Das messianische Prinzip – Bedrohung für das demokratische Israel
Warum die Pläne der israelischen Regierung nicht nur einen Systemwechsel bedeuten würden, sondern einen ideologisch-religiösen Umsturz. Richard C. Schneider über Agenda und Ideologie von Bezalel Smotrich und Itamar Ben Gvir.
Im Grunde hat man in Israel das Gefühl, dass Premier Benjamin Netanyahu die Zügel nicht mehr fest im Griff hat. Denn längst ist deutlich geworden, dass vor allem der neue Nationale Sicherheitsminister Itamar Ben Gvir sowie Finanzminister Bezalel Smotrich, der nun auch Minister für die zivilen Angelegenheiten in den besetzten Gebieten ist, die Agenda des jüdischen Staates zu bestimmen versuchen – neben den beiden „Treibern“ der sogenannten „Justizreform“: Justizminister Yariv Levin und Simcha Rothman, Vorsitzender des Komitees für Verfassung, Gesetz und Justiz.
Geplante „Justizreform“: Ende der Gewaltenteilung
Die „Justizreform“ sieht nichts weniger vor als die Aushebelung des Obersten Gerichts Israels – es soll in Zukunft nicht mehr die Politik kontrollieren können. Wenn es zukünftig neue Gesetze ablehnen sollte, weil sie den sogenannten „Basic Laws“ widersprechen – Gesetzen, die eine verfassungsähnliche Bedeutung haben – so könnte in Zukunft bereits die kleinste Mehrheit in der Knesset mit 61 von 120 Stimmen die Entscheidung der Richter überstimmen – das Gesetz ginge durch. Das nennt man das Ende der Gewaltenteilung, und ein Ende der Gewaltenteilung bedeutet das Ende der Demokratie in der Form wie man sie in Israel bislang kannte.
Wie sieht die Agenda von Smotrich und Ben Gvir aus?
Doch damit eben nicht genug. Denn es gibt eine Agenda, die danach, nach dem Ende der Demokratie begönne. Eine Agenda, die Smotrich und Ben Gvir vorantreiben. Wie sieht sie aus? Vereinfacht erklärt: Sie sieht einen jüdischen Staat vom Mittelmeer bis zum Jordan vor, in dem es einfach keinen Platz mehr für Palästinenser (geschweige einen Palästinenserstaat) geben wird. Denn die beiden sind zutiefst überzeugt, dass das gesamte Land den Juden von Gott verheißen worden ist – und demzufolge die endgültige Vereinnahmung nichts als die Umsetzung göttlichen Rechts sei. Und damit stehen sie nicht allein.
Die Halacha wäre das Gesetz des Staates
In der Konsequenz heißt das dann aber auch, dass Israel nicht mehr ein „demokratischer und jüdischer Staat“ wäre, wie bislang. Sondern ein jüdischer Staat, in dem – Smotrich sagt das deutlich – die Halacha, das Religionsgesetz das Gesetz des Staates sein würde. Liberalismus? Ade. Minderheitenrechte? Ade. Schutz der Nichtjuden? Ade. Wobei unterschieden werden muss, wie die Halacha von diesen Politikern und deren Anhängern ausgelegt und wie sie eigentlich einst und auch heute noch von vielen verstanden wird.
Smotrich, der sich selbst einen „faschistischen Homophoben“ nennt, kommt ideologisch aus einer etwas anderen Ecke als Itamar Ben Gvir. Smotrich ist ein Kind der Siedlerbewegung, die einst als „Gush Emunim“, als „Block der Getreuen“ begonnen hatte. Sie basierte auf der Überzeugung, dass man das biblische Israel, und zwar das ganze biblische Israel besiedeln und vorbereiten müsse auf die Ankunft des Messias. Mit diesem Auftrag, dieser Überzeugung gab und gibt es wenig Spielraum für eine Zwei-Staaten-Lösung.
Das „profane“ Israel für den Moment der Erlösung vorbereiten
Es geht darum, das heute noch „profane“ Israel vorzubereiten für den Moment der Erlösung. Der kommt in dem Augenblick, in dem der Messias endlich erscheint. Was diese „messianischen Juden“ tun, ist diesen Moment sozusagen erzwingen zu wollen.
Sie versuchen alles, um den Bau des „Dritten Hauses“ zu beschleunigen. Das Dritte Haus – damit ist der Dritte Tempel gemeint, der an genau derselben Stelle stehen soll wie schon der Erste Tempel des Salomon und der Zweite Tempel, von dem vor allem die Westmauer, die sogenannte „Klagemauer“, erhalten ist. Der Dritte Tempel wird erbaut – so die Schriften – wenn der Messias erscheint.
Was die ideologischen Siedler wollen, ist, dass er „jetzt“ „sofort“ kommt, dass die Erlösung des jüdischen Volkes und der Welt „gleich“ geschieht. Im extremsten Fall bedeutete das, die Al-Aksa Moschee und den Felsendom zu „beseitigen“ – beide stehen auf dem Tempelplateau genau dort, wo sich der Tempel und das Allerheiligste befanden. In den 1980er Jahren versuchte der sogenannte „Jüdische Untergrund“ mit ihrem Anführer Yehuda Etzion tatsächlich Al-Aksa und Felsendom in die Luft zu jagen. Dass das nicht gelang, lag einzig daran, dass der israelische Inlandsgeheimdienst Shin Bet diese jüdischen Terroristen dingfest machte, ehe sie ihre Pläne in die Realität umsetzen konnten.
Schleichende Übernahme des Tempelberges
Die Übernahme des Tempelbergs funktioniert heute längst anders. Immer häufiger gingen und gehen radikale Siedler und Religiöse auf das Tempelplateau – mit Genehmigung der aktuellen, aber auch vergangener israelischer Regierungen. Und in immer größeren Zahlen, sehr zum Leidwesen der Palästinenser, die das rundweg ablehnen. Vor allem aber beten immer mehr Juden oben auf dem Tempelberg, leise und still zwar, doch selbst das verbietet der WAQFF, die islamische Institution, die über die muslimischen Heiligtümer wacht, strikt. Al-Aksa ist für sie muslimisch, dort dürfen keine anderen Gebete gesprochen nehmen.
Auf diesem Wege erfolgt die „Übernahme“ schleichend, ebenso wie die endgültige Eroberung des Westjordanlandes. Man annektierte bislang nicht, man breitete sich nur aus. Smotrich will nun ganz offiziell annektieren. Das ist sein Ziel. Und immer mehr Siedlungen bauen, wohingegen er wohl den Palästinensern in der Area C, also in den 60% des Westjordanlandes, die Israel allein kontrolliert, kaum Baugenehmigungen geben wird.
Zur Erfüllung des göttlichen Plans müssen die Palästinenser verschwinden
Das Besondere an Smotrich ist nicht nur seine extremistische Vergangenheit – und Gegenwart – sondern die schamlose Ankündigung als Minister, seiner Ideologie treu bleiben und sie umsetzen zu wollen. Er sagt Dinge, die in einer demokratischen Regierung indiskutabel sind, so etwa, wenn er die Auslöschung des palästinensischen Städtchens Huwara fordert, in der es vor ein paar Tagen ein „Pogrom“ gab, wie der Armeekommandeur des Westjordanlandes es nannte. Kurz zuvor waren zwei israelische Siedler von einem Palästinenser ermordet worden. Der Überfall der Siedler auf das Städtchen war ein Racheakt. Noch am Tag danach forderte Smotrich öffentlich, Huwara auszulöschen. Zwar sagte er später, dies sei ein „slip of tongue“ gewesen, aber jedem war klar: Er meinte, was er sagte. Es entspricht seiner Ideologie, seiner Überzeugung, seiner anti-arabischen Haltung: Die Palästinenser müssen einfach verschwinden oder sich unterwerfen, damit sich der göttliche Plan, wie Smotrich ihn versteht, erfüllen kann.
Ben Gvir und die rassistische Ideologie des amerikanischen Rabbis Meir Kahane
Itamar Ben Gvir ist ähnlich und doch ganz anders. Auch er ist ein überzeugter Siedler und will mehr oder weniger dasselbe wie Smotrich. Doch seine ideologische Ausrichtung basiert auf den Lehren des amerikanischen Rabbis und Extremisten Meir Kahane, der 1990 ermordet wurde. Kahanes Ideologie, der sogenannten „Kahanismus“, war eindeutig rassistisch. Der extremistische Rabbi forderte nicht nur, dass Israel eine Theokratie werden müsse, sondern er hatte auch klare Vorstellungen, was mit den Nichtjuden im Land geschehen soll. Sie könnten entweder als „ansässige Fremde“ mit eingeschränkten Rechten im Land bleiben, oder Israel verlassen und für ihr Eigentum eine Kompensation erhalten, oder sogar gewaltsam vertrieben werden, ohne jegliche Kompensation. Kahane wollte auch sexuelle Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden verbieten lassen, jüdische und arabische Nachbarschaften strikt trennen und jegliche Begegnungen zwischen arabischen und jüdischen Studenten untersagen.
Aufbau der Jewish Defence League in den USA
Als er noch in den USA lebte, baute er die sogenannte JDL, die Jewish Defence League, auf, eine militante Gruppe, die auf Vergeltung aus war. Wann immer es in einem jüdischen Viertel in einer amerikanischen Stadt einen Übergriff gab, zogen die Männer des JDL los und schlugen in den Nachbarvierteln, aus dem der Angriff kam, zurück. So wurden Schwarze, Hispanics und viele andere Opfer des JDL, nachdem jene allerdings sich an jüdischen Amerikanern vergriffen oder angeblich vergriffen hatten. Der JDL zog aber bisweilen auch los, um ein „Zeichen“ zu setzen. Es war ein völlig neues Konzept in der jüdischen Diaspora. Eine eigene Wehrtruppe der jüdischen Bevölkerung, die sich nichts mehr gefallen ließ und sich vor allem auch nicht mehr auf die Einsatzkräfte des Staates verließ. Ein Stück jüdischer Anarchismus.
Das gemeinsame Ziel: Ein Judenstaat für Juden
So gibt es also viele Schnittstellen zwischen Ben Gvir und Smotrich, zwischen beiden Ideologien, selbst wenn sie sich in Struktur und Ausrichtung unterscheiden mögen. Am Schluss geht es nur um eines: Einen Judenstaat zu schaffen, der nach der Halacha geführt wird. Ein Judenstaat für Juden. Nicht für die Bürger des Staates. Ein Judenstaat, der Minderheiten nicht schützt, Frauen, die LGBTQ+ Gemeinschaft oder andere gegnerische Gruppierungen hemmungslos diskriminiert – und Palästineser im „Idealfall“ vertreibt.
Was Smotrich und Ben Gvir planen ist nichts weniger als ein System- Denk- und Glaubensumsturz, dem die „Justizreform“ den Weg bahnen soll.
Wachsende Proteste
Doch es gibt Hoffnung. Immer mehr Israelis gehen auf die Straße, streiken, wollen ihren Reservedienst in der Armee nicht mehr versehen, weil sie verstehen, was die Regierung Netanyahu plant. Immer mehr Israelis wollen ihre Demokratie verteidigen und bewahren. Sie hat Schwächen, keine Frage. Aber sie ist nach wie vor das beste politische System, das die Menschen sich ausgesucht haben. Und wer weiß, vielleicht wird der wachsende Widerstand gegen die Pläne der Regierung – fast 70% der Israelis sind laut Umfragen dagegen – dazu führen, dass die Politik beidrehen muss. Vielleicht wird diese Krise dazu führen, dass die liberalen Kräfte im Land danach eine Reform des politischen Systems in Angriff nehmen, die die Demokratie stabilisiert und besser schützt. Zum Wohle aller Bürger, aller Israelis.
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