Debatte Meinungs­freiheit:
In Europa ist die Meinungs­freiheit in Gefahr

Von Deutschland bis Großbri­tannien werden Bürger inzwi­schen routi­ne­mäßig für ihre Online-Aussagen ins Visier genommen, schreibt der deutsch-ameri­ka­nische Politik­wis­sen­schaftler Yascha Mounk in seiner Analyse und sieht die Meinungs­freiheit in Europa in Gefahr.

Stell dir folgendes Szenario vor: Die Innen­mi­nis­terin eines Landes, das sich selbst als Demokratie versteht, zeigt Dutzende Bürger bei der Polizei an, weil sie während ihrer Amtszeit kritische Aussagen über sie gemacht haben. Viele von ihnen werden zu saftigen Geldstrafen oder sogar Gefäng­nis­strafen verurteilt.

Verur­teilt wegen eines satiri­schen Memes

Aus Protest veröf­fent­licht ein Journalist ein satiri­sches Meme. Es zeigt ein echtes Foto der Innen­mi­nis­terin, auf dem das Schild in ihrer Hand digital so verändert wurde, dass darauf – frei erfunden – steht: „Ich hasse Meinungs­freiheit.“ Und um den Punkt noch einmal richtig zu unter­streichen, zeigt die Innen­mi­nis­terin den Journa­listen bei der Polizei an. Er wird tatsächlich straf­rechtlich verfolgt und bekommt nach einem kurzen Prozess eine auf sieben Monate zur Bewährung ausge­setzte Gefängnisstrafe.

Würdest du sagen, dass dieses Land ein Problem mit Meinungs­freiheit hat? Wenn ja, dann solltest du dir ernst­hafte Sorgen darüber machen, was in den letzten Jahren in Europa passiert ist. Denn – wie du wahrscheinlich schon direkt erkannt hast – dieses Szenario ist nicht ausge­dacht; es beschreibt die wahren Umstände eines aktuellen deutschen Gerichts­ver­fahrens. Und dieser Fall ist weitaus weniger ein Ausreißer, als viele ansonsten gut infor­mierte Beobachter glauben.

Die Politi­kerin, um die es geht, ist Nancy Faeser. Während ihrer mehr als drei Jahre im Amt hat die Sozial­de­mo­kratin mehrfach Bürger bei der Polizei angezeigt, weil sie sie in sozialen Medien kriti­siert hatten. Und sie ist damit keineswegs eine Ausnahme; andere Mitglieder der schei­denden Regierung von Olaf Scholz sind bei der Jagd auf Kritiker noch aggres­siver vorge­gangen. Robert Habeck hat seit seinem Amtsan­tritt als Vizekanzler 2021 über 800 Straf­an­zeigen initiiert. Eine davon richtete sich gegen einen Rentner, der eine Parodie auf eine allge­gen­wärtige Werbung des deutschen Shampoo-Herstellers „Schwarzkopf Profes­sional“ getwittert hatte – mit Habecks Gesicht (und seiner präch­tigen Haarpracht) unter dem Slogan „Schwachkopf Profes­sional“. Die Polizei ließ es sich nicht nehmen, um sechs Uhr morgens die Wohnung des Rentners zu durch­suchen, sein iPad zu beschlag­nahmen und ein Straf­ver­fahren gegen ihn einzuleiten.

Deutsch­lands Einschrän­kungen für US-Ameri­kaner schockierend streng

Manche Ameri­kaner würden jetzt sagen: So neu ist das doch gar nicht. Nach ameri­ka­ni­schen Maßstäben sind Deutsch­lands Einschrän­kungen der Meinungs­freiheit schon lange schockierend streng. Wie eine Freundin der Familie vor etwa zwanzig Jahren erfahren musste, kann selbst ein vergleichs­weise harmloser Streit unter vier Augen zu einem langwie­rigen Gerichts­prozess führen: Damals war sie Klavier­leh­rerin an der lokalen Musik­hoch­schule, eine sanft­mütige Dame, die schon weit über sechzig war. Auf dem Weg zur Arbeit wurde sie von einem Auto auf eine Weise geschnitten, die sie als gefährlich empfand – und zeigte dem Fahrer den Mittel­finger. Ein paar Stunden später stand der Fahrer am Tor ihrer Hochschule und verlangte, dass sie sich ausweise. Am Ende wurde sie von einem Gericht wegen „Belei­digung“ schuldig gesprochen und musste umgerechnet Tausende Dollar an Geldstrafe zahlen.

Seitdem ist es nur schlimmer geworden. In den letzten zehn Jahren haben eine ganze Reihe neuer Gesetze die Einschrän­kungen der Meinungs­freiheit noch weiter verschärft. Zuerst verpflichtete ein Gesetz – benannt, als wolle man jedes Klischee über die deutsche Sprache als schwer­fällig und bürokra­tisch bestä­tigen –, das Netzwerk­durch­set­zungs­gesetz, große Social-Media-Platt­formen dazu, mutmaßlich illegale Inhalte, von Hassrede bis zu persön­lichen Belei­di­gungen, zügig zu löschen. Das Gesetz verhängte derart hohe Strafen gegen soziale Netzwerke wie Twitter und Facebook, dass diese im Zweifel lieber zu viel als zu wenig zensierten, um weiterhin im Land operieren zu dürfen.

Als Wladimir Putin seine Möglich­keiten ausbauen wollte, die politische Opposition in Russland an den Rand zu drängen, übersetzte er kluger­weise zentrale Passagen des deutschen Gesetzes ins Russische – und wehrte Kritik an seinem Vorgehen gegen die Meinungs­freiheit damit ab, dass er doch bloß westliche Demokratien nachahme.

Wehrhafte Demokratie?

Dann schuf die schei­dende Mitte-Links-Regierung Deutsch­lands eine neue Regelung, die Politiker unter beson­deren Schutz stellt. Laut § 188 des deutschen Straf­ge­setz­buches drohen jedem, der eine kritische Bemerkung über eine politische Figur macht, die er nicht belegen kann, verschärfte Strafen – bis hin zu einer Freiheits­strafe von bis zu drei Jahren.
Genau dieses Gesetz rufen große deutsche Politiker heute routi­ne­mäßig an, um die Polizei dazu zu bringen, Bürger straf­rechtlich zu verfolgen – von gutgläu­bigen Kritikern bis zu gewöhn­lichen Social-Media-Trollen. So auch im Fall des Mannes, der die harmlose Parodie der Shampoo-Werbung mit Habeck gepostet hatte.

Deutsch­lands Geschichte hat dem Land ein besonders zwiespäl­tiges Verhältnis zur Meinungs­freiheit einge­bracht. Nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs erfand sich Deutschland als „wehrhafte Demokratie“ neu – eine Demokratie, die beson­deren Wert darauf legt, extre­mis­tische Kräfte mit den Mitteln des Rechts­staats zu bekämpfen. Infol­ge­dessen war es eines der ersten europäi­schen Länder, das offen radikale Äußerungen wie Hassrede oder die Leugnung des Holocaust unter Strafe stellte. Doch heute ist Deutschland längst kein Ausreißer mehr in Europa, im Gegenteil: Selbst Länder, die sich lange etwas auf ihre liberalen Tradi­tionen zugute­hielten, sind dem deutschen Vorbild gefolgt – und machen es nun erschre­ckend einfach, Bürger zu verhaften, die schockieren oder provozieren.

Liberale Tradi­tionen Großbritanniens

Ende Januar standen sechs Polizisten vor der Haustür von Maxie Allen und Rosalind Levine in Hertford­shire, Großbri­tannien. Nachdem sie kurz mit dem Ehepaar – in Anwesenheit ihrer kleinen Tochter – gesprochen hatten, nahmen sie die beiden in Polizei­ge­wahrsam, wo sie unter dem Verdacht, „böswillige Mittei­lungen“ verschickt zu haben, acht Stunden lang festge­halten wurden. Die Gründe für die Verhaftung von Allen und Levine sind schlichtweg erstaunlich. Unzufrieden mit der Grund­schule ihrer Tochter, hatten sie in einer WhatsApp-Gruppe für Eltern Fragen zum Auswahl­prozess eines neuen Schul­leiters gestellt. Als die Schul­leitung von der Kritik erfuhr, meldete sie Allen und Levine bei der örtlichen Polizei – die daraufhin prompt ein halbes Dutzend Beamte losschickte, um sie zu verhaften.

Da Großbri­tannien keine kodifi­zierte Verfassung besitzt, gibt es dort kein Pendant zum First Amendment der Verei­nigten Staaten. Aber der Schutz der Meinungs­freiheit hat im Common Law immer eine wichtige Rolle gespielt, und Großbri­tannien war lange stolz auf seinen Ruf als Heimat des freien Denkens. Als ich selbst als Teenager zum ersten Mal nach London reiste, spazierte ich zum Speaker’s Corner im Hyde Park und lauschte faszi­niert einer Parade von Spinnern, Predigern und Extre­misten, die vor amüsierten Schau­lus­tigen ihre Argumente vortrugen.

Der britische Commu­ni­ca­tions Act

Doch die Zeiten, in denen Briten frei und ohne Angst vor einer Gefäng­nis­strafe sagen konnten, was sie dachten, sind längst vorbei. Es begann, wie in vielen europäi­schen Ländern, mit Gesetzen gegen Hassrede. 1986 führte Großbri­tannien ein Verbot ein, „bedroh­liches oder belei­di­gendes Material zu veröf­fent­lichen, das zur Aufsta­chelung zu Rassenhass bestimmt ist“ – mit harten Gefäng­nis­strafen, aber immerhin einer vergleichs­weise klaren Definition dessen, was verboten war.

Das änderte sich 2003 mit der Verab­schiedung des Commu­ni­ca­tions Act.
Laut Abschnitt 127 kann heute jeder, der eine Nachricht über ein öffent­liches Kommu­ni­ka­ti­ons­netzwerk sendet, mit bis zu sechs Monaten Gefängnis bestraft werden, wenn diese als „grob belei­digend“, „unanständig, obszön oder bedrohlich“ oder als „falsch und absichtlich störend oder beläs­tigend“ einge­stuft wird. Wie diese vage Sprache schon andeutet, sind diese Straf­tat­be­stände extrem schwammig formu­liert. Was als „unanständig“ oder „grob belei­digend“ gilt, liegt ganz im Auge des Betrachters. Noch schlimmer wird es dadurch, dass britische Bürger wegen solcher Äußerungen vor sogenannten Magis­trates’ Courts landen – Gerichten, die sich norma­ler­weise um Bagatellen wie Ruhestö­rungen oder Trunkenheit in der Öffent­lichkeit kümmern; in der Praxis entscheiden also oft schlecht ausge­bildete Polizisten und Laien­richter ohne juris­tische Ausbildung darüber, was strafbar ist.

Rund 33 Verhaf­tungen täglich für Meinungsäußerungsdelikte

Es ist heute möglich – und sogar ziemlich üblich –, dass Briten wegen eines dummen Tweets für bis zu sechs Monate ins Gefängnis kommen, ohne je einen ausge­bil­deten Richter zu sehen oder ein Recht auf Geschwo­re­nen­prozess zu haben. (Wenn Angeklagten unter dem Gesetz von 1986 noch höhere Strafen drohen, behalten sie immerhin einige dieser grund­le­genden Verfahrensrechte.)

Durch diese weit gefassten Verbote und die Leich­tigkeit ihrer Durch­setzung ist Großbri­tannien mittler­weile einer der europäi­schen Spitzen­reiter darin, Menschen wegen ihrer Äußerungen straf­rechtlich zu verfolgen – und sogar einzu­sperren. Wie die Times of London kürzlich berichtete, „nahmen Beamte von 37 Polizei­be­hörden im Jahr 2023 insgesamt 12.183 Festnahmen [unter Abschnitt 127] vor.“ Das bedeutet, dass im Verei­nigten König­reich durch­schnittlich mehr als 33 Menschen pro Tag für das, was sie im Internet gesagt haben, verhaftet werden.

Viele dieser Menschen haben, wie Allen und Levine, überhaupt nichts falsch gemacht. In einem besonders erschre­ckenden Fall wurde eine 21-jährige Frau straf­rechtlich verfolgt, weil sie einen Fußball­spieler in den sozialen Medien mit dem N‑Wort bezeichnet hatte – obwohl sie selbst dunkel­häutig ist. In einem anderen Fall geriet eine schot­tische Großmutter ins Visier drako­ni­scher Gesetze, die faktisch Sprech­ver­bots­zonen rund um Abtrei­bungs­kli­niken geschaffen haben. Die 74-jährige Rose Docherty hielt still ein Schild hoch, auf dem stand: „Zwang ist ein Verbrechen, hier zum Reden, nur wenn du möchtest“ – vier Polizisten nahmen sie daraufhin prompt fest. In einem weiteren Fall wurde ein 16-jähriges autis­ti­sches Mädchen in West Yorkshire von der Polizei überwältigt und verhaftet – unter dem Verdacht eines homophoben Hassver­bre­chens, weil sie gesagt hatte, ein Polizist sehe aus wie ihre „lesbische Oma.“ (Ihre geliebte Großmutter ist tatsächlich lesbisch.)

In anderen Fällen haben Menschen, die sich zweifellos moralisch verwerflich verhalten haben, Strafen erhalten, die in schockie­render Weise außer Verhältnis zu ihrem Fehlver­halten stehen. In den hoch emotio­nalen Stunden nach dem Mord an drei jungen Mädchen bei einer Taylor-Swift-Party in Southport im Juli 2024 durch Axel Rudakubana zum Beispiel postete Lucy Connolly, die Ehefrau eines Lokal­po­li­tikers der Konser­va­tiven Partei, einen Tweet, der eindeutig rassis­tisch ist: „Massen­ab­schiebung jetzt, zündet meinet­wegen alle verdammten Hotels voller dieser Bastarde an... Und wenn mich das zum Rassisten macht, was soll’s.“

Nach den Maßstäben des First Amendment in den USA würde ein solcher Tweet vermutlich als geschützte Meinungs­äu­ßerung gelten. Nach den stren­geren und weniger klar definierten briti­schen Standards kann ein Tweet wie dieser jedoch schnell zu einer langen Gefäng­nis­strafe führen. Connolly wurde zu 31 Monaten Haft verurteilt.

Falsch­be­haup­tungen, Lügen, Hassrede

Die Einschrän­kungen der Meinungs­freiheit in Europa dürften in naher Zukunft noch weitrei­chender werden. In der Verein­barung, die die Politik der kommenden Regierung festlegt, schreibt die Koalition, die Deutschland in den nächsten vier Jahren regieren soll, dass „die wissent­liche Verbreitung falscher Behaup­tungen nicht von der Meinungs­freiheit gedeckt“ sei – ein unglaublich weit gefasster Maßstab, der poten­ziell alles krimi­na­li­sieren könnte, von gewöhn­lichen Lügen bis hin zu kontro­versen Aussagen, die die Regierung willkürlich als „Desin­for­mation“ einstuft. In Polen hat das nationale Parlament kürzlich ein Gesetz verab­schiedet, das den Schutz­be­reich gegen „Hassrede“ deutlich ausweitet – auf Kategorien wie Alter oder Behin­derung. Und zunehmend schreibt sogar die Europäische Union selbst ihren Mitglied­staaten vor, ihre Bürger zu zensieren.

Deutsch­lands Netzwerk­durch­set­zungs­gesetz diente als Vorbild für ein ähnliches Gesetz auf europäi­scher Ebene; um irgendwo in der EU operieren zu dürfen, müssen soziale Netzwerke jetzt Beiträge, die mögli­cher­weise gegen eine der 27 Regel­werke zu Hassrede der Mitglieds­staaten verstoßen könnten, zügig löschen. Gleich­zeitig hat die Europäische Kommission kürzlich vorge­schlagen, „Hassrede“ in die kleine Liste der „EU-Straf­taten“ aufzu­nehmen; auch wenn die EU-Verstöße gegen solche Regeln nicht selbst verfolgt, verpflichtet sie ihre Mitglied­staaten dazu, entspre­chende Gesetze zu erlassen.

Ein morali­scher sowie prakti­scher Fehler

Europas Begeis­terung für strenge und schwammig definierte Einschrän­kungen der freien Meinungs­äu­ßerung ist sowohl ein morali­scher als auch ein prakti­scher Fehler.
Ein gewisses Maß an Uneinigkeit darüber, wo genau die Grenze zwischen bloß moralisch verwerf­licher und straf­barer Rede verläuft, ist vielleicht unver­meidlich – selbst in Debatten, die auf der Gültigkeit des First Amendment basieren. Und auch wenn ich persönlich an den univer­sellen Wert des ameri­ka­ni­schen First Amendment glaube, ist es nachvoll­ziehbar, dass andere Länder mit anderen politi­schen Tradi­tionen eine etwas weiter gefasste Vorstellung davon entwi­ckeln, was als Aufruf zur Gewalt gilt oder wann falsche Aussagen in den Bereich der üblen Nachrede übergehen.
Aber in der Praxis sind die europäi­schen Einschrän­kungen der Meinungs­freiheit längst weit über den Bereich vernünf­tiger Meinungs­ver­schie­den­heiten hinaus­ge­schossen: Sie sind inzwi­schen so umfassend, dass alle klassi­schen Argumente über die Gefahren staat­licher Zensur voll und ganz auf sie zutreffen.

Die Rolle des Zensors

Philo­sophen haben tradi­tionell für die Meinungs­freiheit plädiert, indem sie die positiven Dinge betonten, die sie ermög­licht. Wie John Stuart Mill so schön formu­lierte, setzen Einschrän­kungen der Meinungs­freiheit immer die Unfehl­barkeit des Zensors voraus; und doch zeigt das Schicksal einiger der bedeu­tendsten Denker der Mensch­heits­ge­schichte, von Sokrates bis Galileo Galilei, dass das, was heute als unumstößlich wahr erscheint, sich morgen als offen­sichtlich falsch heraus­stellen kann. Es gibt, wie Mill anmerkte, sogar eine Gefahr darin, selbst solche Meinungen zu zensieren, die sich tatsächlich als falsch erweisen; wenn wir nicht in der Lage sind, demokra­tische Insti­tu­tionen gegen ihre schärfsten Kritiker zu vertei­digen, werden wir sie eher als tote Dogmen denn als lebendige Wahrheiten bewahren – und das wird, sobald solche Verbote aufge­hoben werden, die Arbeit ihrer Gegner nur umso leichter machen.

Beide dieser Einsichten haben sich als hochre­levant für unsere eigene Zeit erwiesen. Es ist verfüh­re­risch zu glauben, dass wir klüger und toleranter seien als die Zensoren, die Sokrates und Galileo verfolgten. Aber während meiner eigenen Lebenszeit wurden Schwule und Lesben noch regel­mäßig entlassen, wenn sie öffentlich zu ihrer sexuellen Orien­tierung standen, und große soziale Netzwerke wie Facebook und YouTube sperrten Beiträge, die nahelegten, dass COVID aus einem Labor stammen könnte.

Auch Mills Argument über „lebendige Wahrheiten“ erschien mir anfangs etwas abstrakt, als ich es als Student zum ersten Mal las. Aber die Leich­tigkeit, mit der Menschen quer durch das politische Spektrum, die sich lange zur liberalen Demokratie bekannt hatten, in den letzten Jahren bereit waren, ihre Grund­werte aufzu­geben, zeigt, wie weitsichtig seine Sorge um die Schwäche „toter Dogmen“ war.

Meinungs­freiheit in Zeiten von Desin­for­mation und Bedrohung der Demokratie

Trotzdem verstehe ich, warum die positiven Aspekte der Meinungs­freiheit in einer Zeit, in der die Demokratie in vielen Ländern ernsthaft bedroht ist, wie ein fernes Anliegen wirken können. Wiegt die Bedrohung durch „Desin­for­mation“ nicht schwerer als die Vorteile der Meinungs­freiheit? Und ist es nicht wichtiger, die Demokratie zu retten, als sich um Feinheiten der freien Rede zu kümmern? Deshalb (wie ich in meinem letzten Buch The Identity Trap argumen­tiert habe) sind die stärksten Argumente für die Meinungs­freiheit nicht die, die auf das Gute hinweisen, das passiert, wenn wir sie schützen – sondern die, die auf das Schlimme zeigen, das passiert, wenn wir es nicht tun.

Trauri­ger­weise illus­trieren die Entwick­lungen in Europa perfekt diesen Punkt: Anstatt die Demokratie zu stärken, haben Einschrän­kungen der Meinungs­freiheit sie geschwächt. Das angeb­liche Ziel von Gesetzen gegen Hassrede ist es, die Schwachen vor Belei­digung oder Vikti­mi­sierung zu schützen. Aber praktisch gesehen haben dieje­nigen, die entscheiden dürfen, welche Rede erlaubt ist und welche verboten, zwangs­läufig viel Macht – seien es Richter und Politiker oder leitende Angestellte von Tech-Unter­nehmen. Es ist deshalb kaum überra­schend, dass viele der Menschen, die wegen ihrer Meinungs­äu­ße­rungen straf­rechtlich verfolgt wurden – von einer jungen dunkel­häu­tigen Studentin in Großbri­tannien bis hin zu einem alten Rentner in einer deutschen Klein­stadt – relativ machtlos wirken.

Meinungs­freiheit und Machterhalt

Ein weiterer negativer Effekt von Einschrän­kungen der Meinungs­freiheit ist, dass sie die Bedeutung von Macht­erhalt massiv erhöhen. Ein zentrales Versprechen der Demokratie ist, dass du deine Ansichten auch dann vertreten kannst, wenn du eine Wahl verlierst – und deshalb einen Anreiz hast, die Spiel­regeln zu akzep­tieren, in der Hoffnung, beim nächsten Mal zu gewinnen. Aber wenn dieje­nigen, die an der Macht sind, die Meinungs­äu­ße­rungen derje­nigen krimi­na­li­sieren können, die es nicht sind, wird die Bereit­schaft, die Spiel­regeln zu akzep­tieren, drastisch sinken. Deshalb führen Einschrän­kungen der Redefreiheit, die angeblich politische Mäßigung fördern sollen, oft dazu, dass sie die Flammen des Extre­mismus noch weiter anheizen – und der scheinbar unauf­haltsame Anstieg der Einschrän­kungen der Meinungs­freiheit fällt zusammen mit dem scheinbar unauf­halt­samen Aufstieg der extremen Rechten.

Das Argument für starke Einschrän­kungen der Meinungs­freiheit beruht unaus­ge­sprochen auf der Vorstellung, dass solche Maßnahmen histo­risch notwendig gewesen seien, um unsere demokra­ti­schen Insti­tu­tionen zu bewahren – und dass sie deshalb gerade in Zeiten des zuneh­menden Autori­ta­rismus besonders gerecht­fertigt seien. Aber dieses Argument ist gleich in zweifacher Hinsicht histo­ri­scher Unsinn.

Einschränkung der Meinungs­freiheit zum Schutz der Demokratie?

Es setzt fälsch­li­cher­weise voraus, dass frühere Zusam­men­brüche der Demokratie auf ein Zuviel an Meinungs­freiheit zurück­zu­führen seien – obwohl das Gegenteil näher an der Wahrheit liegt. Die Weimarer Republik zum Beispiel, die oft als Parade­bei­spiel für die Notwen­digkeit einer „wehrhaften Demokratie“ mit Zensur­maß­nahmen angeführt wird, hatte weitrei­chende Einschrän­kungen der Meinungsfreiheit.
Tatsächlich verschaffte das Richtern erheb­lichen Spielraum, ihre Freunde zu begüns­tigen und ihre Feinde zu verfolgen, was das Vertrauen in die Neutra­lität der demokra­ti­schen Insti­tu­tionen massiv untergrub, die Polari­sierung beschleu­nigte und Extre­misten in die Hände spielte.

Dieses Argument setzt außerdem fälsch­li­cher­weise voraus, dass Einschrän­kungen der Meinungs­freiheit heute dazu beitragen, die Demokratie zu stabi­li­sieren, obwohl die Beweise, einmal mehr, eher in die entge­gen­ge­setzte Richtung deuten. Über die vergan­genen Jahrzehnte hinweg sind europäische Länder viel restrik­tiver darin geworden, was sie ihren Bürgern zu sagen erlauben und wie leicht sie sich das Recht vorbe­halten, dieje­nigen ins Gefängnis zu werfen, die sich nicht daran halten. In denselben Jahrzehnten sind hasserfüllte Ansichten im öffent­lichen Diskurs deutlich präsenter geworden, und Extre­misten haben erheblich an Popula­rität gewonnen.

Zensur unter­gräbt Vertrauen in demokra­tische Institutionen

Korre­lation muss natürlich nicht Kausa­lität bedeuten. Aber es gibt gute Gründe zu glauben, dass die beiden Phänomene mitein­ander zusam­men­hängen. Zensur verändert nicht, was Menschen denken. Im Gegenteil: Sie verdrängt echte Sorgen an den Rand der öffent­lichen Diskussion, macht es moderaten politi­schen Kräften schwerer, auf sie einzu­gehen, unter­gräbt das Vertrauen in die Anstän­digkeit demokra­ti­scher Insti­tu­tionen und stili­siert die Zensierten zu Märtyrern.

Wenige Dinge, die ich heutzutage tue, bringen mir so zuver­lässig strenge Kritik von meinen Lesern ein – und manchmal sogar so wütende E‑Mails, dass sie in irgend­einem europäi­schen Land womöglich wegen „böswil­liger Kommu­ni­kation“ straf­rechtlich verfolgt werden könnten – wie mein gelegent­liches Beharren darauf, dass Europa ein ernst­haftes Problem mit der Meinungs­freiheit hat. Statt auf jede dieser Nachrichten einzeln zu antworten, habe ich mich entschieden, mich hinzu­setzen und syste­ma­tisch meinen Stand­punkt darzu­legen. Trauri­ger­weise haben mich die schockie­renden Beispiele, auf die ich bei der Recherche gestoßen bin, nur noch mehr davon überzeugt, wie gravierend das Problem ist. Ohne eine ernst­hafte öffent­liche Debatte darüber sind europäische Länder langsam in einen Zustand hinein­ge­rutscht, in dem der Staat mit erschre­ckender Leich­tigkeit Menschen für das, was sie sagen, ins Gefängnis stecken kann.

Heuch­le­rische Kritiker aber reale Probleme

Ja, einige Extre­misten berufen sich aus eigen­nüt­zigen Motiven auf die Meinungs­freiheit. Und ja, J. D. Vances scharfe Kritik an Europas Einschrän­kungen der Meinungs­freiheit war angesichts der Versuche der Trump-Regierung, die freie Rede ihrer Kritiker einzu­schüchtern, ziemliche Heuchelei. Aber nur weil einige derje­nigen, die auf ein Problem hinweisen, selbst nicht glaub­würdig sind, heißt das nicht, dass es das Problem nicht gibt – und wer sich blind darauf versteift, in jeder Frage das Gegenteil von Leuten wie Vance zu vertreten, überlässt ihnen letztlich die Entscheidung darüber, was er oder sie selbst glaubt.

Meinungs­freiheit wieder­her­stellen und lebendige Debatten führen

Europas weitrei­chende Einschrän­kungen der Meinungs­freiheit haben bereits zu zahlreichen schweren Justiz­irr­tümern geführt. Sie erzeugen inzwi­schen eine erheb­liche abschre­ckende Wirkung auf die Möglichkeit, sich an einer leben­digen politi­schen Debatte zu betei­ligen – eine Debatte, die auch die Freiheit einschließen muss, unpopuläre Meinungen zu äußern und die mächtigsten Personen der Gesell­schaft zu parodieren, sei es geschmackvoll oder geschmacklos. Anstatt den europäi­schen Ländern dabei zu helfen, die Extre­misten, die nun an die Türen der Macht klopfen, einzu­dämmen, hat diese Einschränkung der freien Rede sie wahrscheinlich zu Märtyrern gemacht und ihre öffent­liche Unter­stützung vergrößert.

Europa hat ein ernst­haftes Problem mit der Meinungs­freiheit. Statt ihre Bürger immer weiter für das zu bestrafen, was sie sagen, ist es höchste Zeit, dass Länder von Deutschland bis Großbri­tannien die zutiefst illibe­ralen Gesetze abschaffen, die sie in den letzten Jahrzehnten – meist unbeachtet von Öffent­lichkeit und Presse – einge­führt haben. Um den grund­le­genden Werten der Demokratien, die heute unter Bedrohung stehen, gerecht zu werden, muss der Kontinent die Richtung wechseln – und die echte Meinungs­freiheit wiederherstellen.

Der Text erschien im April zunächst auf der Webseite des Autors.

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