspora, die eine sehr wichtige Ressource darstellt, attraktiver machen. Moldau hat sie in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten verloren, und sie könnte erheblich zu einem Aufbau des Landes zu einem wahrlich europäisierten Staat beitragen.
Die EU ist bereits der Bezugspunkt für Moldaus strategischen Kurs, allerdings ist noch nicht klar, ob der Bezugspunkt selbst seine Rolle auch so übernimmt, wie es in Chișinău erwartet wird. Anders gesagt: Die transformative Kraft der EU würde an Gewicht und Geschwindigkeit gewinnen, wenn Moldau einen Kandidatenstatus erhält.
Rolle der Reformen und des Assoziierungsabkommens
Wir müssen davon ausgehen, dass die Entscheidung, den Kandidatenstatus zu beantragen, absolut ungeplant und unerwart kam, auch wenn man intensiv davon geträumt haben mag. Es war die direkte Folge des umfassenden tektonischen Sicherheitsschocks für die osteuropäischen Partnerländer, der durch die russische Invasion in die Ukraine und den radikal anderen Blick auf die Sicherheit in Europa ausgelöst wurde. Vor jenem Augenblick hatte der Bericht des Europäischen Parlaments über die Umsetzung des Assoziierungsabkommens und der „vertieften und umfassenden Freihandleszone“ (DCFTA) vom November 2021 befunden, dass sich Moldau auf einem ermutigenden Reformweg bewegt, seit das Tandem Gavrilița/Sandu in Chișinău an die Macht kam. Die moldauische Führung folgte der normativen Anleitung der EU so eng wie möglich und ist entschlossen, diesen Kurs unbeirrt weiterzuverfolgen.
Der Hauptkurs der Reformen, die das Kabinett Gavrilița angestoßen hat, zielt auf den Ausbau der administrativen Funktionalität, der institutionellen Kapazitäten, der sozio-ökonomischen Widerstandsfähigkeit und auf eine allgemeine Stärkung des moldauischen Staates nach Jahrzehnten des Brain Drain und einer Kaperung des Staates durch halbkriminelle Netzwerke. Die wichtigste Reform, die derzeit unternommen wird, ist die Justizreform. Sie befindet sich noch in der Anfangsphase, nachdem sie durch den Kampf für eine echte Unabhängigkeit der Generalstaatsanwaltschaft und die oben beschriebene dreifache Krise verzögert wurde (Pandemie, Energie sowie Inflation und Lebenshaltungskosten). Es geht hier um die Funktionsfähigkeit einer zentralen Säule des Justizsystems, die aus rund 450 Staatsanwälten besteht, die wiederum in der Vergangenheit zu überwiegenden Teilen mit an der Kaperung des Staates und der institutionellen Untergrabung der moldauischen Gesellschaft beteiligt waren. Seit März und bis Ende 2022 werden die wichtigsten Gremien der moldauischen Staatsanwälte und Richter einem rechtlichen Überprüfungsprozess unterzogen, der das direkte Ergebnis eines speziell hierfür verabschiedeten Gesetzes ist. Im Kern sollte dieses Überprüfungsgesetz, das im Februar verabschiedet wurde, einer intensiven Gesundung des Justizsystems ein größeres Momentum verleihen. Es wird erwartet, dass, sobald die Staatsanwaltschaften ihre ordnungsgemäße Untersuchungs- und Anklagefunktionen wahrnehmen – was vermutlich im Herbst 2022 deutlicher sichtbar wird – der Reformschwung des übrigen Justizsystems die institutionellen Kapazitäten des Staates beleben wird, um weitere wichtige Reformen zu unterstützen. Eine verbesserte rechtstaaliche Umgebung würde die moldauischen Institutionen von kriminellen Elementen befreien und die Chancen für wirtschaftliche Entwicklung erhöhen, wodurch Moldau für ausländische Investitionen attraktiver wird.
Vor diesem Hintergrund verspricht der Kandidatenstatus eine klare strategische Zielsetzung und setzt für den gesamten moldauischen Staat und die Gesellschaft Standards. Diese Standards sind bereits durch das Assoziierungsabkommen, die DCFTA und die normative Standardisierung, die von Moldau im letzten Jahrzehnt allmählich unterrnommen wurde, auf dem Weg zur Umsetzung. Gegenwärtig sind diese Standards in Moldau institutionalisiert und werden in der Praxis verinnerlicht .
Die öffentliche Meinung in Moldau
Einer Umfrage zufolge, die von WatchDog Moldova und CBS Axa am 10. Mai durchgeführt wurde, ist die moldauische Gesellschaft in Bezug auf die Ansichten zum Ursprung des Krieges in der Ukraine in zwei ungefähr gleichgroße Teile gespalten. Fast die Hälfte der Gesellschaft stimmt dem russischen zu. Diese Situation ist eine direkte Folge des starken Einflusses russischer Medien auf dem moldauischen Medienmarkt. So glauben rund 40 % der Moldauer:innen, dass Russland für die Invasion in die Ukraine verantwortlich ist, während rund 37 % meinen, die Ukraine sei allein an dem Krieg schuld. Besorgniserregend ist auch, dass rund 20 % der Moldauer:innen nicht in der Lage waren, die Frage zu beantworten, wer in diesem Krieg die gute Seite ist und wer die böse. Allerdings hat der Krieg in der Ukraine einige Veränderungen bewirkt, was die Wahrnehmung der EU und die strategische Entscheidung der Moldauer:innen anbelangt. 55 % der Moldauer:innen würden die EU als Option für eine strategische Integration wählen, während nur 22 % sich für die Eurasische Wirtschaftsunion entscheiden würden. Die Diskrepanz ist noch nie so groß gewesen, seit diese Präferenzen abgefragt wurden. Es sollte auch bedacht werden, dass diese Meinungsumfragen nicht die Wahrnehmung der moldauischen Diaspora oder der Menschen in der abtrünnigen Region Transnistrien berücksichtigen. Würden die Ansichten in der Diaspora erfasst, besteht eine große Wahrscheinlichkeit, dass über 70 % der Moldauer:innen strategisch die EU bevorzugen würden. Gleichzeitig sind der gleichen Umfrage zufolge 54 % der Moldauer:innen gegen einen Beitritt zur NATO, was auch mit den russischen Mediennarrativen korreliert, die immer noch in Moldau dominieren.[1]
Seit Beginn des Jahres 2022 ist die öffentliche Meinung in Moldau schrittweise sehr viel kritischer gegenüber den regierenden Eliten in Chișinău geworden. Die moldauische Exekutive hat zwar bei ihrer Regierungsführung keine schwerwiegenden Fehler gemacht, doch haben die vielen Krisen, die sie zu bewältigen hatte, ihre Popularität erodieren lassen. Das sollte allerdings mit Blick auf die allgemeine Stabilität der politischen Lage in Moldau nicht als ein besorgniserregender Prozess betrachtet werden. Die proeuropäische Partidul Acțiune și Solidaritate (PAS; dt.: „Partei der Aktion und Solidarität“), die gemeinsam mit dem Tandem Gavrilița/Sandu das Parlament dominierte, stehen erst am Anfang ihrer Herrschaft, und derartige Erosionen sollten als offensichtliche Folge sowohl der Reformen zur Korruptionsbekämpfung und der Herstellung von Rechtstaatlichkeit betrachtet werden, wie auch als Effekt des immer noch prekären Medienkontexts, der von den vom Kreml gesponsorten Narrativen dominiert wird. Die Regierungspartei liegt in den Umfragen immer noch in Front. Die PAS hätte wohl 29 % der Stimmen erhalten, wenn Anfang Mai Wahlen stattgefunden hätten. Die prorussische Partei der Sozialisten der Republik Moldau hätte 22,5 % bekommen. Maia Sandu ist mit 40 % Zustimmung die populärste Führungsfigur in Moldau, gefolgt vom ehemaligen prorussischen Präsidenten Moldaus Igor Dodon mit 39 %. Als Dritter folgt Ion Ceban, der Bürgermeister von Chișinău, mit 37 %. Die Unterschiede werden deutlicher, wenn die Moldauer:innen gefragt werden, wem sie am meisten vertrauen. Hier liegt Mia Sandu mit 24 % vorn, Igor Dodon folgt mit 16 %, und für den flüchtigen Ilan Şor wären es 4 %.
Erwähnt werden sollte hier, dass Igor Dodon zur Zeit, da dieser Beitrag geschrieben wurde, wegen vier Verfahren in Haft ist (Bestechlichkeit, Verstrickung in betrügerische Parteifinanzierung, illegale Bereicherung und Hochverrat). Ihm drohen 20 Jahre Gefängnis. Ilan Şor ist ebenfalls wegen einer Vielzahl von Strafverfahren auf der Fahndungsliste der moldauischen Behörden und soll in Moldau seine Strafe absitzen. Allgemein wird die politische Bühne in Moldau immer noch souverän von einem einzigen politischen Schwergewicht dominiert, nämlich von Maia Sandu.
Szenarien
Es lassen sich auf Grund der Entwicklungen des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine Krieg und der Reaktion der EU auf die neue Sicherheitsarchitektur auf dem Kontinent vier potenzielle Szenarien entwerfen. Diese Szenarien sind auch abhängig davon, wie erfolgreich sich die russische Invasion gestaltet und wie standhaft die Ukraine bleiben wird.
Das erste Szenario ergibt sich aus Moldaus allmählichen Fortschritten, wobei ein von der EU verliehener Kandidatenstatus zusammen mit den damit einhergehenden Ressourcen den Weg konsolidieren würde, den die neue Generation mit dem Tandem Gavrilița/Sandu an der Spitze eingeschlagen hat. Bei diesem Szenario würde ein Erfolg der Reformen nicht nur den Staat konsolidieren, sondern auch die Generation der politischen Elite, die jetzt an der Macht ist. Deren Regierungszeit könnte auf ein ganzes Jahrzehnt hinaus abgesichert werden, was auf Moldau eine enorme transformative Wirkung hätte.
Das zweite Szenario wäre ein Status quo, der von Durchwursteln und zögerlichen Versuchen einer begrenzt erfolgreichen Staatsreform geprägt wäre, da die notwenigen materiellen und menschlichen Ressourcen fehlen würden. Dieses Szenario würde die Verweigerung oder den Aufschub eines Kandidatenstatus beinhalten und wäre gleichsam ein palliativer Ansatz für die prekäre Staatlichkeit Moldaus. Die Popularität der Amtsinhaber und deren Fähigkeit, auf die moldauische Gesellschaft einzuwirken, würden allmählich erodieren. Das könnte potenziell die Rückkehr einer Kombination aus prorussischen und kleptokratiefördernden Parteien begünstigen. Moldau würde bestenfalls einen Rückfall erleben und wieder zu turbulenten Zeiten einer oligarchischen Herrschaft wie seinerzeit unter Vladimir Plahotniuc zurückkehren.
Die ersten beiden Szenarien gehen davon aus, dass Russland mit seiner neoimperialen Agenda nicht vorankommt, und dass die Ukraine auf die eine oder andere Weise den Krieg gewinnt und ihre volle Souveränität zumindest in den Grenzen vom 23. Februar 2022 wiederherstellt, einschließlich einer Rückgewinnung des seit 2014 besetzten Donbas.
Die beiden folgenden Szenarien gehen davon aus, dass es Russland gelingt, die ukrainische Armee zu besiegen und die Kontrolle über die bis Ende Mai 2022 eroberten Gebiete aufrechtzuerhalten. Die EU würde dabei dem Trio einen Kandidatenstatus verwehren und es dadurch Russland erlauben, mit der strategischen Unklarheit für den Raum der Östlichen Partnerschaft zu spekulieren, und zwar mit beispielloser Geschwindigkeit und Aggressivität.
Das dritte Szenario wäre mit einer Verschlechterung der ohnehin schwierigen finanziellen und wirtschaftlichen Lage Moldaus verbunden und von einer schwachen Diversifizierung im Energiebereich, einem mangelndem demogaphischen Potenzial und einer schwelenden Instabilität in Bezug auf Transnistrien geprägt. Dieser Kurs wäre verbunden mit sozialen Unruhen, hoher politischer Instabilität und der Rückkehr einer Kombination aus „alter“ Oligarchie und prorussischen Parteien ans Ruder des Staates. Dieses Szenario würde vor Ablauf der jetzigen Amtszeit der Regierung (2025) eintreten, und zwar mit Hilfe von Umstürzen, die von Russland unterstützt und inszeniert werden würden. Moldau würde in eine Halbisolation und eine indirekte Abhängigkeit von einer von Russland diktierten strategischen Agenda zurückgeworfen.
Das vierte Szenario geht von einem de facto- oder de jure-Verlust der Souveränität durch ein Ausgreifen der russischen Invasion in der Ukraine oder einem vollkommenen russischen Sieg über die Ukraine und einer anschließenden Invasion in Moldau aus. Russland würde sein Imperium wiedererrichten und Europa eine Ordnung aufzwingen, die es so nur vor dem Zweiten Weltkrieg gegeben hat.
Gegenwärtig dürften die ersten beiden Szenarien am wahrscheinlichsten sein. Es wird viel davon abhängen, wie die Entscheidung des Europäischen Rates am 23./24. Juni ausfällt.
Empfehlungen an deutsche und EU-Entscheidungsträger
Moldau muss in erster Linie den ukrainisch-russischen Krieg gut überstehen, der das Land im Vergleich zur Ukraine bisher nur marginal getroffen hat. Allerdings ist bei den vielen Krisen durch die Flüchtlinge aus der Ukraine, durch asymmetrische Gefahren aus Transnistrien, durch permanente russische Erpressungsversuche mit Blick auf Energieleiferungen, durch die sehr hohe Inflation und durch die anhaltende Wirtschaftskrise die Fragilität des moldauischen Staates spürbar geworden.
Vor diesem Hintergrund benötigt Moldau kostengünstige finanzielle Ressourcen aus der EU und Deutschland. Die deutsch-französisch-rumänische Geberkonferenz vom 5. April in Berlin ist hier ein gutes Beispiel für Zusagen in dieser Richtung. Die Beteiligten hatten dort finanzielle Untersstützung für Moldau in Höhe von insgesamt 659,5 Millionen Euro versprochen. Allerdings bestehen nur rund 10 % dieser Summe aus Fördermitteln und kostengünstigen langfristigen Darlehen. Der Rest der Summe ist zwar sehr hilfreich für den moldauischen Bedarf, bedeutet aber auch eine langfristige Bürde für die Staatsverschuldung. Angesichts der gegenwärtigen Herausforderungen bräuchte Moldau mindestens die Hälfte dieser Gelder als jährliche Zuschüsse, bis das Land eine relativ solide makroeuropäische Stabilität erreicht hat (vermutlich in 3 bis 5 Jahren).
Moldaus Reform- und Stärkungskurs könnte durch vier weitere Schritte unterstützt werden. Der erste Schritt besteht aus makrofinanzieller Haushaltsunterstützung für eine verbesserte Diversifizierung der Energieimporte (Gas und Strom). Sobald Moldau sein Ziel erreicht hat, nicht mehr vonteuren russischen Energieressourcen abhängig zu sein, wird es freiere Hand bei der Umsetzung von Reformen haben und sich von der permanenten sozio-ökonomischen Erpressung durch Moskau befreien.
Der zweite Schritt besteht darin, den Zugang zum Governance-Prozess zu fördern und auch die Rückkehr von kompetenten menschlichen Ressourcen in das Land, was mit technischer und/oder technokratischer Hilfe in der staatlichen Verwaltung verbunden wäre. Die Rede ist hier nicht nur von Managern, sondern auch von Fachkräften in den Bereichen Bildung und Gesundheit. Solch eine gemeinsame Anstrengung sollte nicht nur auf die Zentralregierung ausgerichtet sein, sondern auch auf die kommunale Ebene. Die Praxis in der Vergangenheit hat jedoch gezeigt, dass die Schaffung solch institutioneller Rekrutierunginstrumente ohne Unterstützung durch den Westen (und durch die EU) nicht effektiv vorgenommen werden kann. Wir sprechen hier für den Anfang (6–12 Monate) von Hunderten Personen, die in der Zentralregierung wie auch vor Ort auf kommunaler Ebene benötigt werden. Ist ein solches Momentum geschaffen, wäre zu erwarten, dass sich ein zentripetaler Effekt herausbildet.
Der dritte Schritt ist die Vision und die Expertise zur Reform des institutionellen und normativen Geflechts des Staates. An dieser Stelle würde die moldauische Exekutive (die Kanzlei der Zentralregierung und die Präsidentin), die auch die Ministerien umfasst, durch die Expertise von 11 durch die EU finanzierten Beratern profitieren. Dieser Beitrag wäre allerdings mit Blick auf den Bedarf und die Hindernisse für Moldau nur die Spitze des Eisberges. Auch sollte ein Mechanismus konzipiert werden, um Moldauer:innen aus der Diaspora zurückzuholen, um Moldaus Reformfähigkeit zu verbessern und eine neue institutionelle Kultur zu etablieren.
Und schließlich muss der Bau und die Instandsetzung der kritischen Infrastruktur unbedingt jetzt erfolgen! Moldau stützt sich logistisch auf eine Infrastruktur, die nach russischen/sowjetischen Standards entworfen und gebaut ist. In den letzten drei Jahrzehnten hat sich Moldau nicht aus dieser strukturellen Abhängigkeit lösen können, weil es an einer Vision, an Motivation, Ressourcen und einer strategischen Zielsetzung fehlte. Gegenwärtig scheint sich eine solche Zielsetzung abzuzeichnen, vorausgesetzt, das Land könnte von massiven Investitionen profitieren. Hierfür gibt es keine andere Quelle als die Europäische Union. Der Status eines EU-Beitrittskandidaten könnte und sollte eine Quelle sein, um mit den Ressourcen, der Expertise und der Stabilität, die damit verbunden sind, eine Annäherung und eine Transformation hin zu europäischen Standards zu erreichen.
[1] Für weitere Details siehe: Sondaj socio-politic, Mai 2022, WatchDog Moldova and CBS-AXA, abrufbar unter: https://www.ipn.md/storage/ckfinder/files/Sondaj%20la%20comanda%20WatchDog%20si%20IPIS%20Mai%202022.pdf
Oktawian Miliewski, Correspondent for Radio France Internationale, Moldova
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