Wie Biotech­no­logie die Ernährung revolutioniert

Foto: Shut­ter­stock

Erhalt von Ökosys­temen, Kreis­lauf­wirt­schaft, redu­zierter Fleisch­konsum: Können wir durch den Einsatz von Mikro­or­ga­nismen nach­hal­tiger leben – ohne schmerz­li­chen Verzicht? Der Biologe und Wissen­schafts­kom­mu­ni­kator Martin Reich über die Revo­lu­tion aus dem Mikrokosmos.

Die Mensch­heit nutzt Mikro­or­ga­nismen bereits seit Jahr­tau­senden, um Lebens­mittel zu verfei­nern, haltbar zu machen oder sich an ihnen zu berau­schen. Anthro­po­logen sind überzeugt, dass sowohl die spiri­tu­elle Entwick­lung unserer Vorfahren als auch das Meistern der Neoli­thi­schen Revo­lu­tion, also des Übergangs vom Jagen und Sammeln zu einem sess­haften Leben mit Ackerbau und Viehzucht, durch Mikro­or­ga­nismen befördert oder gar erst ermög­licht wurden.

Mikro­or­ga­nismen als Verbün­dete im Kampf gegen den Klimawandel

Heute steht die Mensch­heit erneut an einem histo­ri­schen Schei­deweg. Knapp die Hälfte der bewohn­baren Erdober­fläche nutzen wir für die Produk­tion unserer Nahrungs­mittel. Klima und Ökosys­teme drohen aus den Fugen zu geraten. Und erneut könnten uns unsere Verbün­deten aus dem Mikro­kosmos helfen, diese Heraus­for­de­rungen durch eine biolo­gi­sche Revo­lu­tion zu meistern. Wenn wir ihnen doch nur mehr Beachtung schenken würden.

Heut­zu­tage nutzen wir Mikro­or­ga­nismen nicht nur für eine indus­tria­li­sierte Form der tradi­tio­nellen Fermen­ta­tion, mit der wir Käse, Sauer­kraut, Bier, Sauerteig, Essig und viele andere Lebens­mittel produ­zieren. Durch die Fort­schritte der Biotech­no­logie ist es seit einigen Jahr­zehnten möglich, wichtige Arzneien, Enzyme, Vitamine und Aromen mit genetisch verän­derten Mikro­or­ga­nismen herzu­stellen, anstatt sie aus Tieren, Pflanzen oder fossilen Rohstoffen zu gewinnen.

Promi­nente Beispiele sind das Insulin, für dessen Gewinnung früher absurd viele Tonnen tieri­scher Bauch­spei­chel­drüsen benötigt wurden, und das Labenzym Chymosin, das bei der Herstel­lung von Käse zum Einsatz kommt und früher nur aus Kälber­mägen gewonnen werden konnte.

Indem die jeweilige gene­ti­sche Infor­ma­tion für die Produk­tion dieser chemi­schen Verbin­dungen in einen passenden Mikro­or­ga­nismus eingebaut wurde, konnten die Tiere aus dem Prozess heraus­ge­kürzt werden. Für solche spezi­ellen Anwen­dungen, bei denen kleine Mengen hoch­prei­siger Stoffe herge­stellt werden, hat sich die Biotech­no­logie inzwi­schen als Methode der Wahl etabliert.

Viel­fäl­tige Einsatz­mög­lich­keiten biotech­no­lo­gisch opti­mierter Mikroorganismen

Und warum auch nicht? Wir haben uns das wachsende Verständnis für die Biologie der Mikro­or­ga­nismen und die Entwick­lung neuer Methoden zunutze gemacht, um die Herstel­lung unserer Lebens­mittel und Medi­ka­mente zu verbes­sern. Auch für viele weitere Anwen­dungen kommen biotech­no­lo­gisch opti­mierte Mikro­or­ga­nismen in Frage oder bereits zum Einsatz: für die Produk­tion von Kraft­stoffen und zahl­rei­cher Chemi­ka­lien, die Reinigung verschmutzter Gewässer und Böden, die Etablie­rung einer echten Kreis­lauf­wirt­schaft, in der alle Rest­stoffe durch Mikro­or­ga­nismen verwertet werden.

Doch der größte Hebel für den Erhalt einer lebens­werten Welt für kommende Gene­ra­tionen liegt in der Kombi­na­tion der tradi­tio­nellen Fermen­ta­tion mit den neuesten Methoden der Biotech­no­logie für die Produk­tion dessen, was auf unseren Tellern landet.

Mikro­bio­lo­gi­sche Ernährungsrevolution

Doch was ist daran neu, wenn wir doch bereits seit einigen Jahr­zehnten die Biotech­no­logie nutzen, auch für unsere Ernährung? Der große Unter­schied liegt darin, dass es nun nicht mehr nur um einzelne Hilfs­stoffe geht, wie das Labenzym, oder um Zutaten in geringen Mengen, wie Vitamine und Aromen. Es geht darum, die großen Bausteine unserer Lebens­mittel, also Proteine, Fette und Kohlen­hy­drate auf neue Weise herzu­stellen. Die aller­meisten Ressourcen und die meiste Fläche nutzen wir für die relativ inef­fi­zi­ente Umwand­lung von Pflanzen in Fleisch und andere tierische Lebens­mittel. Besonders die Weide­hal­tung liefert, obwohl sie für einen Großteil der Flächen­nut­zung verant­wort­lich ist, nur einen Bruchteil der Kalorien und Proteine, die weltweit verzehrt werden. Doch wie soll Fermen­ta­tion tierische Lebens­mittel ersetzen können? In meinem Buch stelle ich drei grund­le­gende Wege vor, wie dies gelingen kann.

Fermen­ta­tion sorgt für inten­si­veren Geschmack pflanz­li­cher Produkte

Erstens wird die tradi­tio­nelle Fermen­ta­tion, also die Verän­de­rung pflanz­li­cher Lebens­mittel, von Produ­zenten veganer Lebens­mittel momentan wieder­ent­deckt. Statt, wie früher, mehr oder weniger dem Zufall zu über­lassen, welche Arten von Mikro­or­ga­nismen das Sauer­kraut im Topf fermen­tieren, unter­su­chen Wissen­schaftler heute ganz genau, welche Art in Kombi­na­tion mit welchem Ausgangs­stoff zu erwünschten oder gar uner­war­teten Ergeb­nissen führt. Viele Mikro­or­ga­nismen sorgen für die berüch­tigte Geschmacks­rich­tung umami, die für tierische Produkte typisch ist und vielen Menschen beim Genuss pflanz­li­cher Lebens­mittel fehlt. Auch die Textur pflanz­li­cher Alter­na­tiv­pro­dukte kann durch Fermen­ta­tion positiv beein­flusst werden. Bereits mehrere solcher Produkte sind in Deutsch­land, Öster­reich und anderen Ländern auf dem Markt. Auf diese Weise kann Fermen­ta­tion also die unbedingt nötige Reduktion des Konsums tieri­scher Produkte und einen Umstieg auf pflanz­liche Lebens­mittel vorantreiben.

Essbare Mikro­or­ga­nismen aus Bioreaktoren

Zweitens ist es schon seit Längerem möglich, essbare und sogar sehr nahrhafte Mikro­or­ga­nismen in Massen zu vermehren und aus ihnen Lebens­mittel herzu­stellen (die Entwick­lung des Hefe­ex­trakts etwa geht auf den berühmten Chemiker Justus von Liebig zurück, der kurio­ser­weise aber nicht an Mikro­or­ga­nismen glaubte). Dies war bisher etwas, das im größeren Maßstab nur in Krisen­zeiten umgesetzt wurde (beispiels­weise während der beiden Welt­kriege), nun aber von zahl­rei­chen Startups neu belebt wird. Sie nutzen nahrhafte mikro­bielle Pilze oder auch Bakterien, lassen sie in Biore­ak­toren wachsen und ernten sie für die Herstel­lung von Lebens­mit­teln. Würden wir weniger Tiere und mehr Mikro­or­ga­nismen essen, könnten wir den Flächen­ver­brauch der Land­wirt­schaft radikal verklei­nern. Denn in der Effizienz der Umwand­lung pflanz­li­cher Nahrung sind die Einzeller den Rindern, Schweinen und Hühnern weit überlegen. Viele Pilze und Bakterien enthalten ein für unsere Ernährung hervor­ra­gendes Spektrum an Nähr­stoffen, können in großen Tanks, die jenen einer Bier­brauerei zum Verwech­seln ähneln, schnell und zuver­lässig produ­ziert und in leckere Produkte verar­beitet werden.

Präzi­si­ons­fer­men­ta­tion: Käse ohne Kuh, Eiweiß ohne Huhn

Drittens können inzwi­schen mithilfe der Biotech­no­logie, ganz ähnlich wie bei Insulin und Labenzym, tierische Proteine und Fette origi­nal­ge­treu mit Hilfe von Mikro­or­ga­nismen produ­ziert werden. Dazu wird ihnen die entspre­chende gene­ti­sche Infor­ma­tion im Labor einpro­gram­miert. Anschlie­ßend folgt ein Brau­pro­zess, ganz ähnlich der tradi­tio­nellen Fermen­ta­tion im heutigen indus­tri­ellen Maßstab: große Edel­stahl­tanks, in denen Mikro­or­ga­nismen gefüttert werden und ihr Werk verrichten. Käse ohne Kuh, Eiweiß ohne Huhn, aber auch Kakao­butter, Enzyme für Honig ohne Bienen und Palmöl ganz ohne die norma­ler­weise nötigen Pflanzen – all das und mehr wird durch die soge­nannte Präzi­si­ons­fer­men­ta­tion möglich.

„Wir können ohne schmerz­li­chen Verzicht nach­hal­tiger werden“

Hinter all diesen Möglich­keiten, wie Fermen­ta­tion uns ein Leben mit weniger Fleisch, Milch und Co. schmack­hafter machen kann, steckt dieselbe Theorie: wir können ohne schmerz­li­chen Verzicht nach­hal­tiger werden. Im Falle der Ernährung bedeutet dies, dass wir dank einer Revo­lu­tion aus dem Mikro­kosmos leckere und gesunde Lebens­mittel auf unseren zukünf­tigen Tellern haben und gleich­zeitig durch einen viel gerin­geren Flächen­ver­brauch Ökosys­teme erhalten können. Und nebenbei noch das mora­li­sche Dilemma auflösen, das viele von uns im Hinblick auf Tier­hal­tung plagt.

Dabei sehe ich drei Stufen, die wir auf dem Weg zum Ziel beschreiten könnten: zum Ersten könnten wir immer mehr Pflanzen an Mikro­or­ga­nismen statt an Tiere verfüt­tern. Dies würde die weitere Auswei­tung land­wirt­schaft­li­cher Flächen schon sehr effektiv bremsen.

Zweitens sollten wir die heraus­ra­gende Fähigkeit von Mikro­or­ga­nismen nutzen, fast jeden orga­ni­schen Stoff abbauen und verwan­deln zu können, um eine echte Kreis­lauf­wirt­schaft aufzu­bauen, die gleich­zeitig auch noch Nahrungs­mittel produ­ziert. Dabei geht es zum Beispiel um Reste aus der Land­wirt­schaft, die heute häufig an Tiere verfüt­tert werden, aber auch zahl­reiche Reste aus anderen Industriezweigen.

Drittens sollten wir spezielle Arten von Mikro­or­ga­nismen, die von Gasen statt von Pflanzen leben, für den Aufbau einer Lebens­mit­tel­pro­duk­tion nutzen, die gänzlich unab­hängig von der Photo­syn­these ist. Diese Art der Fermen­ta­tion nennt man Gasfer­men­ta­tion. Sie hat das revo­lu­tio­näre Potenzial, uns von Acker­bauern und Tier­hal­tern zu Brauern weiter­zu­ent­wi­ckeln. Auch an dieser Tech­no­logie arbeiten bereits heute einige Firmen.

In meinem Buch beschreibe ich, wie diese unter­schied­li­chen Verfahren funk­tio­nieren, was die Hürden auf dem Weg auf unsere Teller und die großen Chancen für Umwelt und Klima sind. Gleich­zeitig werden auch die Heraus­for­de­rungen, die eine solche Revo­lu­tion aus dem Mikro­kosmos für Wirt­schaft und Gesell­schaft mit sich bringen, beleuchtet. Die mikro­bio­lo­gi­sche Revo­lu­tion hat schon begonnen – in Forschungs­la­boren, modernen Braue­reien, Pionier­un­ter­nehmen in Industrie und Land­wirt­schaft. Jetzt kommt es darauf an, ihre Poten­tiale zu entfalten.

„Revo­lu­tion aus dem Mikro­kosmos“ ist beim Residenz Verlag erschienen und u.a. hier erhält­lich: https://www.residenzverlag.com/buch/revolution-aus-dem-mikrokosmos

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